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"Wir sind im Herzen des East End"

Das East End ist nicht nur der ärmste Stadtteil Londons, sondern mittlerweile auch die teuerste Quadratmeile der Welt. Armselige Reihenhaussiedlungen spiegeln sich in den Glas- und Stahlfassaden expandierender Dotcom - Unternehmen. Und erneut rücken die Baumaschinen an, denn im Jahre 2012 werden hier die Olympischen Spiele ausgetragen. Die Angel Lane in Stratford war früher ein riesiger Markt. Heute steht nur noch ein Haus in der Straße: Die Nummer 131, die Railway Tavern.

Von Ruth Rach |
    Die Railway Tavern, ein behäbiger alter Pub in Stratford, rotgold gemusterter Teppichboden, braune Plüschvorhänge, verrauchte Decke, eine verchromte Musiktruhe aus dem 50er Jahren. Und ein Tresen so ausladend wie die Kommandobrücke eines Ozeandampfers. Es ist früher Nachmittag, Männer in Arbeitskluft lehnen an der Theke, schlürfen Pints, füttern Spielautomaten. Im Hintergrund, auf einem massiven Flachbildschirm ein Pferderennen aus Ascot.

    "Wir sind im Herzen des East End”. Jan die Kneipenwirtin, im East End geboren und aufgewachsen. Viele Kunden kennt Jan noch von der Schule. Manchmal verirren sich Touristen hierher: zumeist Amerikaner auf den Spuren von Shakespeare. Denen muss sie sanft beibringen, dass sie in Stratford by Thames gelandet sind, und nicht etwa im malerischen Stratford on Avon, 200 km weiter nördlich.

    Jan Dooner, kräftige Mittvierzigerin, grüne Augen, schwarz-weiß gestreifte Schürze, himbeerrotes Hemdkleid, lindgrüne Sandalen. Tiefbraun, soeben vom Urlaub auf Antigua zurück. Seit 26 Jahren führt Jan mit ihrem Mann die Railway Tavern. Jan ist in dem Pub aufgewachsen. Ihre Eltern haben es vor 38 Jahren übernommen.

    Jans Mutter war Näherin, der Vater Dockarbeiter. Auch ihre Großeltern kamen aus den Docklands. Der Hafen war ihre Lebensgrundlage. Der Niedergang der Docks eine kollektive Tragödie. Die Gegend verwahrloste. Jans Vater schaffte den Absprung - er übernahm die Pacht im Railway Inn.

    Mit einem energischen Handgriff füllt Jan das Pintglass. Die ersten Kunden kommen schon um sechs Uhr früh. Eine alte Tradition, die bis ins 19 Jahrhundert zurückreicht. Sie begann mit den Feldarbeitern, die hatten schon morgens Durst. Dann kamen Eisenbahner. Straford war ein wichtiger Bahnknotenpunkt. Heute kommen andere Schichtarbeiter: Polizisten, Postler, U-bahnfahrer. Die ganze Gegend hat sich grundlegend geändert.

    Es gibt all diese verschiedenen Kulturen, Zuzügler vom Subkontintent, aus Afrika, der Karibik - und dazwischen die alten Gauner - oder Typen, die sich für die großen Gangster seit den 50 Jahren halten. Allen gemeinsam: ein tief verwurzeltes Lokalbewusstsein. Der East Ender ist stolz auf seine Herkunft.

    Früher war die Angel Lane ein riesiger Markt - es gab Fisch, Blumen, Obst, Gemüse, Kleider. Heute steht nur noch ein Haus in der Straße: Die Nummer 131, die Railway Tavern.

    Es gibt keine Nummer eins und keine Nummer 132. Vielleicht werden sie sogar den Straßennamen ändern, aber dagegen will Jan bis zum letzten Bluttropfen kämpfen.

    Hinter der Theke eine breite Holztreppe. Im Obergeschoss große leere Räume, Koffer, Zeitungen, alte Vorhänge. Früher wurde hier gefeiert, Verlobungen, Hochzeiten, Trauerfeiern. Solche Feste gibt es nicht mehr. Nicht nur, weil neue Brandbestimmungen gelten. Heutzutage ist Karaoke "in". Darauf sind Jans Kunden besonders scharf. Einmal im Monat gibt’s ein open Forum für neue Talente. Ansonsten lebt die Railway Tavern von alten Stammkunden - und der Hoffnung auf eine große Zukunft.

    Jan deutet aus dem Fenster. Direkt gegenüber: eine riesige Baustelle. Eine gigantische Mondlandschaft aus Kratern und Tunnels hunderte von Metern tief, gespickt mit Baukränen. Daneben ein kilometerlanger Wall aus Schutt und Erde. Hier entsteht Stratford City, eine nagelneue Stadt. In ihrem Herzen: der Bahnhof Stratford International, eine direkte Verbindung zum Channel Tunnel und zum europäischen Festland Weiter hinten am Horizont: die glitzernden Glaspaläste der Londoner City, die pompösen Prestigebauten der Docklands. Jan ist in den verschiedensten Gemeindeforen aktiv: die Fehler, die bei der Gestaltung der Docklands gemacht wurden, sollen sich hier nicht wiederholen.

    Die Leute in Stratford wollen eine integrierte Stadtplanung - keine anonymen Zweckbauten, keine Luxusghettos, sondern Wohnungen, die man sich leisten kann, neue Schulen, Krankenhäuser, soziale Einrichtungen. Sonst wird die Community hinter den ganzen Yuppies zurückgelassen und sterben.

    Jan will den Pub auf jeden Fall bis zur Eröffnung von Stratford International behalten. Auf die olympischen Spiele im Jahr 2012 freut sie sich noch mehr. Trotz aller Bedenken über die Londoner Achillesferse bei solchen Massenveranstaltungen, das veraltete Transportsystem, diese Spiele sind eine Riesenchance für die Regenerierung von Ostlondon und fürs ganze Land.

    Jans Kinder arbeiten in den neuen Medien, sie haben keine Lust, die Railway Tavern zu übernehmen. Ansonsten träumt Jan von einer einsamen Insel, wo man ihr endlich einmal die Drinks serviert.