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"Wir stehen erst am Anfang unserer Ermittlungen"

Die "Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" in Ludwigsburg ermittelt derzeit gegen 50 Aufseher des KZ Auschwitz. Die Zahl könne noch weiter steigen, sagt deren Leiter Kurt Schrimm. Nach aktuellem Rechtsstand müsste ihnen für eine Anklage keine individuelle Schuld nachgewiesen werden.

Kurt Schrimm im Gespräch mit Friedbert Meurer |
    Friedbert Meurer: Auch fast 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges holt uns die Vergangenheit immer wieder ein. Verstreut über ganz Deutschland sollen mehr als 50 ehemalige KZ-Aufseher von Auschwitz leben. Wer hätte das gedacht? Sie sind alle mindestens 90 Jahre alt. Wie viel Schuld haben sie auf sich genommen? Das ist nie vor Gericht geklärt worden. Diese Meldung vom Wochenende hat aufhorchen lassen: 51 Aufseher von Auschwitz leben noch und müssen sich vielleicht jetzt doch noch vor Gericht verantworten. Für die Ermittlungen, wenn sie denn zustande kommen, ist zuständig Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm. Er ist der Leiter der zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Guten Morgen, Herr Schrimm.

    Kurt Schrimm: Guten Morgen, Herr Meurer.

    Meurer: Wie sind Sie auf die Spur dieser 51 KZ-Wärter gekommen?

    Schrimm: Es gibt eine Liste aller – wir hoffen, dass sie vollständig ist -, aller Männer, die damals in Auschwitz als Aufseher tätig waren. Diese Liste lag uns teilweise schon längere Zeit vor. Wir waren letztes Jahr in Auschwitz selbst, im Museum, und haben dort die vollständige Liste erhalten.

    Meurer: Wie haben Sie dann festgestellt, ob sie noch leben und wo diese ehemaligen Aufseher leben?

    Schrimm: Herr Meurer, wir stehen erst am Anfang unserer Ermittlungen. Wir ermitteln nicht nur gegen Aufseher in Auschwitz, sondern auch gegen Aufseher anderer Vernichtungslager wie beispielsweise Treblinka oder Sobibor. Deshalb bitte ich um Verständnis, dass ich Ihnen Einzelheiten, wie wir diese Männer gefunden haben, derzeit noch nicht mitteilen kann.

    Meurer: Auf was bezieht sich denn die Zahl 51? Sagen Sie uns das? Sind das wirklich 51 Ex-Aufseher von Auschwitz?

    Schrimm: Es sind 50 ehemalige Aufseher von Auschwitz-Birkenau.

    Meurer: Also kommen noch weitere dazu von Treblinka und so weiter?

    Schrimm: Wir gehen davon aus, dass diese Zahl nicht die endgültige sein wird.

    Meurer: Ungefähr eine Vorstellung, wie viele es insgesamt sein werden?

    Schrimm: Nein. Das wird sehr schwierig sein, denn die übrigen Vernichtungslager, die waren wesentlich kleiner als Auschwitz, sodass eine ganz große Zahl sicherlich nicht zustande kommt. Ich gehe davon aus, dass es vielleicht so 80, 90 sein werden.

    Meurer: Warum, Herr Schrimm, ermitteln Sie erst jetzt gegen die 50?

    Schrimm: Es war so, dass man jahrzehntelang mehr oder weniger davon ausging, dass man jedem Aufseher eine ganz individuelle Schuld nachweisen muss, dahin gehend, dass er an der Tötung von Häftlingen oder eines Häftlings zumindest persönlich beteiligt war, seinen persönlichen Tatbeitrag geleistet hat. In den vergangenen Jahrzehnten hat man viel dazugelernt. Sowohl die Justiz als auch die historische Forschung hat Dinge ermittelt oder Dinge erfahren, die vorher nicht bekannt waren. Dabei spielt natürlich auch eine Rolle die Wende, die sogenannte. Uns sind heute Archive zugänglich, die in den 70er- oder 80er-Jahren für uns schwer erreichbar waren.

    Meurer: Werden Sie, Herr Schrimm, jetzt also doch versuchen, individuelle Schuld nachzuweisen, und die Tatsache, dass jemand Aufseher war, alleine reicht Ihnen nicht?

    Schrimm: Die Tatsache, dass jemand Aufseher war, die Tatsache auf dem Papier, die reicht uns noch nicht. Wir müssen nach wie vor nachweisen, dass dieser Mann oder diese Männer tatsächlich als Aufseher tätig waren. Wir versuchen, nun beispielsweise Auschwitz – das waren jeweils mehrere Hundert gleichzeitig -, wir versuchen, jetzt nachzuweisen, wann dieser Mann oder diese Männer wo tätig waren, an der Rampe oder auf den Wachtürmen und so weiter. Also die reine Tatsache, dass er in Listen auftaucht als Aufseher, die genügt noch nicht, sondern wir müssen wirklich nachweisen, dass er seine Tätigkeit dort auch ausgeübt hat.

    Meurer: Ab wann wird es dann sozusagen kritisch? Wo muss der Aufseher im Einsatz gewesen sein, damit Sie ihn wegen Beihilfe zum Mord belangen können?

    Schrimm: Wir gehen davon aus, dass die Angehörigen des sogenannten Wachbataillons im Wechsel eingesetzt waren, also nicht immer an der gleichen Stelle, nicht immer nur an der Rampe, nicht immer nur auf den Wachtürmen, nicht immer nur an der äußeren Postenkette, sondern dass die Tätigkeit gewechselt hat. Es hing auch davon ab, wie viele neue Häftlinge ins Lager gebracht wurden. Manchmal wurde das ganze Bataillon oder die ganze Kompanie gebraucht. Da gibt es zwischenzeitlich Erkenntnisse, die uns weiterhelfen, wenn wir also wissen, der Mann war an diesem und jenem Tag tatsächlich in Auschwitz-Birkenau. Wir wissen heute weitgehend, was an diesen Tagen geschah, und wenn wir dann nachweisen können, er war im Dienst, dann wird es relativ kritisch für ihn.

    Meurer: Wie sehr hilft Ihnen denn das Urteil gegen John Demjanjuk, von dem alle sagen, das ist für sie jetzt wegweisend, weil Beihilfe zum Mord, es reicht, wenn jemand Aufseher war. Sie sagen, Sie müssen jetzt noch nachweisen, wo genau er Aufseher gewesen ist, aber Sie müssen nicht mehr individuell mit Zeugen offenbar in Erfahrung bringen, was genau er getan hat. Was bedeutet das Urteil Demjanjuk für Sie?

    Schrimm: Das Urteil Demjanjuk war tatsächlich eine Wende in unseren Überlegungen. Wir haben damals das Verfahren gegen Demjanjuk eingeleitet, wir haben den Sachverhalt geprüft und kamen dann intern zum Ergebnis, dass die bisherige Rechtsprechung oder die bisherige Rechtsauffassung nicht mehr haltbar ist nach den neuen Erkenntnissen. Wir haben dann die Auffassung vertreten, die von der Staatsanwaltschaft in München und letztlich vom Landgericht München auch übernommen wurde. Wir hätten gerne, das ist ganz klar, ein Urteil des Bundesgerichtshofes gehabt, um hier Rechtssicherheit zu gewinnen. Herr Demjanjuk starb, bevor dieses Urteil vom Bundesgerichtshof ergehen konnte. Deswegen hat er juristisch auch als unschuldig zu gelten. Das wissen Sie. Aber die Tatsache, dass das Landgericht München unsere Rechtsauffassung übernommen hat, hat uns veranlasst, die bisherigen Fälle noch einmal zu überprüfen.

    Meurer: Wie problematisch ist das für Sie, dass es diese BGH-Entscheidung nicht gibt?

    Schrimm: Es ist nicht problematisch. Wie gesagt, jeder Jurist hätte gerne Rechtssicherheit, hätte gerne gewusst, ob das, was er vertritt, letztendlich auch von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abgedeckt wird. Aber wie gesagt, das Landgericht München und in einigen Haftentscheidungen auch das Oberlandesgericht München hat diese Rechtsauffassung bestätigt, sodass wir mit einem gewissen Rückhalt in unsere Arbeit gehen können.

    Meurer: Sie haben eingangs gesagt, Herr Schrimm, ein Teil von den 50 Aufsehern aus Auschwitz, die kannten Sie schon vorher. Dann sind jetzt neue sozusagen durch Archivsuche dazugekommen. Diese erste Gruppe, ist gegen die jemals nach dem Krieg in Deutschland ermittelt worden? Sind die jemals vor Gericht gestellt worden?

    Schrimm: Das wird unser nächster Schritt sein. Wir müssen jetzt zunächst überprüfen, ob diese Männer überhaupt noch verfolgt werden können. Wenn sie vor Gericht gestanden sind und freigesprochen wurden, oder auch verurteilt wurden, dann sind sie unserem Zugriff entzogen. Sie wissen, niemand darf zweimal wegen derselben Sache vor Gericht gestellt werden. Deshalb wie gesagt: Wir stehen am Anfang unserer Ermittlungen und der nächste Schritt ist derjenige, ob diese Männer überhaupt noch verfolgt werden dürfen.

    Meurer: Das heißt, Sie müssen geradezu hoffen, dass die Justizbehörden in den 50er-, 60er-Jahren passiv waren und weggeschaut haben?

    Schrimm: So kann man es ausdrücken, ja.

    Meurer: Ist das nicht ein bisschen bitter?

    Schrimm: Nein. Wie gesagt, wir sind in einem Rechtsstaat und jeder kann nur dann verurteilt werden, wenn die Voraussetzungen für den Schuldnachweis tatsächlich gegeben sind. Es war in den 60er- und 70er-Jahren, auch 80er-Jahren einfach schwieriger wie heute und das sind wir unserem Rechtsstaat schuldig, dass wir dann eben diese Männer auch zu diesem Zeitpunkt nicht verfolgt haben.

    Meurer: Wie groß ist die Gefahr – diese Frage noch, Herr Schrimm -, dass selbst wenn Sie ermitteln und Anklage erheben der Prozess gar nicht zustande kommt, wenn es heißt, die Leute sind zu alt und nicht prozessfähig?

    Schrimm: Das spielt zunächst mal für unsere Ermittlungen keine Rolle. Wir sind eine Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen. Das heißt, wir müssen zunächst feststellen, was ist geschehen, welche Taten wurden begangen, wer kommt als Tatverdächtiger in Betracht. Erst wenn diese Dinge feststehen, kommt der zweite Schritt, nämlich die Frage, ist dieser Mann überhaupt noch prozessfähig, ist er überhaupt noch krankheitsbedingt in der Lage, ein Verfahren zu überstehen. Wie gesagt, das ist der zweite Schritt. Naturgemäß - diese Männer sind zwischenzeitlich sehr alt - wird sicherlich der eine oder andere nicht mehr vor Gericht gestellt werden können.

    Meurer: Kurt Schrimm, der Leiter der zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, zu den Ermittlungen gegen 50 ehemalige KZ-Aufseher von Auschwitz. Herr Schrimm, danke und auf Wiederhören.

    Schrimm: Bitte sehr, Herr Meurer. Auf Wiederhören!


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