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"Wir sollten auf die aktuellen Fälle schauen"

"Alle Fälle die in wir jetzt in den letzten Jahren auf den Tisch bekommen haben, sind verjährt", stellt Professo Hartmut Zinser vom Institut für Religionswissenschaften an der FU Berlin fest. Er fordert daher, auf die heutigen Fälle zu schauen und bei Missbrauch staatlichen Subventionen einzufrieren.

Hartmut Zinser im Gespräch mit Bettina Klein |
    Bettina Klein: Über Sinn und Unsinn von Tabus habe ich mit Professor Hartmut Zinser gesprochen. Er lehrt Religionswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Mich hat zunächst interessiert: Was ist eigentlich ein Tabu?

    Hartmut Zinser: Der Begriff "Tabu" stammt aus dem Polynesischen, genauer, von der Insel Tonga, und heißt eigentlich "außergewöhnlich", und das heißt, für die meisten Menschen verboten. "Noa" ist der Gegenbegriff, das heißt "gewöhnlich", das darf jeder. Im Prinzip sagt ein Tabu das, was man tun darf, und das ist natürlich abgeschichtet nach sozialen Schichten. Ein König darf was anderes als der normale Mensch, eine Frau was anderes als ein Mann, ein Kind anderes als ein Erwachsener. Und genaugenommen handelt es sich dabei um eine Art, ja, vorgeschichtliches oder frühes Rechtssystem, das nicht formalisiert ist, wie unser Rechtssystem aufgeschrieben ist, sondern das eben jedem sagt, wie er leben soll, was er tun darf und was er nicht tun darf. Und das straft sich in der Regel automatisch, nämlich dadurch, dass die Götter intervenieren. Wer nicht sich an die Vorschriften der Ahnen hält, den werden sie ereilen, oder seine Kinder und Kindeskinder. Wir haben ja nun ein Rechtssystem und insofern brauchen wir eigentlich überhaupt keine Tabus. Es ist schlichtweg so: Was im Rechtssystem verboten ist, das darf man nicht tun. Und wenn man erwischt wird, muss man auch seiner gerechten Strafe zugeführt werden. Nun gibt es natürlich Sachen, man kann juristisch und rechtlich nicht alles regeln, das heißt, auch bei uns gibt es eine ganze Reihe von Regeln des Verhaltens, die wir von jedem anderen erwarten und die wir auch selber einhalten, manchmal auch überschreiten, und das hat sich angewöhnt, dass man diesen Bereich als tabu oder so ähnlich bezeichnet.

    Bettina Klein: Und Sie würden sagen, wir brauchen Tabus in jedem Falle, obwohl wir ja ein Rechtssystem haben und auch einen weitgehend funktionierenden Rechtsstaat?

    Zinser: Das reine Rechtssystem reicht nicht, und zwar, weil es unendlich viele Verhaltensformen gibt, die gar nicht sinnvoll unter Strafrecht oder durch andere rechtliche Normen zu regeln sind, weil die auch situativ ausgehandelt werden müssen. Im Straßenverkehr gilt ganz klar rechts vor links, und trotzdem wird es viele Situationen geben, wo man dem Linken winkt, er soll vorfahren. Und das ist natürlich in allen anderen Sachen ganz genauso, und da braucht man dann eigentlich ein Stück von Regeln des Verhaltens, wo man etwa sagt, aggressives Fahren ist tabu, machen wir nicht, wollen wir nicht. Alles, was gefährdet, ist im Prinzip tabu, wollen wir nicht. Und insofern wird das Recht immer neben dem formalen Recht und dem Gesetz wird es da noch eine Norm der Sittlichkeit oder man kann es umgangssprachlich Tabu nennen, dazu haben müssen.

    Klein: Weshalb halten wir uns denn normalerweise an Tabus? Das ist ja offenbar so, anderenfalls wäre ja ein Tabubruch nicht besonders bemerkenswert. Ist es sozusagen eine tief verwurzelte Angst, doch noch eine Strafe der Götter oder durch wen auch immer zu erfahren?

    Zinser: Na ja, erst mal ist es so, wenn wir uns an solche Regeln halten, dass das das Leben sehr erleichtert. Ich glaube nicht, dass heute noch viele Menschen bei einem Tabubruch irgendeine Strafe der Götter, der Ahnen oder Gottes erwarten. Ich glaube, das ist im Bewusstsein unserer Menschen heute nicht mehr da. Nun muss man allerdings etwas hinzufügen: Verboten werden – durch Recht oder auch durch Tabubrüche, durch Taburegeln – muss ja nur das werden, was viele Leute tun wollen, und damit ist ein Tabubruch interessant. Und offensichtlich ist dies Erleben der meisten Menschen heute so verarmt, subjektiv, dass sie ihre Genüsse und das, was sie tun wollen, nicht gestalten können und deswegen als Kick, wenn man so will, einen Bruch des Rechts und des Tabus brauchen.

    Klein: Kann man sagen, dass ein Tabubruch für manche Menschen reizvoller ist als so eine banale Gesetzesübertretung?

    Zinser: Das könnte sein. Bei dieser banalen Gesetzesübertretung, da erwarten sie vielleicht doch, dass die Polizei oder der Strafrichter kommt, und beim Tabubruch, das ist so im Zwischenbereich, da hoffen sie so vielleicht, davongehen zu können. Und insofern sind Tabubrüche für viele Menschen interessant. Außerdem: Man kann sie auch systematisch einsetzen für Provokation. Wenn Sie sich zurückerinnern, vor 40 Jahren, die Studentenbewegung hat ja systematisch immer mit diesem Moment des Bruchs von Regelungen und Tabus gespielt, sie knapp übertreten, aber so, dass der Strafrichter eigentlich nicht kommen konnte, ohne sich lächerlich zu machen, und da wurde das systematisch eingesetzt als Provokation. Ich glaube, es gibt heute auch noch genügend Politiker, die das meinen, dieses System auch wieder verwenden zu können, um sich beliebt zu machen, Stimmen zu bekommen oder was weiß ich.

    Klein: Ja, es gibt ja doch immer wieder Menschen, die glauben, sie werden gerade dadurch attraktiv oder erfolgreich. Politiker haben Sie gerade angesprochen, die gerne auch damit spielen, ich bin so toll, ich traue mich, ein Tabu zu übertreten. Aber es sind nicht nur Politiker, die glauben, dass, wenn sie vermeintlich oder tatsächlich an Tabus rühren, besonders attraktiv, besonders erfolgreich wirken. Wie kommt das, dass sie sich diesen Erfolg versprechen?

    Zinser: Na ja, wie ich schon sagte: Ein Verbot macht uns gerade scharf, hat jemand, glaube ich, mal gesungen. Etwas Verbotenes, das macht uns gerade scharf. Und insofern erhoffen sich offensichtlich viele Menschen davon einen Reiz, und es zeigt Ihnen die Verarmung unserer Kultur, auch unserer Genüsse, dass man offensichtlich, damit das überhaupt noch als Genuss und Befriedigung erlebt werden kann, ein Tabu meint brechen zu müssen.

    Klein: Das führt natürlich zur Frage: Was wäre denn eine Gesellschaft, oder was wäre unsere Gesellschaft, in der alle diese vermeintlichen Träume in Erfüllung gegangen wären, in der nämlich dann endlich alle Tabus gebrochen wären? Wären wir denn dann wirklich glücklich?

    Zinser: Das glaube ich nicht. Ich glaube, wir wären ärmer, wir wären verarmt, weil ein Genuss ist ja eine Frage des Bewusstseins, und das Bewusstsein basiert auf, ich benutze einen anderen Begriff, auch auf Askese, dass man sich erst einmal der Dinge enthält und nicht einfach nur vollfrisst, sondern nur ganz Bestimmtes, besonders Zubereitetes isst und natürlich sich auch an die Reglements hält, also, wenn man so will, an die Essenstabus. Ich glaube nicht, das wäre eine Verarmung.

    Klein: Nun muss man auch sagen, Sie haben es auch schon so angedeutet mit der Studentenbewegung: Vieles, was vor 30, 60 oder 100 Jahren als Tabu galt, das ist ja längst keines mehr. Mit vielem leben wir ganz gut oder an manches haben wir uns auch einfach nur gewöhnt inzwischen. Wo verläuft denn die Grenze zwischen einem Tabu, das man ruhig, wie wir ja in der Vergangenheit, im 20. Jahrhundert, gesehen haben, brechen kann, und Tabus, an die man im Interesse des Einzelnen und der Gesellschaft bitte niemals rühren sollte?

    Zinser: Tabus sind Regeln für das Zusammenleben der Menschen. Die sind natürlich zeitlich und gesellschaftlich abhängig. Das heißt also: Was vor 100 Jahren notwendig war, muss es heute nicht mehr sein. Insofern müssen solche Regeln auch überprüft werden. Aber natürlich hat es Grenzen daran, wo die Rechte und die Möglichkeiten von anderen Menschen, ihr Leben so leben zu können, wie sie wollen, tangiert werden.

    Klein: Da sind wir beim Anlass unseres Gespräches: Kindesmissbrauch ist ein nach wie vor bestehendes Tabu, ein letztes Tabu. Aber wenn es stimmt, wenn die These stimmt, die "Die Zeit" diese Woche vertreten hat – in einer liberalen Gesellschaft, die auf Steigerung zielt, braucht es Tabus für den letzten Kick, und das heißt dann: Die Gesellschaft wird eben in immer neuen Gestalten auch gegen das letzte sexuelle Tabu anrennen, gegen das Kind – fällt dieses Tabu in der Gesellschaft irgendwann auch noch?

    Zinser: Nein. Zunächst einmal ist es ein Strafdelikt, also, ein Bruch eines Strafrechtes, und das muss mit der notwendigen Konsequenz und Suffizienz von der Staatsanwaltschaft und wer da alles zuständig ist verfolgt und geahndet und auch bestraft werden. Es ist kein Tabu, sondern es ist schlichtweg ein Strafdelikt, und wer da von einem Tabu, also einer außerrechtlichen Regelung, spricht, der vertuscht das Ganze schon, bin ich überhaupt nicht der Auffassung. Und Kinder sind abhängig, Kinder sind auch vielleicht noch gar nicht fähig, sich völlig selbst zu schützen, sie müssen also geschützt werden. Und man könnte höchstens darüber nachdenken, dass man diesen Schutz noch etwas verstärkt.

    Klein: Die Frage, die dahinter steht, ist ja auf der einen Seite die immense, auch öffentliche und auch Gott sei Dank geschehende Empörung über die bekannt werdenden Fälle von Kindesmissbrauch, auf der anderen Seite die Wahrnehmung: dieses Tabu ist eigentlich längst gefallen, zumindest in den Medien, etwa in Büchern, die sich derzeit hervorragend verkaufen und von anscheinend völlig normalen Menschen gelobt werden, oder auch in Filmen. Wie weit ist der Schritt von der medialen Inszenierung hin zur realen Tat oder Duldung, oder gilt hier das Prinzip vom Ventil: Was ich mir anschaue oder durchlesen darf, das tue ich dann auch nicht mehr?

    Zinser: Also, an das Letzte glaube ich nicht, und ich bin hier auch der Auffassung, dass eigentlich diese Form von Schriften verboten gehören, schlicht und ergreifend, und Bildern, und was es da alles gibt. Also, ich bin leider etwas dümmlich im Internet, ich habe mir dort mal bestimmte Sachen vorzeigen lassen. Es ist unerträglich, dass sowas... dass dafür sozusagen Freiheit verlangt wird. Das sind Rechtsbrüche – die Kinder, die da missbraucht worden sind, sind missbraucht worden – und die müssen verfolgt werden. Mich stört an dieser Debatte heutzutage eigentlich vielmehr: Alle Fälle, die wir jetzt so in den letzten Jahren auf den Tisch gekriegt haben, durch die Presse gehen, die sind alle verjährt, und ich will an dieser Verjährungsfrist auch nichts ändern, das nützt nichts mehr. Aber wer redet denn über aktuelle Fälle? Was passiert denn heute in diesen Schulen, was passiert denn heute in diesen Gymnasien? Und da müsste man mal viel schärfer hingucken und man müsste gegebenenfalls auch fordern, dass die staatlichen Subventionen für solche Schulen eingefroren werden.