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"Wir sind viel besser als wir denken"

Sind wir wirklich das perfektionistische Volk der Meckerer und Nörgler? Ja, sagen und schreiben Christian Schlesiger und Marcus Werner - drehen den Spießerspieß aber um und führen uns vor Augen, wie gut wir sind - und wie zufrieden wir sein könnten.

    Dirk Müller: Immer nur nörgeln, immer nur herumkritisieren, alles irgendwie schlecht machen, das ist offenbar eine typisch deutsche Eigenschaft. Eine miserable Deutsche Bahn zum Beispiel, ein miserables Hartz-IV-System, schlechte Schulen, schlechter Service im Restaurant, lange Warteschlangen bei den Behörden, oder zu hohe Steuern. Das ist gar nicht so! Deutschland ist gar nicht so schlecht, sagen die beiden Journalisten und Publizisten Christian Schlesiger und Marcus Werner, die darüber ein Buch geschrieben haben: "Deutschland sehr gut. Wir sind besser als wir denken", so heißt es. Marcus Werner ist jetzt bei uns im Studio. Guten Morgen!

    Marcus Werner: Guten Morgen!

    Müller: Herr Werner, liegt das Nörgeln an den germanischen Genen?

    Werner: Ich glaube ja. Es gibt ja tatsächlich Studien, die sagen, die Amerikaner, die haben den amerikanischen Traum, die Franzosen, die haben ihr gutes Essen, und die Deutschen, die suchen immer so ein bisschen danach, was sind wir eigentlich, und das führt dann dazu, dass wir so eine innere Unruhe haben und immer suchen, wie können wir uns identifizieren. Das kann dazu führen, dass wir dann einfach anfangen zu meckern, zu nörgeln, weil wir immer besser sein wollen, weil das gut sein einfach so ein bisschen das ist, worüber wir uns identifizieren. Das kann dann mal negativ sein, nämlich das Genörgel; es kann aber auch sein, dass wir über uns hinauswachsen und immer besser werden und dann was hinkriegen.

    Müller: Aber wenn es an den Genen liegt, dann haben wir ja Schwierigkeiten, das jemals zu ändern?

    Werner: Gene, das meine ich nicht unbedingt, aber es ist vielleicht so dieses Traditionell-Kulturelle, dass wir einfach nicht so das haben, wo wir sagen können, das macht uns aus. Deswegen sind wir vielleicht so ein bisschen unruhig, sagen zumindest Experten, die wir dazu interviewt haben.

    Müller: Warum sind wir denn besser als wir denken?

    Werner: Wir sind besser als wir denken, weil wir erstens gut sind und zweitens uns immer unterschätzen. Ich glaube, das ist es. Es gibt viele Dinge, vor allem weil Deutschland so mittelständisch geprägt ist, wo wir gar nicht wissen, dass wir viele Leuchttürme haben, die teilweise so klein sind und uns trotzdem in der Masse so erfolgreich machen. Das gibt es im Kulturellen, das gibt es im Wirtschaftlichen, im Gesellschaftspolitischen, da gibt es eine Menge, wo wir selber überrascht waren, als wir es mal zusammengetragen haben, was es da so alles gibt.

    Müller: Sie haben in Ihrem Buch ja mehrere Beispiele gegeben, natürlich, um das auch dementsprechend zu unterfüttern. Ein Beispiel das LKW-Mautsystem. Es ist ja kaum nachvollziehbar, was es damals für einen Aufstand gegeben hat, wie schlecht das alles sein sollte, und dann ist es ganz gut gelaufen.

    Werner: Richtig! Am Anfang hieß es, um Gottes willen, jetzt versuchen sie da mal wieder den großen Wurf und es klappt mal wieder nicht, wie peinlich, wir blamieren uns international. Danach ist es ruhig darum geworden. Warum? Weil es eben funktioniert! Mittlerweile ist es das modernste Mautsystem der Welt und man könnte theoretisch noch sehr viel mehr Sachen damit machen. Beispielsweise der Hamburger Hafen überlegt sich, ob man nicht das so regelt, dass die LKW, wenn sie auf der Anfahrt Richtung Hamburg sind, dann schon automatisch voranmelden. Dann wird ausgerechnet, um wie viel Uhr kommen wir zur Abfertigung, dass man das nicht mehr telefonisch machen muss, mit Zettelkram. Also da ist noch einiges mehr drin, wenn man nur wollte. Auch PKW-Maut wäre möglich, das ist eine andere Sache.

    Müller: Welche Beispiele, welche Überzeugungskraft haben Sie noch?

    Werner: Was ich ja faszinierend finde: Ich koche gerne und ich kriege immer wieder mit, dass die Leute sagen, die deutsche Küche kann man erstens nicht essen, wir essen im Grunde ja die ganze Zeit nur international, wir schämen uns so ein bisschen für unsere eigene Küche. Ich finde es zum Beispiel sehr erfrischend zu sehen: Wir brauchen uns nicht zu verstecken, denn das, was wir hier haben, ist eine sehr weltoffene Küche mittlerweile. Wenn wir beispielsweise sagen, wir essen Pizza, wir entwickeln das selber weiter, es gibt dann eben auch - - übrigens ist das mit der Pizza ganz lustig, denn ohne die Deutschen gäbe es weltweit die italienische Pizza gar nicht als das Nationalgericht, denn es waren damals die italienischen Einwanderer, die die Pizza nach Deutschland gebracht haben. Das kannten die Italiener selber überhaupt nicht in ihrem eigenen Land. Das kam nämlich aus dem Süden Italiens und es wurde erst hier in Deutschland groß. Die Deutschen gingen dann nach Italien zurück in den 50er-, 60er-Jahren und wollten dann dort die Pizza essen, die es dort nirgends gab. So kam es dann eben, dass die Deutschen und die italienischen Auswanderer, die dann nach Italien zurückgegangen sind, gesagt haben, wo ist die Pizza hier in Italien, und so kam erst die Pizza groß nach Italien. Da können wir uns so ein bisschen auf die Schulter klopfen, das kam dann so ein bisschen von hier.
    Diese ungesunde deutsche Küche beispielsweise ist ein Punkt, wo ich finde, das ist überhaupt nicht wahr. Wir haben uns so viel weiterentwickelt. Die Amerikaner würden nie sagen, das ist unamerikanisch, dass wir koreanische, skandinavische Restaurants bei uns haben, das gehört zu uns, und genauso können wir Deutsche das auch für uns in Anspruch nehmen, dass wir in Kantinen mittlerweile beispielsweise genauso das Minz-Parfait wie eben die Kohlroulade noch essen.
    Gesellschaftspolitisch finde ich das sehr schön, da freue ich mich drüber, dass die Jugend, von der wir immer denken, um Gottes willen, diese Einzelkämpfer und Ellenbogengesellschaft, wie soll das mit denen weitergehen, dass die mittlerweile ganz anders ticken. Diese 90er-Jahre-Egotrip-Geschichten sind längst vorbei. Da geht es um Familie und um Freunde. Und diese Angst, die Besitzstände zu verlieren, um Gottes Willen, plötzlich müssen wir zehn Euro für den Arztbesuch bezahlen, diese Ängste, die ältere Leute haben, die haben diese Jugendlichen gar nicht, weil sie es gar nicht anders kennen. Die Leute, die heute an die Uni kommen, das sind die, die waren noch nicht mal geboren, als die Mauer gefallen ist. Die sind viel flexibler, die sind aufgeschlossen, die arrangieren sich mit den Umständen, die freuen sich auf die Zukunft und sind überhaupt nicht so pessimistisch, wie man es meinen könnte.

    Müller: Jetzt haben wir es im Deutschlandfunk gerade in den "Informationen am Morgen" ja gerne mit der handfesten Politik. Sie haben noch ein anderes Beispiel herausgearbeitet: Pisa.

    Werner: Genau.

    Müller: Wie ist es damit gelaufen?

    Werner: Pisa, das war ja damals wirklich ein Schock. Das hat so ein bisschen an unseren Grundfesten geschüttelt, weil wir dachten, wir sind doch hier die Bildungsnation, und jetzt kommen die internationalen Studien heraus, die sagen, wir können das ja eigentlich gar nicht mehr so richtig. Aber da sind natürlich schon einige Jahre vorbei und mittlerweile kann man sagen, da hat sich einiges getan. Wenn man zum Beispiel 2004 mit 2009 vergleicht: Damals war das schlechteste Bundesland 2004 Berlin. Das ist immer noch 2009 schon wieder das schlechteste Bundesland gewesen. Nur: Mittlerweile ist Berlin besser als damals das beste Bundesland bei dem alten Test. Das heißt, die Bundesländer haben sich einmal komplett überrundet, da tut sich eine Menge. Die Lehrer dürfen mitdiskutieren, da hat man richtig Lust bekommen, Sachen auszuprobieren, und da tut sich einiges. Wenn man in die Schulen geht und guckt, was da an Projekten gestartet wird, um zu gucken, wie kriegen wir es besser hin, da, glaube ich, da kann man ganz zuversichtlich sein. Da haben wir nicht gesagt, okay, wir können es nicht, Hände in den Schoß, sondern jetzt packen wir es eben an.

    Müller: Blicken wir, Herr Werner, noch mal nach vorne, damit wir auch daraus lernen können, was Sie herausgefunden haben. Sie haben zu Beginn das Beispiel genannt, in Amerika ist alles anders und mit dem, womit wir uns beschäftigen, nämlich mit der Einstellung, mit dem Optimismus, vieles besser. Müssen wir jetzt mehr amerikanische Spielfilme gucken?

    Werner: Ich glaube, da gucken wir schon genügend. Im Gegenteil, wir könnten vielleicht sogar sagen, Mensch, der deutsche Film der entwickelt sich mittlerweile und da kommen etwa eine Menge deutsche Fernsehproduktionen, die international nachgefragt werden. Nein, ich glaube nicht, dass wir amerikanischer werden müssen, sondern wir können einfach zufrieden sein mit dem, was wir selber hinkriegen, anstatt immer so sehr an uns zu zweifeln. Das heißt noch lange nicht, dass wir uns zurücklehnen sollen, um nichts mehr zu tun, aber man kann einfach auch mal ein bisschen genießen, dass man es gut hinkriegt, und dann mit diesem Selbstbewusstsein weiter anpacken.

    Müller: Welche Rolle spielt die Politik dabei, der Auftritt der Politik, die Präsentation der Politik?

    Werner: Ich glaube, das ist ganz wichtig, und ich glaube, das ist auch ein Knackpunkt, wo es nicht so gut läuft. Ich könnte mir vorstellen, dass die Deutschen eben nicht politikverdrossen sind; ich glaube eher, dass die deutschen Politiker verdrossen sind. Ich glaube schon, dass die Deutschen gerne diskutieren und am Ball bleiben und dass sie sich interessieren für die ganzen Themen, um zu gucken, wie geht es mit uns weiter, wie kriegen wir es in Zukunft noch besser hin, aber ich glaube, dass da so ein Frust herrscht, dass es einfach nicht klappt mit den Politikern, die wir an die Macht gewählt haben und die dann große Versprechungen am Anfang gemacht haben, aus denen dann später nichts wird. Ich glaube, das ist das, was die Leute wirklich nervt.

    Müller: Sind die Persönlichkeiten nicht gut genug?

    Werner: Ich würde sagen ja, richtig. Selbst Persönlichkeiten, von denen man gesagt hat, Mensch, die hauen jetzt mal auf den Tisch, die bieten von mir aus die Steuererklärung auf dem Bierdeckel an, finden nachher wieder einen Weg zu sagen, ja, gut, unter den Umständen im Moment ist es eben dann doch wieder nicht möglich. Da kommt dann halt so eine Enttäuschung nach der anderen. Vielleicht fehlen uns da manchmal so ein bisschen ein paar Glanzfiguren, wo man sagt, Mensch, an denen können wir uns orientieren, hier haben wir Spaß zu gucken, wie sie es jetzt mal so ein bisschen neu machen.

    Müller: Bei uns im Studio heute Morgen im Deutschlandfunk der Journalist und Publizist Marcus Werner. Er hat mit seinem Kollegen Christian Schlesiger das Buch geschrieben "Deutschland sehr gut. Wir sind besser als wir denken". Vielen Dank, dass Sie bei uns im Studio waren.

    Werner: Sehr gerne! Danke.