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Wirtschaft
Wenn Ökonomie die Politik beherrscht

Philip Roscoe lehrt an der School of Management im schottischen St. Andrews und hat sich mit dem ökonomischen Leitbild seiner eigenen Zunft auseinandergesetzt. "Rechnet sich das?" fragt er im Titel seiner Abhandlung, die jetzt auf Deutsch erschienen ist. Seine These: Ökonomisches Denken macht unsere Gesellschaft ärmer.

Von Günter Rohleder | 15.09.2014
    Auch in der Wissenschaft muss es Whistleblower geben, Eingeweihte, die unerschrocken und respektlos die Irrwege ihres eigenen Fachgebiets ausleuchten. Der Management-Experte Philip Roscoe hat ein Buch geschrieben, das nicht viel Gutes lässt an der herrschenden Ökonomie und ihren Lehrsätzen.
    Die Ökonomie beherrsche die Politik, schreibt der Autor. Zum Beispiel in Europa:
    "In Europa machen die Nationen, die noch zahlungsfähig sind, Wirtschaftstechnokraten zum Staatsoberhaupt, Manager, deren Aufgabe darin besteht, den Bevölkerungen harte Sanktionen und strenge Sparmaßnahmen aufzuerlegen - als hätten sie sich schlecht benommen und müssten bestraft werden. Auf den Straßen herrscht Aufruhr, in den Krankenhäusern Mangel. Wären die Militäraktionen eines despotischen Regimes für diese Folgen verantwortlich, würden in globalen Versammlungen harsche Worte fallen, und man würde Soldaten entsenden. Wenn die Wirtschaftspolitik das fordert, ist Leid erlaubt - eine bittere Medizin, die aber eingenommen werden muss. In der Blase, die der Krise vorausging, sind ökonomische Modelle, Theorien und sogar Ideen unsere Vertreter im Parlament geworden, und das wird auch in den schweren Zeiten, die ihr folgen müssen, so bleiben."
    Wenn die Ökonomie als Sachzwang behandelt wird, erscheinen die abgeleiteten politischen Strategien alternativlos.
    Und für Philip Roscoe ist die Herrschaft der Ökonomie nicht auf die Politik beschränkt.
    Der Autor unternimmt einen Streifzug durch die klassische und neoklassische Wirtschaftslehre, von Adam Smith über die Grenznutzentheoretiker bis zum Neoliberalismus von Milton Friedman und seinen Adepten. Eindrücklich beschreibt Roscoe den totalitären Anspruch der neoliberalen Denkschule: Man schrecke nicht einmal davor zurück, die Preiselastizität für menschliche Organe zu berechnen.
    Aber so sehr die herrschende Ökonomie seit Adam Smith auf das bare Kalkül eines von Eigennutz getriebenen Individuums setzt, hält sie mit der unsichtbaren Hand des Marktes nicht auch das Ganze im Blick? Philip Roscoe:
    "Durch die unsichtbare Hand übersetzt die Ökonomie private Laster in öffentliche Tugenden, das Eigeninteresse in das Interesse am Gemeinwohl. Daraus folgt, dass man, wenn man das Gemeinwohl maximieren will, das private Eigeninteresse mit so viel Nachdruck und Energie wie möglich verfolgen muss."
    Von der Geschäftigkeit der am Markt konkurrierenden einzelnen profitierten letztlich alle, behauptet die reine Lehre. Aber das sei ein Trugschluss, meint der Autor.
    Die Ausbeutung von Mensch und Natur findet in der Preisbildung keinen Ausdruck. Und auf die Fragen nach sozialer Gerechtigkeit und nach dem guten Leben gebe die Ökonomie keine Antwort. Im Gegenteil:
    "Die Ökonomie macht die Welt, die sie beschreibt."
    stellt der Autor fest. Und indem wir das ökonomische Denken verinnerlichen, werden wir, so Roscoe, genau zu den Wesen, auf die sich die ökonomische Theorie beruft. Wie in einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung bestätigen wir so das falsche Menschenbild der Ökonomie.
    "Wir Menschen unterscheiden uns von anderen Lebewesen nicht dadurch, dass wir tauschen und handeln. Wir unterscheiden uns vielmehr dadurch von ihnen, dass wir andere als Personen behandeln können, dass wir die Fähigkeit haben, Empathie füreinander zu empfinden, uns einander zu verpflichten und uns gegenseitig zu verstehen und Beziehungen aufzubauen, die stark für beide Seiten nährend sind. Durch die systematische Betonung des Eigeninteresses hat die Ökonomie unsere Fähigkeit zerstört, Beziehungen einzugehen. In einem Zeitalter mit noch nie dagewesenem Wohlstand sind wir unglücklicher als je zuvor. Das sind die wahren Kosten der Ökonomie."
    Wie konnte die Ökonomie so stark werden? - fragt Roscoe.
    "Durch die Dinge, die wir besitzen und benutzen."
    ist seine Antwort. Aber wenn der Autor gegen Ende seines Buches die Verführungskraft der Dinge ins Zentrum seiner Argumentation rückt, sind wir im realen Wirtschaftsprozess angekommen. Und beim Leser stellt sich Verwirrung ein. Ist das Thema seines Essays nicht, den Einfluss der herrschenden Theorie zu entlarven? Und an zahlreichen Beispielen gelingt es ihm ja auch, plastisch zu machen, wie die Modellbauer der Wirtschaftsfakultäten am Menschenbild mitbasteln. Aber ist die Theorie allein mächtig genug, einen Homo oeconomicus zu erzeugen? Mit dem Rückgriff auf die stumme Macht der Dinge offenbart der Autor seinen eigenen Zweifel daran und gleichzeitig eine Schwäche des Buches: Die neoliberale Theorie lässt sich schwer kritisieren, ohne den kapitalistischen Unterbau einzubeziehen.
    Auch die Schlussfolgerungen, die der Autor am Ende zieht, hängen etwas in der Luft: Roscoe ruft dazu auf, eine Ökonomie zu entwickeln, die nicht auf Effizienz, sondern auf das Gedeihen der Menschheit gerichtet ist. Und aus bestimmten Terrains, so Roscoe, sollten wir die Ökonomie ganz heraushalten:
    "Vielleicht sollten wir die Ökonomie manchmal ganz aufgeben. Die Liebe und die Fürsorge sollten wir nicht ökonomisieren, nicht einmal die Kunst. Altruismus und bürgerliche Tugend, Liebe und Fürsorge wachsen durch die Praxis und sind keine knappen Güter, bei denen man sparen müsste."
    Bemerkenswert ist, wie radikal der Hochschullehrer für Management, Philip Roscoe, mit seinem Essay unsere Geschäftsroutinen und damit die Leitlinien seiner eigenen Denkschule in Frage stellt.
    Sehr ärgerlich allerdings ist die deutsche Übersetzung. Sie ist fehlerhaft und bleibt immer wieder buchstäblich im Englischen hängen: 'Self-interest' wird mit 'Selbstinteresse' statt mit Eigennutz oder Eigeninteresse wiedergegeben. Statt 'Geschäfte gemacht', werden 'Transaktionen durchgeführt'. Wo bleibt das Lektorat?
    Anmerkung der Redaktion: Günter Rohleder hat für seine Rezension bereits einige Passagen etwas passender übersetzt.
    Philip Roscoe: "Rechnet sich das? Wie ökonomisches Denken unsere Gesellschaft ärmer macht"
    Übersetzung: Ingrid Proß-Gill. Carl Hanser Verlag. 316 Seiten. 21,90 Euro
    ISBN: 978-3-446-44037-1