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"Wir wollen gemeinsam neue Dinge aufbauen"

Mit Blick auf das umstrittene Urheberrechtsabkommen ACTA hat sich Wikipedia-Gründer Jimmy Wales gegen eine Überregulierung des Internets ausgesprochen. "Es ist sehr wichtig, dass wir das Internet nicht abriegeln, nur um die spezifischen Interessen bestimmter Industrien zu verteidigen", betonte Wales.

Mit Christian Schiffer | 08.03.2012
    Christian Schiffer: Jimmy Wales, in Deutschland hier wird seit einiger Zeit sehr kontrovers über das Urheberrechtsabkommen ACTA diskutiert. Wikipedia hat sich ja auch sehr stark gegen dieses Urheberrechtsabkommen engagiert. Warum denn?

    Jimmy Wales: Uns ist ein freies und offenes Internet sehr wichtig. Wir sind nicht für Internetpiraterie, aber wir sind gegen Gesetze, die Communitys wie uns die Arbeit erschweren. Wir wollen ja gemeinsam neue Dinge aufbauen, die vielleicht noch gar nicht erfunden sind. Es ist also sehr wichtig, dass wir das Internet nicht abriegeln, nur um die spezifischen Interessen bestimmter Industrien zu verteidigen.

    Schiffer: Sie haben wahrscheinlich auch die Übersicht, wie das in den verschiedenen Ländern diskutiert wird, weil Ihnen die Leute von Wikipedia aus den verschiedenen Ländern darüber Rückmeldung geben. Gibt es da Unterschiede zwischen Europa und den USA?

    Wales: Natürlich gibt es auf der Welt viele kulturelle Unterschiede, wenn es um Zensur geht. Und natürlich reagiert jede Kultur empfindlich auf andere Dinge. Aber alles in allem gibt es doch einen breiten Konsens, etwa wenn es um grundlegende Menschenrechte wie die Meinungsfreiheit geht. Das betrifft auch das Internet: Es besteht große Einigkeit darüber, dass die Infrastruktur des Netzes so gestaltet sein muss, dass gewöhnliche Leute Dinge erschaffen und teilen können. Es gibt kaum jemanden, der das infrage stellt. Auch diejenigen, die für ACTA und all diese Gesetze sind, betonen immer wieder, dass sie weder Wikipedia noch Youtube noch all die anderen großartigen Dinge zerstören möchten. Da sagen wir natürlich: Das ist gut! Aber lasst uns das weniger tollpatschig angehen.

    Schiffer: Wikipedia basiert ja auf dem Prinzip, dass Wissen und Informationen geteilt werden. Welche Chancen hat denn dieses Prinzip und wo sind vielleicht auch Probleme?

    Wales: Eines wissen wir ganz bestimmt: Wikipedia wird nie frei von Fehlern sein. Und das, obwohl unsere Community sehr leidenschaftlich nach Fehlern sucht, sie korrigiert und versucht zu verhindern. Aber wir haben gar nicht das Ziel perfekt zu sein. Keine Quelle wird jemals perfekt sein. Für uns geht es darum, stetig die Qualität zu verbessern. Und unserer Erfahrung nach ist es dabei am besten, auf Offenheit und Beteiligung zu setzen.

    Schiffer: In der deutschen Wikipedia gibt es einen Artikel, das ist mein Lieblingsartikel und zwar zum Thema "Pizzakarton". Da wird die ganze Geschichte des Pizzakartons erklärt, wie der produziert wird, wo er in der Kunst eingesetzt wird und so weiter. Aber es gibt in Deutschland auch eine große Diskussion darüber, welche Artikel überhaupt relevant sind. Also es sagen Viele, dass Artikel wie zum Beispiel der über den Pizzakarton eben nichts zu suchen haben in einer Enzyklopädie.


    Wales: Das ist eine sehr interessante Frage und wir führen diese Diskussion in allen Sprachversionen bei Wikipedia. Auch hier gibt es verschiedene Traditionen, was aufgenommen werden soll und was nicht. Vor ein paar Jahren gab es eine große Diskussion über Pokemon. In der englischen Wikipedia hatten wir einen Eintrag für jede einzelne Pokemon-Karte und von denen gibt es ja Hunderte. Dagegen gab es in der deutschen Wikipedia gerade einmal einen einzigen Artikel zu Pokemon. Mittlerweile haben das die Pokemon-Fans wahrscheinlich schon geändert und es gibt jetzt auch einen Haufen Pokemon-Artikel auf Deutsch.

    Für mich geht es um Folgendes: Wir reden sehr oft über Relevanz. Aber Relevanz ist ein sehr vager und moralisierender Begriff. Ist das wichtig genug, um bei Wikipedia zu erscheinen? Das ist eine falsche Frage, die man nie richtig beantworten kann. Mir geht es stattdessen um Nachprüfbarkeit. Können wir alle Informationen durch erstklassige Quellen belegen? Wenn dem so ist, sollte man es bei Wikipedia aufnehmen. Wenn es nicht zu belegen ist, sollte man es draußen lassen. Ich könnte sicher eine tolle Biografie über meine Großmutter schreiben. Aber sie ist keine berühmte Person, man wird keine vernünftigen Quellen finden, es ist halt eine ganz nette Familiengeschichte, mehr nicht. Meine Oma wird man wohl nie bei Wikipedia finden, weil niemand nachprüfen kann, ob ich die Wahrheit sage. Auf der anderen Seite gibt es viele Themen, die trivial erscheinen, über die es aber viel Literatur gibt und nachprüfbare Fakten gibt. Warum soll dann nicht jemand einen qualitativ hochwertigen Artikel zu "Pizzakarton" schreiben? Manche finden das dumm, aber das ist doch völlig ok, das tut ja niemandem weh!

    Schiffer: Gut, aber ein Problem bleibt natürlich, nämlich, dass es immer mehr Artikel gibt, aber die Anzahl an Wikipedia-Aktiven gleich bleibt, manchmal sogar zurückgeht. Das ist ein Problem, weil immer mehr Artikel, das bedeutet ja auch, dass man mehr Artikel betreuen muss, verwalten muss, verändern muss und so weiter.

    Wales: Ja klar! Wenn wir etwas über einen Promi aus der Castingshow X-Faktor oder aus dem Eurovision Song Contest drin haben, der 2003-mal bekannt war und von dem man seit dem nie wieder gehört hat, ist der Artikel meist nicht mehr aktuell. Wie wir mit so etwas umgehen sollen, ist eine spannende Frage. Wir müssen das beobachten und irgendwann entscheiden: Oh, das ist ein alter Artikel, aber er ist immer noch in Ordnung! Oder: hm, vielleicht müssen wir uns von altem Material trennen. Diese Fragen müssen wir ehrlich beantworten, ohne eine vorgefasste Meinung. Entscheidend muss aber sein, dass Wikipedia besser wird.

    Schiffer: Ein anderes Problem, dass immer wieder angesprochen wird, ist die soziokulturelle Zusammensetzung der Autoren. Die meisten Wikipedianer sind Männer, sie haben oft einen technischen Background, sie haben eine spezielle Alterszusammensetzung, sind also relativ jung. Ist es nicht ein Problem, wenn die Leute, die dieses Weltwissen verwalten, sich ziemlich ähnlich sind?

    Wales: Ja, das ist ein Problem. Es gibt sehr viele Gründe für dieses Problem. Für manche können wir etwas, für manche nicht. Ein Grund für die spezielle Demografie unserer Community ist, dass es oft ein sehr technischer Vorgang ist, etwas bei Wikipedia zu verändern. Damit möchte ich nicht sagen, dass Frauen nicht mit dem Computer umgehen können. Was ich aber sagen will: Viele Menschen können nicht mit dem Computer umgehen. Nehmen wir nur mal meinen Vater: Das ist ein älterer Herr, der sich sehr für 60er-Jahre-Muscle-Cars interessiert, amerikanische Autos mit dicken Motoren, alte Corvettes und so. Das ist sein Hobby, er liebt das, aber er würde darüber nie etwas bei Wikipedia schreiben, er ist nicht im Computerzeitalter groß geworden. Wer sich dagegen sehr gut mit Computern auskennt, das sind natürlich die Computergeeks. Wir können nichts dafür, aber: Es handelt sich hier meist um junge Männer. Deswegen wollen wir Wikipedia einfacher machen, die Steuerung soll simpler werden, sodass sie jeder benutzen kann. Wir haben da große Fortschritte erzielt und die Wikipedia-Foundation investiert hier sehr viel Geld. In Zukunft wird man also kein Wiki-Text-Spezialist mehr sein müssen, um Wissen über alte Autos beizutragen.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.