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"Wir sind besonders begabt für Angst und Ängste"

Der ehemalige Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde, Joachim Gauck, hat zum morgigen Tag der Deutschen Einheit vor falscher DDR-Nostalgie gewarnt. Die aktuelle Finanzkrise befördere Ängste in einem Maße, wie sie bei nüchterner Betrachtung nicht ausreichend wären, so der heutige Vorsitzende des Vereins "Gegen Vergessen - Für Demokratie".

Joachim Gauck im Gespräch mit Bettina Klein |
    Bettina Klein: Morgen schreiben wir den 3. Oktober, Tag der Deutschen Einheit im Jahre 2008. Ein Jahrestag, an dem die Kapitalismuskritik aus aktuellen Gründen verbreiteter ist denn je - und zwar keineswegs nur in linken Kreisen. Die aktuelle Finanzkrise hat Grundsatzfragen aufgeworfen, die in einer Deutlichkeit und Ausführlichkeit wie lange nicht mehr öffentlich diskutiert werden. - Im Studio im Berliner Funkhaus begrüße ich Joachim Gauck. Er war Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde in Berlin. Schönen guten Tag, Herr Gauck. Ich grüße Sie, Herr Gauck.

    Joachim Gauck: Hallo! Schönen guten Tag.

    Klein: Herr Gauck, wie beeinflusst die Situation, die wir im Augenblick haben, die Stimmung der Menschen in diesem Jahr mit Blick auf Fragen der Einheit nach Ihrem Eindruck?

    Gauck: Oh, die Stimmung wird kräftig beeinflusst, weil wir sind ein Land, in dem Stimmungen, besonders negative, immer einen großen Hallraum haben. Wir sind besonders begabt für Angst und Ängste. Ein Geschehen wie das, was wir jetzt sehen, mit krisenhaften Entwicklungen auf dem Finanzmarkt, befördert natürlich Ängste - und zwar in einem Maße, wie sie bei nüchterner Betrachtung nicht ausreichend wären. Aber wer will mit Ratio, mit Vernunft an das Gebiet der Ängste gehen? Es ist so. Dieses Land fürchtet sich mehr vor der Freiheit, als dass es die großen Chancen und Möglichkeiten sieht.

    Klein: Ängste, die wie zum Ausdruck kommen?

    Gauck: Nun einfach dadurch, dass, wie Sie es angedeutet haben, plötzlich die Frage im Raum steht: Ja, ist denn dieses System, das die Leute dann immer so manisch Kapitalismus nennen, ist denn das überhaupt zukunftsfähig, ist das überhaupt geeignet, unsere Gesellschaft zu regeln und zu ordnen? - Da muss man natürlich sagen, dass wir niemals im Bereich der Politik so etwas wie Vollkommenheit sehen werden, sondern wir werden immer nur Näherungsformen eines relativ friedlichen Miteinanders unterschiedlicher Gruppen sehen. Und da hat sich dieses System eben bewährt. Wenn der Sozialismus im Grunde als Staats- und Gesellschaftsform Unterwerfung oder Anpassung fördert, auch Angst ständig produziert, dann ist es so, dass freie und kapitalistische Gesellschaftsformen eher eine andere negative Eigenschaft mit sich führen und mit entwickeln, also neben der positiven von Autonomie des Einzelnen eben Übermut des Einzelnen. Und zu Übermut gehört Gier. So treibt nun in einer solchen Gesellschaft nicht nur das edle Streben nach Sicherheit und Wohlstand die Menschen an, sondern auch schlicht Gier.

    Wir sehen auf dem Bankensektor, wie die Gier einiger Bankmanager neue Produkte schafft, die dann Unsicherheitsfaktoren darstellen. Man muss sich das so vergleichen, wie wenn die Unterhaltungsindustrie Produkte schafft, die niemand braucht, also bestimmte Computerspiele oder Klingeltöne. Ohne die kann die Welt wunderbar leben, aber die Gier der Kleinen saugt den Herstellern das praktisch aus der Hand. Und es gibt eine Gier der Großen, mit ihrem Geld mehr machen zu wollen, und dann sind die Risiken unüberschaubar, und das sehen wir gerade. Hier muss eben der freiheitliche Staat sehen, ob er eingreifen will. Ich denke, das muss man, wenn die Gier so groß wird, dass eine Gefahr für die Allgemeinheit entsteht.

    Klein: Aber, Herr Gauck, viele denken jetzt, genau das haben wir in der DDR in der Schule gelernt, was wir jetzt erleben. Die Analysen von Karl Marx waren Pflichtprogramm.

    Gauck: Das ist ja nun wirklich Vulgär-Marxismus, und wenn wir uns einmal anschauen, wo in der Welt denn die Lehren von Karl Marx zu einem Gesamtsystem zusammengewachsen sind, das den Menschen Sicherheit bringt, das ihnen Freiheit, genug Freiheit und genug Sicherheit bringt, dann sehen wir nichts. Wir sehen, dass überall dort, wohin Menschen gehen, wo Menschen leben wollen, kapitalistische Wirtschaftsverhältnisse existieren. Die gibt es nun in unterschiedlicher Form. Es gibt sie wie in Russland und China, und es gibt sie wie in Deutschland, Österreich und in Skandinavien, wo das Sozialstaatsmodell eben in besonders ausgeprägter Form existiert. Diese Verbindung zwischen freiheitlichem Denken und sagen wir mal einem Grundbestand von marxistischer Gesellschaftsanalyse hat eben die Sozialdemokratie in Europa zustande gebracht. Diese Form von Sozialismus, die lasse ich mir ja noch gefallen. Aber das Land, in dem nun die Marx'schen Kriterien und Einsichten, was Wirtschaft und was das Menschenbild betrifft, die Gesellschaft beherrscht und trotzdem das, was wir als Freiheit haben, existiert, das möchte ich doch mal sehen. Es existiert einfach nicht!

    Klein: Wenn das Wirtschaftssystem und Gesellschaftssystem, mit dem sich manch einer, ich weiß nicht, ob ich sagen soll: viele im Osten Deutschlands nicht so recht anfreunden können oder wollen, in eine Krise gerät, wie das jetzt vielleicht mit den Finanzmärkten der Fall ist, das trägt jedenfalls nicht unbedingt zur Versöhnung mit diesem Staat bei oder?

    Gauck: Ja, zumal wenn eine politische Kraft existiert, die so tut, als hätten wir das Eigentliche verlassen und befänden uns jetzt im Uneigentlichen.

    Klein: Was meinen Sie damit?

    Gauck: Das will ich gleich mal erläutern. Wenn man sich vorstellt, was heute dieser Staat als soziales Netzwerk geschaffen hat und wie groß der Haushaltsposten ist, den Parlament und Regierung jedes Jahr zur Sicherung von Menschen bereitstellen, die nicht selbständig ihr Einkommen und ihr Überleben sichern können. Wenn wir diesen Riesenbetrag einmal sehen, dann muss man sich mal vorstellen, was für eine Wirtschaftsform brauchen wir, um diese Gelder bereitzustellen. Dann muss man mal zugespitzt sagen: Man braucht schon einen sehr gut funktionierenden Kapitalismus, wenn man ein solches soziales Netzwerk schaffen will.

    Die Menschen, die heute in Ostdeutschland sehr heftig klagen, sind zum großen Teil Menschen, die dort in geregelter Armut gelebt haben. Ihre Lebensverhältnisse waren keineswegs besser als das, was jetzt die Empfänger sozialer Hilfen sich leisten können. Und es gab sehr, sehr viele in einfachen Beschäftigungen befindliche Menschen, ganz besonders allein erziehende Mütter, die als Verkäuferin in einer Kaufhalle einen Lebensstandard lebten, den würden wir heute glatt als Armut bezeichnen. Das haben die Menschen offensichtlich vergessen, diese mangelnde Fähigkeit des sozialistischen Systems, Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand zu organisieren. Das müssen Sie einmal vergleichen: die Vermögensbildung, die sich im Westen oder in Skandinavien, in modernen Ländern abgespielt hat, und die Vermögensbildung im sogenannten Sozialismus. Da gibt es nichts, was man eben dem Sozialismus verdanken könne, als Lebensform, als Raum, in dem man gerne leben möchte. Das sind nostalgische Träume, und ja, das ist so mit der Nostalgie: Die Nostalgie blendet immer das aus, was negativ ist, was Schmerzen auslöst oder Trauma, und konzentriert sich auf das, was es gegeben hat und was angenehm ist anzuschauen. Und in dieser Phase sind wir. Wir sind so gesehen in Ostdeutschland immer noch in einer Übergangsgesellschaft, und die hat die Aufgabe, den Raum der Freiheit positiver zu sehen und zu betreten, und sich nicht von Furcht vor der Freiheit leiten zu lassen.