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'Wir müssen den Bedürfnissen nach Sicherheit verantwortlich nachkommen - totalen Schutz gibt es nicht, es sei denn um den Preis der Freiheit'

Remme: Eine Woche ist seit den Anschlägen in New York und Washington vergangen, eine Woche, in der die Fernsehbilder, die Schlagzeilen, die Aufmacher nur einem Thema gewidmet wa-ren. Zahllose Interviews wurden geführt über eine angeblich neue Qualität des Terrorismus und über angeblich gänzlich neue Herausforderungen an die internationale und die nationale Politik. Weltweit wird nach den Tätern gesucht. Als Voraussetzung für einen Vergeltungsschlag der USA oder gar der NATO werden Beweise benötigt, Beweise, die es noch nicht gibt. Unter den Opfern vom vergangenen Dienstag sind vermutlich etwa 100 Deutsche. Das wurde ges-tern mitgeteilt. Das Kabinett in Berlin will heute gleich mehrere Maßnahmen in einer Art Antiter-rorpaket beschließen. Doch es werden auch Stimmen laut, die zur Vorsicht mahnen vor übereilten Reaktionen angesichts einer noch immer von den grausamen Bildern bestimmten Stimmung. Der Bundestag wird sich heu-te in einer Sondersitzung mit dem Thema Terror beschäftigen. - Am Telefon ist Bundestagspräsi-dent Wolfgang Thierse von der SPD. Guten Morgen Herr Thierse!

    Thierse: Guten Morgen Herr Remme.

    Remme: Herr Thierse, viele Menschen auch hier in Deutschland haben die Bilder vom ver-gangenen Dienstag noch im Kopf. Sie warten auf die Antwort der Vereinigten Staaten und haben Angst vor einem Krieg. Können Sie diese Ängste nachvollziehen?

    Thierse: Die Ängste sind schon verständlich, denn in den Herzen und Köpfen der Deutschen, der Europäer ist ja die kollektive Erinnerung an die Furchtbarkeit von Kriegen, weil viele der jetzt noch lebenden, aber auch der nach ihnen folgenden Generation wissen, was ein Krieg bedeutet. Al-so insofern ist das verständlich und nicht unsympathisch, dass es Besorgnis und dass es Ängste gibt. Ich meine aber, dass die Angst vor einem Krieg, vor einer möglichen Katastrophe nicht die Betrof-fenheit verdrängen sollte, dass die Katastrophe ja schon stattgefunden hat, die über 5000 Toten, und dass in bestimmter Weise eine Art von Krieg schon begonnen hat.

    Remme: Wird sich dieser Staat, diese Gesellschaft durch den Anschlag nachhaltig verän-dern, oder sind das Reaktionen in Krisenzeiten?

    Thierse: Das kann ich nicht vorhersagen. Wir alle haben ja das beklommene Gefühl, dass seit dem vergangenen Dienstag die Welt sich wirklich verändert. Wir müssen dem Bedürfnis, dem ver-ständlichen, dem wichtigen Bedürfnis nach mehr Sicherheit, nach mehr Schutz vor solchen terroris-tischen Angriffen verantwortlich nachkommen. Das ist die Pflicht der Politiker. Dass dabei auch diskutiert wird, welche Maßnahme ist angemessen und welche nicht, das ist richtig. Man sollte wie ich finde nach einem einfachen Leitsatz verfahren. Wir dürfen die Freiheit nicht so verteidigen, dass sie auf der Strecke bleibt, aber schränkt etwa die Einführung eines bewaffneten Flugbegleiters unsere Freiheit ein. Die starke Kontrolle gerade auch ausländischer oder von Auslän-dern bestimmten Religionsgemeinschaften, ist das ein Anschlag auf die Freiheit und so weiter. - Ich glaube das alles nicht. Das sind vernünftige Maßnahmen, die für mehr Sicherheit sorgen sollen. In dieser ganz nüchternen Weise sollte man auch debattieren und die Entscheidungen treffen.

    Remme: Nehmen wir eine Maßnahme mal heraus. Wie sinnvoll ist zum Beispiel die Regelanfrage für Visa-Anträge aus bestimmten Ländern? Besteht da nicht wieder die Gefahr, dass Leute eben wenn es eine Gruppe ist, auf ein bestimmtes Land hinaus ausgebreitet, unter General-verdacht gerät?

    Thierse: Das ist sicher eine problematische Frage. Man muss wissen: anlassbezogen, ver-dachtsbezogen sind solche Nachfragen auch sinnvoll. Dort sollte man mehr als bisher vorhandene Informationen auch nutzen. Es hat doch etwas, wenn ich das so sagen darf, in bestimmter Weise Schizophrenes, wenn auf der einen Seite Informationen gesammelt werden, sie aber auf der anderen Seite nicht verwendet werden dürfen.

    Remme: Aber verdachtsbezogen ist doch gerade das Gegenteil einer Regelanfrage?

    Thierse: Ja, und deswegen habe ich mich auch in dieser Hinsicht geäußert. Ich finde wir sind jetzt in einer Situation eines verstärkten Verdachts, dass islamistische, ich sage ausdrücklich isla-mistische, nicht islamische Kräfte hinter diesem terroristischen Anschlag stehen, dass sie ein beson-deres Gefährdungspotenzial darstellen, dass man also verstärkt Informationen, die gesammelt wor-den sind, auch nutzt. Das halte ich für angemessen. Wir sollten diese Maßnahme aber durchaus be-grenzen.

    Remme: Der Datenschutz soll gelockert werden. Haben wir es auf diesem Gebiet in den vergangenen Jahren denn wirklich übertrieben?

    Thierse: Das kann ich so allgemein nicht beantworten. Das ist eine zu allgemeine Frage. Ich sage noch einmal: Wenn auf der einen Seite Informationen vorhanden sind und sie auf der anderen Seite nicht genutzt werden können, dann halte ich das für eine problematische Situation.

    Remme: Ich sage "wirklich übertrieben" insofern, wenn das nicht so wäre, wir hier ja tat-sächlich etwas preisgeben, das es wert wäre zu behalten?

    Thierse: Ja, aber andererseits muss man doch sehen, dass das Bedrohungspotenzial, die An-zahl islamistischer fundamentalistischer, möglicherweise terroristischer Kräfte zugenommen hat. Jedenfalls sind wir uns deutlicher der Gefahr bewusst geworden. Sollten wir dann sagen, dagegen wehren wir uns nicht konsequent mit den Möglichkeiten, die wir tatsächlich haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Mehrheit der Deutschen sagt, das sollten wir nicht tun, spätestens dann, wenn auch im eigenen Lande ein solcher Anschlag stattgefunden hat. Im übrigen will ich ja darauf hinweisen. Sie haben es vorhin gesagt. Bei dem Anschlag in New York sind wahrscheinlich über 100 Deutsche betroffene Opfer, Tote.

    Remme: Herr Thierse, Sie haben eingangs gesagt, wir müssen als Verantwortliche dem Be-dürfnis nach einer stärkeren inneren Sicherheit Rechnung tragen. Welche der Maßnahmen, die heute im Kabinett beschlossen werden sollen, die im Gespräch sind, hätten geholfen, den Anschlag zu verhindern?

    Thierse: Das ist schwer zu sagen. Wir wissen ja nicht genau, wie er vorbereitet worden ist. Wir haben nur die starke Vermutung, dass das nicht Einzeltäter sind, dass das keine spontane Akti-on ist, sondern dass das langfristig vorbereitet ist, dass dahinter eine Organisation stecken muss, dass dahinter eine menschenverachtende, menschenfeindliche Ideologie stecken muss, die auch in die Köpfe von Menschen gebracht werden muss, die verbreitet werden muss. Wenn man dies alles sieht und wenn wir das genauer wissen, dann wird man auch sagen können, was hätte geholfen, was hätte nicht geholfen. Natürlich bleibt ein Rest. Man kann sich nicht total schützen. Die moderne Zivilisation ist empfind-licher für solche Schläge als zurückgebliebene Zivilisationen. Das muss man wissen. Totalen Schutz gibt es nicht, es sei denn um den Preis der Freiheit.

    Remme: Die Ermittlungen laufen ja noch auf Hochtouren. Beweise für die Verantwortlichen wurden noch nicht veröffentlicht. Es scheint sie auch noch nicht zu geben. Die Art und Weise des Gegenschlags ist ja noch völlig unbekannt, und doch diskutieren wir über eine Beteiligung der Bun-deswehr. Kommt das nicht viel zu früh, Herr Thierse?

    Thierse: Wissen Sie, wann soll denn die Solidarität und die Bündnisbereitschaft erklärt wer-den? In ein paar Monaten? - Jetzt ist der Anlass da. Im übrigen will ich darauf hinweisen, dass ge-gen alle skeptischen und finsteren Erwartungen die US-amerikanische Regierung doch vernünftig und mit Vorsicht agiert. Es hat noch kein blinder Schlag stattgefunden. Es finden vielfältige diplo-matische Aktivitäten, politische Anstrengungen statt. Das ist doch alles sehr vernünftig. Es geht, wenn ich das so sagen darf, um eine Art Polizeiaktion, nicht um Vergeltung, sondern die Täter zu fassen, ihre Hintermänner zu erreichen und ihnen nicht den Triumpf zu gönnen, dass sie folgenlos Mord über New York und über Washington gebracht haben, denn wenn man ihnen diesen Triumpf lässt, dann ist das die Einladung zu hemmungsloser Fortsetzung ihres Tuns.

    Remme: Herr Thierse, der kollektive Verteidigungsfall der NATO ist erklärt worden. Wird es Entscheidungen über militärische Hilfe aus Deutschland auch ohne vorherige Zustimmung des Bundestages geben können?

    Thierse: Es ist der Bündnisfall erklärt worden und das heißt ja, dass in eigener Verantwor-tung die Nationen, die nationalen Regierungen die Entscheidung zu treffen haben, wie sie den USA beistehen. Nach unserem Grundgesetz und dem entsprechenden Karlsruher Urteil ist im Falle vom Einsatz bewaffneter Streitkräfte der Bundestag zu befassen, es sei denn Gefahr ist im Verzuge. Dann hat die Exekutive Vorrang. Aber auf kürzest möglichem Wege ist dann der Bundestag einzu-schalten und um seine Entscheidung zu bitten. Die parlamentarische Begleitung und Kontrolle sol-cher Entscheidungen ist gewährleistet.

    Remme: Heißt das eigentlich für jegliche Bereitstellung militärischer Mittel, oder gibt es dort eine Linie, die gezogen werden muss?

    Thierse: Nein. Nach dem Urteil von Karlsruhe geht es um den Einsatz bewaffneter Streitkräf-te, also Flugplätze zur Verfügung zu stellen, logistische Unterstützung, unbewaffnete Kräfte zur Hilfe einzustellen. Das unterliegt eben genau nicht diesem Parlamentsvorbehalt, sondern der Einsatz bewaffneter Streitkräfte in einem bewaffneten Konflikt. Darum geht es.

    Remme: Und hätten Sie jetzt als SPD-Politiker gefragt etwas dagegen, wenn eben diese Maßnahmen unterhalb dieser Linie zur Verfügung gestellt werden?

    Thierse: Darüber ist schwer zu spekulieren. Wir wissen ja nicht, was passieren wird, welches die Aufforderung der USA sind, was wir zu ihrer Unterstützung tun sollen. Erst dann kann man an-gemessen reagieren und dann muss man schnell reagieren. Jetzt darüber Spekulationen anzustellen ist entweder der Versuch, Aufregung zu erzeugen, oder auf eine falsche Weise Beruhigung. Beides ist unangemessen, sondern wir sollten uns an dieser Stelle auch ganz nüchtern verhalten. Erst wenn die USA ihren Verbündeten mitteilen, das und das tun wir, wir bitten in dieser und jener Hinsicht um die Unterstützung, dann muss schnell entschieden werden. Ich glaube im übrigen nicht, so wie der Gang der Dinge bisher ist, dass es eine wilde militärische Aktion wird, sondern sie muss ja schon aus nüchternen rationalen Überlegungen so präzise sein, dass sie auch erfolgreich sein kann.

    Remme: Sie haben eben als ausgesprochen wichtig die Solidarität mit den Amerikanern betont. Der Bundestag wird heute eine Erklärung verabschieden, in der diese Solidarität noch ein-mal bekundet wird. Für wie groß halten Sie das Manko, wenn es in der SPD-Fraktion zu Gegen-stimmen kommt?

    Thierse: Dass niemand eine blinde Geschlossenheit verlangen kann, ist doch selbstverständ-lich. Die Abgeordneten sind frei und haben das Recht - das ist sogar grundgesetzlich verankert -, ihrem Gewissen zu folgen. Aber es ist trotzdem eine politische Entscheidung, eine sehr grundlegen-de politische Entscheidung. Da ist wichtig, dass es eine ganz große Mehrheit im Bundestag gibt. Ich bin auch überzeugt, dass die Koalition eine eigene Mehrheit haben wird.

    Remme: Vielen Dank! - Wolfgang Thierse war das, Bundestagspräsident von der SPD.

    Link: Terroranschlag in den USA

    Link: Interview als RealAudio