Donnerstag, 18. April 2024

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"Wir wollen keine Weltpolizei"

Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger sagt, dass die NATO ihre Schutzverantwortung für das libysche Volk mit einer neuen operativen Qualität wahrnimmt. Er sieht darin eine Weiterentwicklung des Völkerrechts.

Wolfgang Ischinger im Gespräch mit Jürgen Liminski | 18.04.2011
    Jürgen Liminski: Mitgehört hat Wolfgang Ischinger, früherer Spitzendiplomat und heute Chef der Münchner Sicherheitskonferenz. Guten Morgen, Herr Ischinger.

    Wolfgang Ischinger: Guten Morgen, Herr Liminski.

    Liminski: Herr Ischinger, die Lage in Misrata wird dramatisch. Auch Bengasi ist wieder bedroht. Was kann die NATO tun, um die Bevölkerung zu schützen gemäß der Revolution 1973 und um eben diese Verletzung der Menschenrechte zu unterbinden?

    Ischinger: Die NATO exekutiert oder hilft zu exekutieren ein Mandat der Vereinten Nationen. Das beschränkt das militärische Eingreifen auf das Angreifen, das Tätigwerden aus der Luft. Es erlaubt nicht – das ist ja nun in den letzten Wochen intensiv diskutiert worden -, es erlaubt nicht etwa den Einsatz von Bodentruppen beziehungsweise die Besetzung Libyens durch fremde Truppen. Das ist natürlich ein selbst auferlegtes, von der internationalen Gemeinschaft sich selbst auferlegtes Handikap im Umgang mit einem solchen Diktator.

    Für mich hat das ganze den Charakter eines Déjà-vu, also man hat das alles schon mal erlebt. Ich fühle mich massiv erinnert an die Vorgänge vor jetzt genau zwölf Jahren, im Frühjahr 1999, als die Regierung Milosevic in Serbien mit ähnlichen Finten und Schlichen und Täuschungsversuchen und Versteckspielen es der NATO sehr, sehr schwer machte, aus der Luft effektiv Schaden unter den serbischen Militärverbänden anzurichten. Es ist eben relativ einfach, sich zu verstecken, wenn der Gegner, in diesem Fall die NATO, auf die Luft beschränkt ist. Das ist ein Handikap, das war aber allen vorher bekannt.

    Liminski: Die Totalität dieses Krieges nun bestärkt die Aufständischen in ihrer unversöhnlichen Haltung gegenüber dem Diktator und eine politische Lösung, wie Moskau sie anstrebt, ist auch in weite Ferne gerückt. Auch die NATO fühlt sich offenbar in ihrer Haltung bestätigt und legt sogar noch eins drauf. Nicht nur die Resolution der UNO, die den Schutz der Bevölkerung vorsieht, soll massiv angewandt, sondern das Regime selbst soll gestürzt werden. Generalsekretär Rasmussen formulierte das in einem Interview mit dem Deutschlandfunk so:

    O-Ton Anders Fogh Rasmussen: Ja, in der Tat. Das Spiel ist aus. Die Zeit für Gaddafi und sein Regime ist abgelaufen. Er muss die Macht abgeben.

    Liminski: Wenn das der Generalsekretär der NATO sagt, dann ist das eine neue Dimension des Einsatzes auch für die NATO, nicht mehr Schutz, sondern auch Sturz des Regimes. Was kann die NATO tun, um Gaddafi zu stürzen?

    Ischinger: Also ich denke, der NATO-Generalsekretär reflektiert mit diesen Bemerkungen eine inzwischen mehrfach bekräftigte Haltung sowohl der 28 NATO-Mitgliedsstaaten wie der Europäischen Union, die insbesondere auch der sogenannten Libyen-Kontaktgruppe, die sich ja vor etlichen Tagen in Doha getroffen hatte. In der Erklärung von Doha findet sich der Ruf, ich sage es mal salopp, "Weg mit Gaddafi", genauso wie in der Erklärung von EU und NATO. Insoweit wiederholt der Generalsekretär eine inzwischen weit verbreitete Überzeugung, mit Gaddafi kann es nicht weitergehen.

    Das Problem ist, dass die militärischen Möglichkeiten des Bündnisses, wie vorhin schon gesagt, auf den Schutz der Zivilbevölkerung beschränkt sind. Das heißt, es klafft eine Lücke zwischen den Möglichkeiten des Bündnisses, zwischen den Möglichkeiten der Bündnispartner und dem politischen Ziel. Hier kann man nur hoffen, dass die anderen Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft, die also nicht die militärischen Maßnahmen der NATO sind, umfassende Sanktionsmaßnahmen, Entzug der Konten, Sperrung der Konten, Einfrieren der Gelder, das System, ich sage es noch mal etwas salopp, in der Weise weich kochen, dass Gaddafi doch hoffentlich eher kürzer als länger aufgibt.

    Liminski: Aber wenn die NATO Schutzfunktionen übernimmt in einem Bürgerkrieg, dann positioniert sie sich auch inhaltlich, in diesem Fall für die Sache der Freiheit und der Menschenrechte. Beginnt hier nicht eine Entwicklung der NATO in Richtung, sagen wir mal, Weltpolizei?

    Ischinger: Also das hat zumindest das strategische Konzept des Bündnisses – das ist ja erst vor wenigen Monaten, im November letzten Jahres, neu formuliert und von allen Partnern mitgetragen worden – so nicht vorgesehen. Also wir wollen keine Weltpolizei. Ich denke, was hier aber passiert und passiert ist durch die Entscheidung der Vereinten Nationen, des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, ist, dass dem Gedanken der Schutzverantwortung – auf Englisch nennt man das die "Responsibility to Protect" – eine operative Qualität zugekommen ist.

    Das heißt, das Bündnis hilft dabei im Sinne dieser Entschließung der Vereinten Nationen, diesem Gedanken der Schutzverantwortung operative Bedeutung zuzumessen. Das wäre, wenn sich das so bestätigt, eine Weiterentwicklung des Völkerrechts, denn es wird dadurch der alt bekannte Gedanke der territorialen Integrität der Nationalstaaten eingeschränkt. Das ist interessant und aus meiner Sicht auch wichtig.

    Das heißt aber natürlich nicht, Herr Liminski, und das ist der entscheidende Punkt, das heißt natürlich nicht, dass die NATO oder dass wir überall auf der Welt eingreifen müssen, wo Menschenrechte im Einzelfall oder massivst verletzt werden. Wir sollten nach diesen Überlegungen, nach diesen neuen völkerrechtlichen Grundsätzen dort eingreifen, wo wir a) dies können und wo das Eingreifen b) mit unseren eigenen nationalen Interessen in Einklang zu bringen ist. Das ist aus der Sicht der NATO-Partner, jedenfalls der großen Mehrheit der NATO-Partner in diesem Fall tatsächlich der Fall gewesen.

    Liminski: Also keine Weltpolizei. Aber wo ist denn die Grenze schützender operativer Einsätze? Wird die von der UNO vorgegeben oder auch nicht, wenn einer der fünf großen das nicht wünscht?

    Ischinger: Die Mandatierung solcher militärischer Einsätze erfolgt in der Tat in aller Regel durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Insoweit kann jeder der großen Fünf einen solchen Einsatz verhindern. Und Sie haben ja in den letzten Tagen gesehen, wie skeptisch die russische Regierung, die sich in New York seinerzeit enthalten hatte, genauso wie die chinesische Regierung, wie skeptisch die russische Regierung schon das gegenwärtige Vorgehen des Bündnisses bewertet. Man behauptet oder man unterstellt, dass die militärischen Angriffe der NATO aus der Luft schon über dieses Ziel des Schutzes der Zivilbevölkerung hinausgehen.

    Also ich glaube, es ist nicht zu befürchten, dass sich hier sozusagen ein weltpolizeiliches allgemeines Interventionsrecht entwickelt. Da stehen sicherlich Russland, China und auch einige andere Mitglieder des Sicherheitsrates vor. Ich denke, wir werden das in Einzelfällen immer wieder einmal erleben, und das halte ich in der Tat eigentlich für einen Fortschritt in der Entwicklung der zivilisierten globalisierten Gesellschaft, wenn wir in der Lage sind, blutrünstigen Diktatoren, die ihr eigenes Volk in einer solchen Weise angreifen und abschlachten, das Handwerk zu legen.

    Liminski: Der Libyen-Feldzug oder –Einsatz hat auch zu einer Neuauflage der Entente cordiale zwischen Großbritannien und Frankreich geführt. Ist Deutschland jetzt marginalisiert?

    Ischinger: Na ja, nein! Aber natürlich gehört die Bundesrepublik Deutschland dadurch, dass sie hier nicht in erster Linie militärisch mitspielt, nicht zu den … - sie spielt sozusagen nicht vorne im Sturm mit. Man muss allerdings dazu sagen, dass die Bundesrepublik Deutschland hier ja keineswegs im Bündnis alleine ist. Nur gut die Hälfte der Bündnispartner engagieren sich direkt in diesem Konflikt. Andere machen es so wie die Bundesrepublik Deutschland, sie helfen im Hintergrund mit. Wir haben ja stattdessen Entlastung für die Partner in Afghanistan gebracht.

    Ich denke aber, die Bundesrepublik Deutschland kann durchaus in der weiteren Entwicklung dieser Krise wieder vorne mitspielen, salopp ausgedrückt, wenn sie sich an der Ausarbeitung eines früher oder später zwangsläufig notwendigen politischen Friedensplans beteiligt.

    Wir haben im Augenblick Krieg, das ist anscheinend in dieser Form notwendig, aber es ging nicht anders, um das Gemetzel, das drohende Gemetzel in Bengasi zu verhindern. Es wird irgendwann, hoffentlich in wenigen Tagen oder Wochen, zu einer Lösung kommen müssen, bei der humanitäre, politische, militärische, wirtschaftliche und andere Elemente sich zusammenfügen müssen zu einem Friedensplan. Da kann Deutschland mitwirken, das haben wir auch '99 im Kosovo getan. Der damals von den Vereinten Nationen akzeptierte Friedensplan wurde in Berlin, nämlich im deutschen Auswärtigen Amt, entwickelt. Also das können wir Deutschen eigentlich ganz gut.

    Liminski: Weiterentwicklung des Völkerrechts, aber der NATO-Einsatz bleibt im Rahmen der Resolution 1973, sagt hier im Deutschlandfunk der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger. Besten Dank für das Gespräch, Herr Ischinger.

    Ischinger: Danke Ihnen sehr, Herr Liminski. Auf Wiederhören.