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"Wir müssen wieder Verantwortung füreinander übernehmen"

Eine ärztliche Pflichtuntersuchung zum Schuleintritt ist nach Meinung des Hamburger Pastors Thies Hagge ein guter Vorschlag. Dadurch könnten 90 Prozent der gefährdeten Kinder vor einem schlimmen Schicksal gerettet werden, sagte Hagge, der in Hamburg-Jenfeld ein Kinderhaus ins Leben gerufen hat. Zugleich sagte der Geistliche, anstelle des "unglaublichen Individualisierungs- und Zerteilungstrends" unserer Gesellschaft müsse wieder mehr Verantwortung füreinander treten.

Moderation: Klaus Remme |
    Klaus Remme: Dennis, Michelle, Jessica, Benjamin, Kevin. Dies sind einige Namen von Kindern, die in den letzten Jahren Schlagzeilen gemacht haben. Die genannten leben nicht mehr und ihr kurzes Leben war eine Qual. Die Eltern haben versagt, ein Netzwerk im näheren Umfeld gab es nicht und die Behörden waren unwissend oder in einigen Fällen - schlimmer noch - unfähig. So wie jetzt nach dem Fund des toten Kevin in einem Kühlschrank in Bremen schlägt die Erregung Wellen, oft nur für kurze Zeit. Der Bielefelder Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann geht von rund 80.000 Kindern im Alter bis zu zehn Jahren aus, die in Deutschland von Verwahrlosung und extremer Vernachlässigung bedroht sind.

    Im März des vergangenen Jahres sorgte der Tot von Jessica in Hamburg-Jenfeld für stummes Entsetzen. Ihre Eltern hatten sie jahrelang eingesperrt. Sie starb an Unterernährung. Thies Hagge ist seit Jahren Pastor in der Friedenskirche in Hamburg-Jenfeld. Er ist jetzt am Telefon. Guten Morgen Herr Hagge!

    Thies Hagge: Guten Morgen!

    Remme: Herr Hagge, was haben Sie als Seelsorger im vergangenen Jahr empfunden, als Sie von dem Tod des Mädchens in unmittelbarer Nachbarschaft erfuhren?

    Hagge: Das war für mich sehr beklemmend, das so mitzubekommen. Ich wohne nur 200 Meter entfernt und die Vorstellung, dass gleichzeitig ich mit meinen beiden Kindern fröhlich Weihnachten feiere und solche Sachen tue und dort ein Kind wirklich verreckt - man kann es kaum anders sagen -, ohne jede Liebe und Zuwendung ist, das hat mich sehr bedrückt.

    Remme: Haben Sie persönliche Schuld empfunden?

    Hagge: Ich denke realistisch gesehen hätte ich nichts machen können, aber dieses Gefühl, dort so nah zu sein, das ist schon ein Gefühl wie Schuld.

    Remme: Es war aber dennoch Ausgangspunkt einer Aktion. Sie haben ein Hilfsprojekt ins Leben gerufen. Als Vorbild diente das Projekt Arche in Berlin. Was machen Sie?

    Hagge: Wir haben jetzt ein Kinderhaus, das jeden Tag von 13 bis 18 Uhr geöffnet ist, fünf Tage die Woche. Die Kinder bekommen dort kostenloses Mittagessen, Hausaufgaben, besondere Highlights, die Kindern Spaß machen. Viel wichtiger ist aber, dass dort Leute sind, die ein offenes Ohr für diese Kinder haben, die pädagogisch mit ihnen arbeiten, die sich Zeit für sie nehmen und so eine Art Familienergänzung bilden. Dort wo Defizite in den Familien sind versuchen wir, das auszugleichen und Kindern Zuwendung zu geben, aber auch für Kinder da zu sein. Wenn wir merken die sind in Notlagen, da kommen sie alleine nicht heraus, dann gehen wir schon manchmal mit zu den Eltern und reden mit denen und manchmal schalten wir auch das Jugendamt ein.

    Remme: Wie viele Kinder kommen?

    Hagge: Es sind im Moment pro Tag zwischen 100 an normalen Tagen und 200 an besonderen Tagen.

    Remme: 100 bis 200 Kinder aus Ihrem Stadtteil?

    Hagge: Richtig. Es ist natürlich an den Grenzen und wenn die Kinder an dieselben Schulen gehen, manchmal gibt es dann Überschneidungen. Eigentlich sind sie aber aus unserem Stadtteil. Es ist ja so, dass wir gerade vorgestern den ersten Spatenstich gemacht haben für einen Neubau auf unserem Kirchengelände, weil unser Gemeindehaus, das wir bisher benutzt haben, nicht mehr ausreicht. Wir werden jetzt im nächsten Jahr einen Bau haben mit 600 Quadratmetern Nutzfläche, der uns glücklicherweise von Unilever gesponsert worden ist, aber das brauchen wir dann auch.

    Remme: Herr Hagge, diese Zahl klingt ja für einen Stadtteil unheimlich groß. Sind das Kinder, die auch kommen, weil Sie ein Freizeitangebot anbieten, oder sind das in der Tat bedürftige Kinder?

    Hagge: Nach meiner Einschätzung sind das zum größeren Teil bedürftige Kinder. Wenn Sie sehen, dass von diesen 100 Kindern ungefähr 60 das kostenlose Mittagessen annehmen, dann vermute ich zumindest bei denen, dass da das Elternhaus nicht ganz komplett ist. So sage ich das mal. Es sind aber durchaus auch Kinder da, die einen ganz gesunden Hintergrund haben. Das ist auch gewollt so von uns, weil sich das dadurch durchmischt. Für diese Kinder ist es gut, auch mit problematischen Kindern zusammen zu sein, und für die problematischen Kinder oder Kinder mit problematischem Hintergrund ist es gut, mit ganz normalen Kindern zu tun zu haben. Kinder, die in die Arche kommen, sind nicht stigmatisiert, sondern die Arche ist zugleich auch ein angesagter Jugendclub und das ist gut so.

    Remme: Im Rückblick auf den Fall Jessica muss man aber sagen, Jessica hatte keine Chance, in die Arche zu kommen, hätte es sie damals schon gegeben.

    Hagge: Das ist wirklich so. Hier haben ja die Eltern mit krimineller Energie alles getan, damit dieses Kind keine Beziehungen zu anderen Menschen als zu ihnen hatte. Sie war den beiden völlig ausgeliefert. Ich habe mich aber in langen Gesprächen auch mit der Mutter unterhalten und festgestellt, dass die ihre eigene Kindheit kaum überlebt hat. Sie ist massiver Gewalt von ihrer Mutter und von deren Lovern ausgesetzt gewesen, stark traumatisiert und ich glaube wenn diese Mutter so eine Anlaufstelle gehabt hätte und dort auch hingegangen wäre, dann hätte sich die Tragödie ganz anders entwickelt.

    Remme: Herr Hagge, der Fall in Bremen hat das Versagen der Behörden offenbar werden lassen. Was muss sich ändern in der staatlichen Fürsorge für diese Kinder?

    Hagge: Ich sage mal so: Ein entscheidender Punkt ist auch, dass Menschen wieder Verantwortung für andere Menschen übernehmen. Ich will nicht von sozialer Kontrolle reden, aber davon, dass wir darauf achten, wie geht es eigentlich unseren Nachbarn, vor allem wenn die Kinder haben, wie ist das mit Verwandten, auch mit entfernteren Verwandten, da einfach hinzugucken und nicht zu früh zu sagen du bist nicht mehr mein Bruder, ich bin nicht mehr deine Tochter, wie das heute oft gemacht wird und wo Beziehungen gekappt werden, sondern mitzuschauen in unserem sozialen Netzwerk, so wie Sie es vorhin auch gesagt haben, wo ist Not am Mann, wo kann ich helfen. Das ist das eine und ich glaube da müssen wir als Gesellschaft an einen Punkt kommen, wo wir sagen, da müssen wir weg von diesem unglaublichen Individualisierungs- und Zerteilungstrend und dahin, wieder Verantwortung füreinander zu übernehmen. Gesellschaftlich glaube ich wäre dieser Vorschlag, der jetzt auch wieder diskutiert wird, die Untersuchungen für Kinder, bevor sie in die Schule kommen, verpflichtend zu machen, ein simpler, ganz praktischer Vorschlag, der viele Kinder, ich glaube 90 Prozent, die in diesen bedrängten Situationen sind, bewahren würde vor einem schlimmen Schicksal.

    Remme: Und dieser Kontakt unter Nachbarn, hat sich der in Hamburg-Jenfeld durch den Fall Jessica dauerhaft verbessert?

    Hagge: Ich merke so einen Trend. Ich merke einen Trend zumindest in meinem Stadtteil, dass man mehr aufeinander achtet. Ich habe es manchmal, dass Leute zu mir kommen und sagen, können sie da mal nachgucken, was da los ist, oder dass man sich an das Jugendamt wendet oder auch einfach selber nachsieht. Ich glaube dieser Trend ist da. Das ist jetzt nicht unbegründeter Optimismus, sondern die Leute, die damals unter diesem fürchterlichen Schock gestanden haben - unser ganzer Stadtteil hatte zuweilen kollektive Depressionen, kann man sagen -, die haben da schon einen Gesinnungswandel vollzogen. Auch auf den Ämtern ist es so, dass man viel schneller reagiert, dass solche Dinge nicht einfach liegen bleiben oder man sie ignoriert, sondern dass man früher guckt. Es werden natürlich immer noch Fehler gemacht, aber ich sehe schon eine gewisse Veränderung.

    Remme: Herr Hagge, die aktuelle Diskussion um Armut und eine neue Unterschicht wurde schnell in Verbindung gebracht mit diesen Fällen von Verwahrlosung. Zu Recht?

    Hagge: Ich glaube, dass schon ein Zusammenhang da ist. Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat ja gesagt, zwei Dinge sind charakteristisch: einmal die wirtschaftliche Not, aber andererseits auch die Perspektivlosigkeit. Letzteres ist sicherlich ein Punkt, da wo Eltern depressiv sind, da wo Eltern keine Perspektive mehr für ihr eigenes Leben haben und ihnen ihr Leben entgleitet, da sind es die Kinder, die das oft als erste zu erleiden haben. Wenn dann extreme Situationen auftreten, wenn wir die Spitze des Eisberges vor uns haben, dann kann es passieren, dass sich solche Tragödien abspielen.

    Remme: Sie haben von Ihrem Projekt erzählt. Oft ist es ja so, dass in der unmittelbaren Folgezeit nach einem solchen Schock Geld da ist für diese Mittel. Ist Ihr Projekt mittelfristig gesichert?

    Hagge: Es ist für die nächsten Jahre gesichert. Unser Sponsor Unilever hat uns das zugesagt. Es ist aber eben nicht nur dieser eine Sponsor, sondern es sind viele Spender, die sich hier einsetzen. Das Berliner Projekt Arche gibt es jetzt seit elf Jahren und es ist gesund und findet Unterstützer. Von daher bin ich zuversichtlich, dass das auch für die nächsten zehn Jahre gilt und dass es dann so weitergeht.

    Remme: Thies Hagge war das, Pastor im Hamburger Stadtteil Jenfeld. Herr Hagge, ich bedanke mich für das Gespräch!

    Hagge: Sehr gerne!