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"Wir müssen die gesamte Hartz-Geschichte auf den Prüfstand stellen"

Bei der Unterstützung von Arbeitslosen liegt Deutschland europaweit im Mittelfeld, analysiert die OECD. Soll also das Arbeitslosengeld II erhöht werden? Das gesamte Lohnsystem sei in einer Schieflage, sagt Thorsten Schulten - und verweist auf eine nicht ganz neue Lösung.

    Friedbert Meurer: Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat gestern eine Vergleichsstudie veröffentlicht und danach liegt Deutschland bei der Unterstützung von Arbeitslosen europaweit bestenfalls im Mittelfeld, und das, obwohl der Staat hier bei uns jährlich 50 Milliarden Euro allein für Hartz IV aufwendet, und da kommen ja noch hinzu alle Leistungen der Versicherung für das Arbeitslosengeld I. Eines attestiert die OECD-Studie auch: In Deutschland sei der Anreiz für Langzeitarbeitslose gering, wieder einen Job anzunehmen, und dieser Punkt führt dazu, dass einige Kritiker sich bestätigt fühlen, die sagen, die Hartz-IV-Regelsätze sollen eher gekürzt als angehoben werden. – Gerd Breker fragte gestern Abend Thorsten Schulten, Tarifexperte der DGB-nahen Hans-Böckler-Stiftung, ob es dann nicht besser sei, doch lieber alles beim alten zu belassen?

    Thorsten Schulten: Na ja, erst mal lese ich die Ergebnisse schon ein bisschen anders. Wenn man sich anschaut, gerade für Geringverdienende stellt ja die Studie der OECD fest, dass deren Leistungen, wenn sie arbeitslos geworden sind, sich am unteren Rand befinden. Das heißt, die ganze Debatte, die wir aktuell darüber haben, über die angeblich so hohen Hartz-IV-Sätze, wird durch diese Studie ganz klar widerlegt. Wir haben nicht so hohe Leistungen, sondern bewegen uns, wie Sie sagen, wenn überhaupt, im unteren Mittelfeld der vergleichbaren OECD-Staaten.

    Gerd Breker: Wenn allerdings, Herr Schulten, ein alleinerziehender Langzeitarbeitsloser mit zwei Kindern 2140 Euro Brutto verdienen müsste, damit es sich für ihn lohnt, eine Arbeit anzunehmen – das ist ja immerhin zwei Drittel des Durchschnittslohns -, dann ist doch irgendwas verkehrt?

    Schulten: Na ja, wenn Sie sich angucken, was die gängige Definition von Niedriglohn ist, dann ist das genau diese Schwelle, zwei Drittel des Durchschnittslohns. Ich meine, es wäre doch auch einer erwerbstätigen Familie nicht geholfen, wenn die nicht Erwerbstätigen auf einmal weniger Geld verdienen würden. Ich glaube, generell ist das Problem doch nicht das, dass die Leistungen dieser Hartz-IV-Empfänger zu hoch geschraubt sind, sondern das Problem ist in der Tat, dass die Löhne, die Jobs, die sie in der Regel finden, so schlecht bezahlt werden, dass der Unterschied zwischen Erwerbsarbeit und Nichterwerbsarbeit oft nicht mehr gegeben ist.

    Breker: Sind es nur die Jobs, oder ist es mehr? Ist es vielleicht auch ein Systemfehler, weil Steuern und Abgaben so hoch sind?

    Schulten: Steuern und Abgaben ist sicherlich auch ein Teil der Geschichte. Wenn man sich die Steuerpolitik der letzten zehn Jahre anschaut, dann war es eben eine, die insbesondere gut verdienende Einkommen entlastet hat, während die Entlastung bei den Geringverdienern eher gering war. Das heißt, hier wäre sicherlich einiges zu machen. Nur glaube ich wäre eine Fokussierung auf diese Abgabenfrage falsch, weil wir müssen auch aufpassen, nicht in eine Richtung zu laufen, wo wir den Niedriglohnsektor noch weiter dadurch subventionieren, dass wir die Steuern und Abgaben für schlecht bezahlte Jobs nach unten schrauben.

    Breker: Was würden an dem Ganzen dort Mindestlöhne ändern, Herr Schulten?

    Schulten: Ein Mindestlohn würde erst einmal dafür sorgen, dass in der Tat Jobs entstehen, die einen deutlichen Abstand dann auch zu den Hartz-IV-Leistungen herstellen. Das heißt, das sogenannte Lohnabstandsgebot, was ja jetzt so breit diskutiert wird, lässt sich eigentlich nur dadurch herstellen, dass man endlich wieder ein vernünftiges Lohnniveau herstellt. Man muss ja auch sehen: Deutschland ist das Land in Europa, was den stärksten Anstieg des Niedriglohnsektors in den letzten zehn Jahren zu verzeichnen hat, und das hängt eben damit zusammen, dass wir eines der wenigen Länder in Europa sind, die keinen gesetzlichen Mindestlohn haben.

    Breker: Diese OECD-Studie, von der wir reden, kritisiert die nicht zielgerichteten Instrumente des deutschen Sozialsystems. Was lernen wir daraus? Gehört die gesamte Hartz-Gesetzgebung auf den Prüfstand?

    Schulten: Meines Erachtens auf jeden Fall ja. Wir müssen die gesamte Hartz-Geschichte auf den Prüfstand stellen. Wir müssen die Diskussion darüber führen, was ist ein angemessenes Existenzminimum, sind die 359 Euro Regelsatz, die ein Alleinstehender bekommt, wirklich angemessen? Da sind wir ja, wie die Studie zeigt, deutlich unterhalb des Durchschnitts der meisten westeuropäischen Länder. Und wir müssen auch sehen, dass das ganze System der Regulierung von Arbeit in eine Schieflage gehen wird. Das System, wie Löhne bei uns definiert werden, ist in eine Schieflage gekommen. Wir brauchen hier wieder eine stärkere Regelung, und da ist, glaube ich, der gesetzliche Mindestlohn ein ganz zentrales Instrument.

    Meurer: Gerd Breker sprach mit Thorsten Schulten von der Hans-Böckler-Stiftung.