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"Wir hatten noch nie so wenig Kinder, aber auch noch nie so viele arme Kinder"

Der Deutsche Kinderschutzbund hat erneut Kritik am Kinderzuschlag geübt. Er habe sich in der bisherigen Form nicht bewährt, sagte der Präsident der Organisation, Heinz Hilgers. Selbst wenn man das Kindergeld hinzurechne, reiche die Summe von etwa 300 Euro im Monat nicht aus. Der Kinderschutzbund werde deshalb am Montag ein Modell zur verbesserten Bekämpfung der Kinderarmut vorstellen. Hilgers wies darauf hin, dass es gegenwärtig so wenig Kinder wie noch nie gebe bei einem gleichzeitigen Höchststand an Kinderarmut.

Moderation: Friedbert Meurer |
    Friedbert Meurer: Auf eine Maßnahme möchten wir noch näher eingehen, nämlich die Bundesregierung will den Kinderzuschlag ausweiten. Davon sollen dann eine halbe Million Kinder profitieren. Dieser Kinderzuschlag wird bezahlt, wenn das Gehalt der Eltern nicht ausreicht, das Existenzminimum ihrer Kinder zu decken. Am Telefon begrüße ich in Hannover den Präsidenten des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers. Guten Tag, Herr Hilgers.

    Heinz Hilgers: Ja, guten Tag.

    Meurer: Diesen Kinderzuschlag gibt es schon seit zwei, drei Jahren, seit 2005 genauer gesagt. Wie sehr hat er sich Ihrer Meinung nach bewährt?

    Hilgers: Er hat sich bisher nicht bewährt in der Form, in der er jetzt gestartet war. Es sind nur etwas über 100.000 Kinder, die zurzeit den Kinderzuschlag erhalten. Gemessen an dem Anspruch, dass man verhindern will, dass Familien, Eltern, die arbeiten gehen, nur wegen der Zahl ihrer Kinder in Armut geraten, hat er sich nicht bewährt. Denn Sie müssen bedenken, es gibt 2,6 Millionen Kinder, die auf Sozialhilfeniveau leben.

    Meurer: Wieso waren das bisher so wenige, nur über 100.000 oder 120.000 etwa?

    Hilgers: Wegen der Einkommensgrenzen, die gewählt worden sind, wegen der geringen Höhe des Kinderzuschlages und weil er befristet gewährt wird.

    Meurer: Wie sehr würden Sie es begrüßen, wenn diese Zahl auf ungefähr eine halbe Million Kinder ausgeweitet wird? Diese Zahl schwebt ja der Bundesfamilienministerin vor.

    Hilgers: Das wäre ein guter Schritt. Das würde auch in etwa die Zahl abdecken zurzeit von Familien, wo die Eltern arbeiten gehen, einer oder beide Eltern arbeiten gehen, die aber trotzdem Arbeitslosengeld II brauchen, weil sie mit dem Einkommen, das sie erzielen können, ihre Familie nicht ernähren können.

    Meurer: Wenn man das jetzt mal genau vorrechnet, das Kindergeld liegt bei 154 Euro, 140 Euro Kinderzuschlag, über den Daumen gepeilt sind das ungefähr 300 Euro im Monat. Reicht das, um die Kosten für ein Kind abzudecken?

    Hilgers: Nein, ich werde am Montag - ich bin da noch dabei, das genau durchzurechnen, es ist ja im Moment auch noch schwer, an die Unterlagen zu kommen - ein Konzept vorlegen, in dem ich exakt neue Beträge fordern werde.

    Meurer: Aber die Zahl können Sie jetzt noch nicht sagen?

    Hilgers: Kann ich noch nicht sagen, wir rechnen noch.

    Meurer: Ist es eigentlich wirklich Sache des Staates, dafür zu sorgen, dass das Existenzminimum der Kinder gedeckt wird, oder müssten die Löhne einfach zum Beispiel per Mindestlohn hoch genug sein, dass jemand, der Kinder hat, auch seine Kinder versorgen kann?

    Hilgers: Das wird nicht gehen, ökonomisch nicht. Was ja in der Debatte ist, ist ein Ecklohn von 7,50, damit kommt man auf 1.300 Euro brutto als Vollzeit arbeitender Mensch. Abzüglich der Sozialabgaben - Steuern werden ja nicht gezahlt bei so einem niedrigen Einkommen - sind das dann 950 Euro netto. Damit kann ein Lediger seine Familie ernähren, ganz knapp noch ein Lediger mit einem Kind, aber eine Alleinerziehende mit vier Kindern kann damit ihre Familie nicht ernähren. Da sind die Regelsätze, die notwendig sind nach Hartz IV, deutlich höher. Das heißt, sie bekäme ergänzende Leistungen aus dem Arbeitslosengeld II.

    Meurer: Wenn aber das Gehalt etwas höher wäre, würde doch der Staat nicht so viel Geld aufwenden müssen?

    Hilgers: Ja, aber bei 7,50 Euro, die müsste ja 20 Euro bekommen. Also man kann viel diskutieren. Ich finde auch einen Mindestlohn von 7,50 Euro gut. Aber 20 Euro Mindestlohn ist natürlich für einen Gebäudereinigungsbetrieb oder für ein Friseurgeschäft oder für eine Gaststätte nicht zu zahlen.

    Meurer: Wie gravierend hat sich das Problem der Kinderarmut in Deutschland entwickelt, Herr Hilgers?

    Hilgers: Kinder, die auf Sozialhilfeniveau leben, sind jetzt 2,6 Millionen. Das waren 2003 noch 1,1 Millionen. Die Zahlen sind explodiert. Wir haben jetzt den Höchststand an Kinderarmut, seitdem das gezählt wird, bei gleichzeitig niedrigster Zahl an Kindern. Wir hatten noch nie so wenig Kinder, aber auch noch nie so viele arme Kinder. Und das bei der Hochkonjunktur.

    Meurer: Wie kommt das?

    Hilgers: Weil nicht gehandelt wird von der Politik. Sehen Sie, die Sache mit dem Kinderzuschlag hat die Große Koalition schon längst versprochen. Das steht im Koalitionsvertrag auf Seite 118, "mit Wirkung für das Jahr 2006 wollen wir den Kinderzuschlag zu einem wirksamen Instrument zur Bekämpfung der Kinderarmut entwickeln". Jetzt ist schon Ende 2007. Ich habe große Zweifel, dass es denen gelingen wird, das zum 01.01.2008 in Kraft zu setzen.

    Meurer: Nun sagt die Bundesregierung, wir machen ja auch noch andere Dinge als den Kinderzuschlag, wir wollen investieren bei der Bildung, in Kindertagesstätten. Ist es eigentlich der richtige Weg, Herr Hilgers, den Eltern mehr Geld zu geben, wäre es der bessere Weg, zum Beispiel kostenlose Kita-Plätze zur Verfügung zu stellen?

    Hilgers: Es ist beides notwendig. Es ist notwendig, dass wir Kindertagesstättenplätze zur Verfügung stellen, die kostenlos sind, und bei Menschen unter einem bestimmten Einkommen sollten dort auch Kinder ein kostenloses Mittagessen erhalten. Es ist darüber hinaus aber auch notwendig, unsere Sozialgesetze so zu gestalten, dass es sich lohnt zu arbeiten. Wenn jemand, der vier Kinder hat, nicht für 7,50 Euro Stundenlohn arbeiten geht, weil er genauso viel Geld bekäme, wenn er nicht arbeitet, über Arbeitslosengeld II, dann ist das System nicht richtig organisiert. Sehen Sie, ich finde das schon wichtig neben der Erziehung und Bildung in Kindertagesstätten und Schulen, dass die Kinder auch erleben, dass ihre Eltern morgens aufstehen und arbeiten. Das ist ja ein ganz konkretes tägliches Erlebnis zu Hause und hat eine Vorbildfunktion.

    Meurer: Da haben ja die Lehrer der berühmten Rütli-Schule in Berlin festgestellt in ihrem Brief, die Eltern stehen eben nicht auf. Die Kinder sind die Einzigen, die morgens aufstehen und alleine zur Schule gehen. Werden die Eltern aufstehen, wenn die 140 Euro mehr im Monat bekommen?

    Hilgers: Nein, die 140 Euro sind da auch nicht das richtige System. Ich werde am Montag ein System vorstellen, in dem ich deutlich mache, dass es möglich ist, mit einem Kinderzuschlag, verbunden mit einem Mindestlohn, letztlich dazu zu kommen, dass es sich lohnt zu arbeiten.

    Meurer: Eine Art Gutscheinmodell schwebt Ihnen nicht vor, wie es ja jetzt bei der Diskussion über das Betreuungsgeld, das Eltern gezahlt werden soll, die ihre Kinder zu Hause betreuen, im Gespräch ist?

    Hilgers: Nein, mir schwebt aber vor, dass wir bei Hartz IV die einmaligen Beihilfen für Kinderbekleidung und für Schulebedarf wieder einführen. Da müssen wir sicherstellen, dass die Leistungen, die der Staat für Kinder gewährt, auch bei den Kindern ankommt. Und zweitens war die Pauschalierung im Regelsatz war auch sehr respektlos gegenüber Kindern. Da ist man nämlich davon ausgegangen, dass Kinder höchstens 60 Prozent des Bedarfes an Bekleidung und Schuhen und Schreibwaren usw. haben wie ein Erwachsener. Das ist völliger Unsinn, weil Kinder wachsen. Also ich kann mit einem Winteranorak auch mal drei, vier Jahre gehen, oder fünf. Ein Kind braucht jedes Jahr einen neuen Winteranorak, weil das ist in dem Jahr aus dem anderen rausgewachsen. Und das braucht auch vielleicht zwei-, dreimal im Jahr neue Schuhe, weil die Füße gewachsen sind. Und es braucht im Übrigen auch mehr Schreibbedarf, es muss ja in die Schule gehen. Und letztlich unterm Strich ist es auch so, dass selbst der Regelsatz mit 60 Prozent von dem eines Erwachsenen nicht in Ordnung ist. Also wer selber Kinder hat, der weiß, wenn die so 10, 11, 12, 13 Jahre alt sind, dann fressen die einem die Haare vom Kopf.

    Meurer: Das ist alles richtig, trotzdem ...

    Hilgers: Und trotzdem werden die Kinder nur mit 60 Prozent eines Erwachsenen angesetzt.

    Meurer: Wären Gutscheine trotzdem besser, weil dann sichergestellt ist, das Geld wird in den richtigen Zweck investiert?

    Hilgers: Ja, die Gutscheine macht man dann, wenn im Einzelfall bei der einmaligen Beihilfe man feststellt, dass Eltern die Schuhe nicht gekauft haben. Dann macht man beim nächsten Mal Gutscheine. Aber man darf jetzt nicht alle Eltern unter einen Generalverdacht stellen. Ganz viele arme Eltern kümmern sich liebevoll um ihre Kinder und sparen sich das Letzte vom Mund ab, damit es ihren Kindern mal besser geht. Und diese Eltern haben meine volle Bewunderung.