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"Wir waren in Pakistan als Erste vor Ort"

Die Flutkatastrophe in Pakistan hat verheerende Folgen für das Land. Kristalina Georgieva, EU-Kommissarin für humanitäre Hilfe und Krisenreaktion, unterstreicht den schnellen Nothhilfeeinsatz der EU und die Wichtigkeit der Aufbauhilfe.

Kristalina Georgieva im Gespräch mit Rolf Clement |
    Christoph Heinemann: Nach den schweren Überschwemmungen in Pakistan sind laut einer neuen Schätzung der UNO mindestens zehn Millionen Menschen obdachlos geworden. Das sind doppelt so viele wie bislang angenommen. Die Katastrophe gilt als eine der schlimmsten humanitären Krisen in der Geschichte der Vereinten Nationen. Für die Vereinten Nationen hat auch die Hollywood-Schauspielerin Angelina Jolie jetzt Pakistan bereist. Das mögen manche für Show halten, aber ihre Appelle werden für mehr Spenden sorgen.

    Wir bleiben bei der Lage in Pakistan. Neben der Soforthilfe für die Flüchtlinge stellt sich die bange Frage: wovon sollen die Menschen in den nächsten Monaten leben, denn fast eine komplette Ernte ist vernichtet. Hilfe von außen ist also dringend nötig, auch aus Europa. So sieht es Kristalina Georgieva, die EU-Kommissarin für humanitäre Hilfe. Mein Kollege Rolf Clement hat mit der Bulgarin gestern sprechen können.

    Rolf Clement: Frau Georgieva, Sie waren in Pakistan, haben dort die Katastrophengebiete angeguckt. Was sind Ihre Haupteindrücke?

    Kristalina Georgieva: Es ist eine Naturkatastrophe unvorstellbaren Ausmaßes. Es sind im Grunde zwei Katastrophen, die in einer gemeinsam erfolgen. Im Norden des Landes sind mehr als drei Millionen betroffen, die aufgrund der Konflikte als Binnenflüchtlinge anzusehen sind. Sie hatten sich gerade wieder eine Lebensgrundlage und ihre Behausungen errichtet; die sind jetzt weggeschwemmt worden. Im Süden, wo das Herz der Landwirtschaft Pakistans ist, haben die Menschen alles verloren: Vieh, Ernteerträge und Häuser. Aber nicht nur das, sondern sie haben auch die Hoffnung verloren, bei der nächsten Ernte wieder Erträge einzufahren. Das wird Auswirkungen haben auf die Lebensmittelpreise und sehr viele arme Kleinbauern werden ihrer Existenzgrundlage beraubt sein. Dieses umfassende Geschehen verlangt von uns eine ebenso kraftvolle Reaktion. Wir, die Weltgemeinschaft, sind gefordert. Unsere Bürger in der EU können stolz sein auf das, was bisher geleistet worden ist. Wir haben 231 Millionen Euro bisher beigesteuert, zusammen, nämlich die Kommission und die Mitgliedsstaaten, wobei Deutschland eines der großzügigsten Geberländer war. Darüber hinaus haben wir zwölf Mitgliedsstaaten zu Materiallieferungen angeregt. Es handelt sich hier um Wasserklärungsanlagen, um mobile Krankenhäuser, um Baumaterial. Dies alles trägt dazu bei. Wir stehen also ganz in vorderster Front, wenn es darum geht, Pakistan zu helfen.

    Clement: Was sind die nächsten Aufgaben in Pakistan?

    Georgieva: Wir müssen unsere humanitäre Katastrophenhilfe fortführen, und zwar deswegen, weil von den 20 Millionen betroffenen Menschen zwölf Millionen wirklich auf dringende Hilfe angewiesen sind. Von diesen zwölf Millionen glauben wir, dass wir bis Ende September etwa die Hälfte, also sechs Millionen Menschen, werden versorgt haben. 800.000 Menschen sind in schwer zugänglichen Gegenden. Sie sind besonders dringend auf unsere Hilfe angewiesen. Die humanitäre Notfallhilfe wird also weiter ein Hauptaugenmerk sein.

    Darüber hinaus aber gilt es, in dem Maße, wie die Fluten zurückweichen, jetzt längerfristig zu denken. Die landwirtschaftlich genutzten Gebiete brauchen Saatgut, sie brauchen landwirtschaftliches Gerät und sie brauchen vor allem Hilfe beim Wiederaufbau der verbindenden Infrastruktur, also zum Beispiel Brücken über den Indus, so dass man den Bauern helfen kann und dass die Bauern auch ihre Märkte erreichen können. Längerfristig geht es also um diesen massiven Wiederaufbau des Landes, jedoch nicht einfach so, dass man den früheren Zustand wieder herstellt, denn viele Menschen sind an Stellen gesidelt, die ihnen eigentlich gar nicht zukommen, sie sollten dort nicht siedeln. Wir müssen also den Wiederaufbau so bewerkstelligen, dass Pakistan gegenüber dem Klimawandel besser geschützt ist.

    Clement: Wir erleben in unseren Ländern immer die Hilfe der eigenen Länder, nehmen die EU aber kaum wahr. Woran liegt das denn nach Ihrer Meinung?

    Georgieva: Die EU war die erste Organisation, die mit Notfallhilfe in Pakistan vor Ort war, und mit EU meine ich natürlich die Kommission und die Mitgliedsländer. Und hier muss ich das wirklich klarstellen: Wir müssen wirklich unseren gemeinsamen Beitrag herausstellen. Wir, die Menschen, sprechen oft nur von unserem eigenen Beitrag. Es gilt aber, eben diese Hilfe als Gemeinschaftsleistung der EU und der Mitgliedsstaaten herauszustellen, und ich werde als die Kommissarin für humanitäre Hilfe und Krisenreaktion alles daran setzen, dass dies richtig ins Bewusstsein gerückt wird. Wir waren in Pakistan die ersten und Sie also, die Menschen und die Mitgliedsländer aus Europa, sind hier auch richtig zu erwähnen. Ich stehe ja auch gegenüber den Steuerzahlern Europas in der Pflicht und ich werde alles dafür tun, dass dieser Beitrag auch sichtbar wird, mehr als in der Vergangenheit. Dass diese Katastrophe derart verheerende Auswirkungen haben würde, wurde doch recht bald klar. Es war eindeutig erkennbar gegen Ende Juli. Die EU war am 31. Juli bereits mit der Zuweisung von 30 Millionen Euro Notfallhilfe vor Ort, zunächst einmal im Norden, wo die Überschwemmung begann, zugewiesen. Wir waren die ersten, die das gemacht haben. Diese Hilfe sollte auch in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Derjenige, der es leistet, sollte dann auch dafür die Anerkennung erfahren, und ich danke Ihnen, dass Sie mir hier im Radio eine Möglichkeit geben, genau diesen Beitrag gebührend herauszustellen.

    Clement: Brauchen Sie in der EU eigene Ressourcen, mehr eigene Kräfte, die Sie sofort einsetzen können?

    Georgieva: Wir haben durchaus in der EU Mittel von Seiten der Mitgliedsstaaten. Wir haben all diese Vorräte, diese zurückgelegten Notfallmittel, und wir haben zusätzlich die Koordinationsstelle der Kommission. Wir müssen nun noch die Fähigkeiten verstärken, all diese Mittel auch vor Ort dann zur Geltung zu bringen, und hier ist es erforderlich, dass wir uns besser auf mögliche Szenarien einstellen, welche Art von Unglücksfällen kann geschehen, so dass wir dann unsere Mittel besser zur Verfügung stellen können, wenn ein solches verheerendes Unglück geschieht. Was sind die Verkehrs- und Logistikwege, so dass wir unsere Mittel rasch vor Ort zum Einsatz bringen können. Mit diesem Ansatz, so meine ich, werden wir innerhalb der EU unsere Fähigkeiten rasch und wirksam anwenden können, und ich habe gerade während dieser Konferenz von deutscher Seite dafür auch kraftvolle Unterstützung bekommen. Ich glaube, mit diesem Konzept können wir als EU wirklich unsere Notfallhilfe leisten, sofern sie erforderlich wird.

    Heinemann: Unser Kollege Rolf Clement sprach mit der EU-Kommissarin für humanitäre Hilfe, mit Kristalina Georgieva, über die Hilfe für die Menschen in Pakistan.