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"Wir waren alle abhängig"

Heute ist im offiziellen Kalender der Vereinten Nationen der Red Hand Day. An jedem 12. Februar gedenken die UN der geschätzten rund 250.000 Kindersoldaten, die weltweit, zu größter Brutalität abgerichtet, im Einsatz sind. Ein solcher Soldat war Ishmael Beah, der seine Geschichte in einem Buch beschrieben hat, "Rückkehr ins Leben. Ich war Kindersoldat", erschienen im Campus-Verlag, als Taschenbuch bei Piper.

Ishmael Beah im Gespräch mit Christoph Heinemann |
    Christoph Heinemann: Seine Geschichte: 1980 in Sierra Leone geboren, verlor er während des Bürgerkrieges seine Eltern. Im Alter von 13 Jahren wurde er von der nationalen Armee zwangsrekrutiert. Er kämpfte viele Monate lang, bevor er über das Kinderhilfswerk UNICEF in ein Rehabilitierungscamp gelangte. Wir hören einen Auszug aus dem Buch:

    "'Stellt euch auf, Soldaten', sagte der Corporal. Nun trug er seine komplette Armeeuniform, und sein Rucksack und seine Hüfttasche waren voller Munition. Er hatte ein G3-Gewehr und seinen Helm unter die Arme geklemmt. Wir stellten uns zur Kontrolle in einer Reihe auf. Alle Jungen trugen kurze Armeehosen und grüne T-Shirts. Der Corporal gab uns grüne Stirnbänder und sagte: 'Wenn ihr jemanden ohne ein Stirnband in dieser Farbe oder einen Helm wie meinen seht, dann erschießt ihn.' Die letzten beiden Wörter schrie er. Jetzt war allen klar, dass das kein Training mehr war."

    Das Buch ist nicht unumstritten, australische Journalisten berichteten über mehrere fehlerhafte Angaben des Berichts. Ishmael Beah verteidigte solche Ungenauigkeiten - unter anderem mit dem regelmäßigen Drogenkonsum während seiner Zeit als Kindersoldat - und äußert sich dazu auch gleich im Gespräch. Heute lebt er in den USA, wo er erfolgreich ein Studium der Politikwissenschaft an einem College im Bundesstaat Ohio abgeschlossen hat. Er setzt sich für Kindersoldaten ein, sprach darüber vor den Vereinten Nationen und traf sich mit dem früheren US-Präsidenten Bill Clinton. Wir haben Ishmael Beah vor dieser Sendung in New York erreicht und ihn gefragt, wie Kommandeure Kinder brutalisieren und es erreichen, dass sie keine menschlichen Regungen mehr empfinden.

    Ishmael Beah: Generell nach der gleichen Methode. Zunächst wird das Umfeld destabilisiert. Dörfer werden zerstört, Kinder von ihren Eltern getrennt, manchmal werden die Eltern getötet. Und wenn Kinder sich dann allein wiederfinden, zu keiner Gruppe gehörig, ohne Familie, ohne ein Zuhause, kann der Prozess der Entmenschlichung beginnen, indem man ihnen einredet, nur durch Gewaltanwendung könne sich ihre Lage verbessern. In meinem Fall hat man uns gesagt, dies sei der einzige Weg, um uns für den Tod unserer Eltern rächen zu können. Nur so ließe sich verhindern, dass es anderen Kindern auch so ergehe.

    Heinemann: Welcher Gehirnwäsche wurden Sie unterzogen?

    Beah: Vom ersten Tag an wird dir gesagt: Wenn du nicht das tust, was man dir sagt, wirst du getötet. Am Anfang, während des Trainings, wenn einer der jungen Leute aufgefordert wird, auf jemanden zu schießen, und derjenige zögert oder sich weigert, wird er erschossen. Wenn du beim nächsten Mal gefragt wirst, weißt du, dass dein Leben davon abhängt. Das ist das eine. Zum anderen sind viele Drogen im Spiel, Kokain, Marihuana, Amphetamine. Du bist nicht mehr du selbst. Du verstehst nicht mehr vollständig, was du tust. Mit der Zeit wird diese Gruppe deine Familie. Und dann unterdrückst du alle Gefühle, damit du in diesem Wahnsinn funktionierst.

    Heinemann: Herr Beah, wie verlief ein, in Anführungszeichen, "gewöhnlicher Tag" als Kindersoldat?

    Beah: Wir liefen herum, meistens auf Patrouille oder Wachdienst, je nach deinen Fähigkeiten. Du sollst Munition, Essen und dauernd neue Rekruten finden. Das erfordert, dass du Zivilisten angreifst. Also ständige Gewalt. Nach verlustreichen Kämpfen wurden die Gefangenen getötet, aber im Kopf sagst du dir, nichts ist passiert. Denn da sind ja die Drogen. Für die mussten wir auch kämpfen. Wir haben sie verzweifelt gebraucht, denn wir waren alle abhängig. Von der Munition auch, denn die garantiert etwas mehr, dass man am Leben bleiben würde.

    Heinemann: Was geschah mit Ihnen, als Sie töten mussten?

    Beah: Beim ersten Mal war es ziemlich schwierig. Ich konnte es zunächst nicht. Gleichzeitig siehst du, dass neben dir Menschen getötet werden, und du erkennst, dass wenn du nicht schießt, die dich erschießen. Am Anfang kannst du danach nicht schlafen und hast Albträume. Aber dann passiert es so häufig, dass du es als normal betrachtest.

    Heinemann: "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk, ein Interview mit Ishmael Beah, Autor des Buchs "Rückkehr ins Leben. Ich war Kindersoldat". Sie haben geschrieben, dass Sie zunächst wütend waren, die Gruppe verlassen zu müssen.

    Beah: Die Leute stellen sich vor, dass ein Kind, das aus einer Kriegssituation herausgeholt wird, sofort glücklich und zufrieden ist. In meinem Fall war das nicht so. Man gewöhnt sich daran, in bestimmter Weise zu funktionieren. Krieg, Gewalt. Und damals als junger Mensch in Sierra Leone einer militärischen Gruppe anzugehören, war die Garantie für eine gewisse Machtfülle und dafür, am Leben zu bleiben. Wenn das alles weg ist, spürst du die Folgen. Jeder kann dich jetzt töten. Diese Gruppe war zu meiner Familie geworden 7und ich fühlte mich nun von meiner Familie getrennt und von dem, was ich kannte und anzunehmen gelernt hatte.

    Heinemann: Wie haben Sie Menschlichkeit wieder gelernt?

    Beah: Das hat viele Jahre gedauert und fand statt dank mehrerer außergewöhnlicher Menschen, die in diesem Rehabilitierungslager in Sierra Leone gearbeitet haben, und später in meiner Pflegefamilie hier in den USA. Es war sehr schwierig, denn auf einmal hast du die Zeit, über das nachzudenken, was geschehen ist. Du stehst nicht mehr unter Drogen. Du musst für den Rest deines Lebens lernen, mit diesen Bildern und Erlebnissen zu leben.

    Heinemann: Haben Sie heute noch Albträume, oder kommt das Erlebte ins Bewusstsein zurück?

    Beah: Ja, aber nicht mehr so häufig wie damals, als ich aus dem Krieg herauskam.

    Heinemann: Wie kann man während der Rehabilitierungsphase verhindern, dass Kinder in den Kreislauf von Konflikt und Gewalt zurückkehren?

    Beah: Ein Weg, um Rückfall zu verhindern, besteht darin, dass man sie nachhaltig betreut. Die Arbeit in den Reha-Zentren ist großartig, aber wenn die Kinder herauskommen, was passiert dann? Wenn sie in Schulen sind, benötigen sie eine Nachbetreuung. Mehrere meiner Kameraden kamen in Pflegefamilien und diese Familien haben sie nicht gut behandelt. Sie sind in den Krieg zurückgekehrt, denn sie glaubten, das sei das Einzige, was sie tun könnten. Der Anteil der Reintegration muss stärker im Mittelpunkt stehen.

    Heinemann: Herr Beah, es gibt Berichte über Ungenauigkeiten in Ihrem Buch. Wie reagieren Sie darauf?

    Beah: Einige Beanstandungen sind inzwischen widerlegt. Ich verstehe das, ehrlich gesagt, nicht. Ich habe bemerkt, dass es Widerstände gibt gegen Leute wie mich, mit meinem Hintergrund. Man traut mir nicht zu, dass ich das tue, was ich mache, ein Buch zu schreiben, ordentlich zu leben. Wenn man ein Buch schreibt, werden die Fakten vorher überprüft, und wenn man einen Auszug dieses Buches im "Time Magazine" veröffentlicht, geschieht das ebenfalls. Als ich vor dem Krieg davonlief, dachte ich stets, ich würde den nächsten Tag nicht überleben. Ich war kein Journalist, der Ereignisse aufzeichnet. Ich habe keine physischen Beweise für vieles, außer den Personen, die mit mir dort lebten. Meiner Meinung nach war diese Kritik Unsinn.