Simon: Seit drei Jahren gilt Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und den 15 Altländern der Europäischen Union. Schweizer dürfen seither in Ländern der Europäischen Union arbeiten, dasselbe gilt umgekehrt für EU-Bürger. Aber, wie gesagt, nur für die aus den alten 15 EU-Ländern. Bürger aus Ländern wie Estland, Ungarn oder Zypern, also aus den zehn neuen Ländern, genießen diese Personenfreizügigkeit nicht. Das soll jetzt mit einem entsprechenden Schweizer Gesetz nachgeholt werden, aber davor – so ist das in der Schweiz – gibt es erst mal eine Volksabstimmung. In zehn Tagen entscheiden die Schweizer, ob sie den neuen EU-Bürgern dieselben Rechte einräumen wollen wie den alten EU-Bürgern. Das wiederum empfinden viele in den neuen EU-Ländern und auch in Brüssel als Zumutung, frei nach dem Motto, wie kommt die Schweiz dazu, sich auszusuchen, welche EU-Bürger im Land arbeiten dürfen und welche nicht? Am Telefon ist jetzt Stefan Flückiger. Er arbeitet beim Schweizer Think Tank Avenir Suisse in Zürich. Diese Einrichtung wird vor allem von der Schweizer Wirtschaft getragen. Herr Flückiger, wie kann das sein, ein solches Referendum, wo die Schweiz aussucht, welche EU-Bürger sie gerne haben möchte?
Flückiger: Man muss vielleicht erst in Erinnerung rufen, das politische System ist in der Schweiz etwas anders aufgebaut. Wahrscheinlich in keinem anderen Land der Welt haben die Bürger ähnliche Mittel, direkt auf die laufenden Geschäfte Einfluss zu nehmen. Das ist wahrscheinlich irgendwie historisch über die Jahrhunderte so gewachsen oder es entspricht einem tiefsitzenden Misstrauen der Schweizer gegenüber einer Machtkonzentration beim Staat. Das ist ja a priori nicht so schlecht, viele kleine Länder beneiden uns auch darum, aber es hat handfeste Nachteile. Das macht es gerade für Regierungen außerordentlich schwierig, langfristige Strategien wie eben zum Beispiel die Beziehungen zur EU aufzubauen, weil das Volk sozusagen dazwischenfunken kann.
Simon: Wie ist denn derzeit die Stimmung in der Schweiz, was das Hereinlassen und das Arbeitenlassen der neuen EU-Bürger angeht? Gibt es da aussagekräftige Umfragewerte?
Flückiger: Ja, gemäß verschiedenen Umfragen scheint eine Mehrheit für die Zustimmung für diese Erweiterung der Freizügigkeit zu sein. Allerdings hat sie, wenn man dem Trend glauben kann, in den letzten Monaten stetig abgenommen. Das ist insofern erstaunlich, als die Regierung, die Unternehmen und auch sogar die Gewerkschaften geschlossen und mit überzeugenden Argumenten für die Vorlage einstehen. Aber es ist anzunehmen, dass vielleicht die Bürgerinnen und Bürger in einer Zeit unsicherer Arbeitsplätze auch in der Schweiz kurzfristig egoistisch abstimmen, mit der deutlichen Gefahr allerdings, dass die ganze Wirtschaft langfristig darunter leidet.
Simon: Die EU-Kommission hat ja so ein bisschen eine Ahnung gehabt und vorgebeugt. Nach einigen - aus Brüsseler Sicht - schlechten Erfahrungen mit dem Schweizer Volkswillen in der Vergangenheit hat sie eine so genannte "Guillotineklausel" in das Abkommen eingebaut. Das hört sich nicht nur schlimm an, das ist auch schlimm, denn wenn die Schweiz in zehn Tagen "Nein" sagt zur Personenfreizügigkeit für die Bürger der zehn neuen EU-Länder, dann kann die Europäische Kommission das gesamte bilaterale Abkommen annullieren, das heißt, dann ist es vorbei mit Arbeitsmöglichkeiten für Schweizer in der EU und mit einer ganzen Reihe andere Abkommen, zum Beispiel auch dem sehr wichtigen Luftverkehrsabkommen. Sind das nicht wichtige Gründe, die die Schweizer eher zum "Ja" bewegen müssten?
Flückiger: Ja, das ist in der Tat so. Man kann das gar nicht deutlich genug unterstreichen. Wir sind ja als kleines Land mit sieben Millionen Einwohnern – das ist zweimal Berlin mehr oder weniger – auf Gedeih und Verderben auf den Austausch mit dem Ausland und damit vor allem mit der EU angewiesen. Drei Viertel dieses Austauschs geschieht mit der EU. Das ist mehr als zum Teil in einzelnen EU-Mitgliedstaaten, und das Vertragswerk, das wir zur Zeit mit der EU haben, das bereits abgesegnet ist mit einer Volksabstimmung im Jahr 2000, deckt die wichtigsten Bereiche ab. Damals wurde eben auch dieses Freizügigkeitsabkommen mit den alten EU-Ländern von den Bürgerinnen und Bürgern abgesegnet. Jetzt ist die Erweiterung da, und es geht darum, diese Erweiterung quasi mit einzubeziehen, und das leuchtet offenbar einigen Schweizerinnen und Schweizern nicht so ganz ein. Die fühlen sich überrumpelt, aber man versucht die Leute zu überzeugen, dass es wirklich, zu ihrem eigenen Nachteil wäre, wenn nicht nur diese Personenfreizügigkeit abgelehnt würde, sondern das gesamte Vertragswerk, auf dem die wirtschaftlichen Beziehungen mit der EU sind, quasi riskiert würde.
Simon: Aber die Schweiz ist doch auf der einen Seite ein hochmodernes Land, ein wichtiger Finanzplatz in Europa, wenn nicht der wichtigste. Wie geht das zusammen mit dieser Wirklichkeitsverweigerung von vielen Schweizer Bürgern?
Flückiger: Ja, wir sind vielleicht wirklich ein sonderbares Völkchen, um manchmal geht der alte Stolz, den wir zurecht auch haben, ein bisschen mit uns durch. Aber wir müssen, glaube ich, als Schweizer aufpassen, dass wir nicht langsam in zwei Gruppen zerfallen, genau die, die Sie genannt haben, auf der einen Seite eben die urbane, offene, wettbewerbsfreudige und moderne Schweiz, und auf der anderen Seite ein bisschen die rückwärtsgewandte Schweiz, die ihr Heil in der Abschottung sucht. Das ist natürlich Gift, sowohl für das ökonomische Überleben als auch für den inneren Zusammenhalt. Es ist im Übrigen interessant, wenn man auf die vergangenen Abstimmungen schaut, dass diese zwei Länder sozusagen oder diese zwei Gruppen, diese zwei Bereiche auch ein bisschen in Stadt und Land auseinanderfallen, also bezeichnenderweise nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, die Bewohner der Städte, die eigentlich dem Wettbewerb ausgesetzt sind, gegen diese Erweiterung, sondern es sind erstaunlicherweise die Leute in den Raumregionen, wo eigentlich dieser Einzug gar nicht so wahnsinnig zu spüren ist.
Simon: Was macht denn eigentlich die Schweiz, die umgeben ist von EU-Europa – das muss man sich wirklich vorstellen -, wenn es wirklich schlimm kommt, die Schweiz "Nein" sagt zu den neuen EU-Ländern und die wichtigen Abkommen gekündigt werden?
Flückiger: Zunächst glaube ich nicht, dass es soweit kommt. Ich glaube, bis jetzt in wirklich zukunftsentscheidenden Abstimmungen, wie diese eine es sein wird am 25. September, hat am Schluss immer die Vernunft gesiegt. Ich glaube, dass nicht von einem Tag auf den anderen die Krise eintreffen würde. Auch die EU hat ein gewisses Interesse, dieses Vertragswerk zu behalten. Auch die EU-Länder, die mit der Schweiz in Wirtschaftsarbeit sind, sind im Prinzip daran interessiert, aber die Schweizer, die denken, man gibt hier Autonomie auf, irren sich wahrscheinlich, denn gibt sich quasi einer gewissen Erpressung gleich, auch wenn die EU-Staaten nicht am Tag darauf, am Montag danach, am 26. September Maßnahmen ergreifen würden, so würde man ihnen doch die Möglichkeit lassen, das zu tun oder das immer wieder durchblicken zu lassen, dass man so ein Instrument in der Hand hätte, und damit würde man sich wirklich in der Autonomie sehr viel stärker beschneiden.
Simon: Vielen Dank für das Gespräch.
Flückiger: Man muss vielleicht erst in Erinnerung rufen, das politische System ist in der Schweiz etwas anders aufgebaut. Wahrscheinlich in keinem anderen Land der Welt haben die Bürger ähnliche Mittel, direkt auf die laufenden Geschäfte Einfluss zu nehmen. Das ist wahrscheinlich irgendwie historisch über die Jahrhunderte so gewachsen oder es entspricht einem tiefsitzenden Misstrauen der Schweizer gegenüber einer Machtkonzentration beim Staat. Das ist ja a priori nicht so schlecht, viele kleine Länder beneiden uns auch darum, aber es hat handfeste Nachteile. Das macht es gerade für Regierungen außerordentlich schwierig, langfristige Strategien wie eben zum Beispiel die Beziehungen zur EU aufzubauen, weil das Volk sozusagen dazwischenfunken kann.
Simon: Wie ist denn derzeit die Stimmung in der Schweiz, was das Hereinlassen und das Arbeitenlassen der neuen EU-Bürger angeht? Gibt es da aussagekräftige Umfragewerte?
Flückiger: Ja, gemäß verschiedenen Umfragen scheint eine Mehrheit für die Zustimmung für diese Erweiterung der Freizügigkeit zu sein. Allerdings hat sie, wenn man dem Trend glauben kann, in den letzten Monaten stetig abgenommen. Das ist insofern erstaunlich, als die Regierung, die Unternehmen und auch sogar die Gewerkschaften geschlossen und mit überzeugenden Argumenten für die Vorlage einstehen. Aber es ist anzunehmen, dass vielleicht die Bürgerinnen und Bürger in einer Zeit unsicherer Arbeitsplätze auch in der Schweiz kurzfristig egoistisch abstimmen, mit der deutlichen Gefahr allerdings, dass die ganze Wirtschaft langfristig darunter leidet.
Simon: Die EU-Kommission hat ja so ein bisschen eine Ahnung gehabt und vorgebeugt. Nach einigen - aus Brüsseler Sicht - schlechten Erfahrungen mit dem Schweizer Volkswillen in der Vergangenheit hat sie eine so genannte "Guillotineklausel" in das Abkommen eingebaut. Das hört sich nicht nur schlimm an, das ist auch schlimm, denn wenn die Schweiz in zehn Tagen "Nein" sagt zur Personenfreizügigkeit für die Bürger der zehn neuen EU-Länder, dann kann die Europäische Kommission das gesamte bilaterale Abkommen annullieren, das heißt, dann ist es vorbei mit Arbeitsmöglichkeiten für Schweizer in der EU und mit einer ganzen Reihe andere Abkommen, zum Beispiel auch dem sehr wichtigen Luftverkehrsabkommen. Sind das nicht wichtige Gründe, die die Schweizer eher zum "Ja" bewegen müssten?
Flückiger: Ja, das ist in der Tat so. Man kann das gar nicht deutlich genug unterstreichen. Wir sind ja als kleines Land mit sieben Millionen Einwohnern – das ist zweimal Berlin mehr oder weniger – auf Gedeih und Verderben auf den Austausch mit dem Ausland und damit vor allem mit der EU angewiesen. Drei Viertel dieses Austauschs geschieht mit der EU. Das ist mehr als zum Teil in einzelnen EU-Mitgliedstaaten, und das Vertragswerk, das wir zur Zeit mit der EU haben, das bereits abgesegnet ist mit einer Volksabstimmung im Jahr 2000, deckt die wichtigsten Bereiche ab. Damals wurde eben auch dieses Freizügigkeitsabkommen mit den alten EU-Ländern von den Bürgerinnen und Bürgern abgesegnet. Jetzt ist die Erweiterung da, und es geht darum, diese Erweiterung quasi mit einzubeziehen, und das leuchtet offenbar einigen Schweizerinnen und Schweizern nicht so ganz ein. Die fühlen sich überrumpelt, aber man versucht die Leute zu überzeugen, dass es wirklich, zu ihrem eigenen Nachteil wäre, wenn nicht nur diese Personenfreizügigkeit abgelehnt würde, sondern das gesamte Vertragswerk, auf dem die wirtschaftlichen Beziehungen mit der EU sind, quasi riskiert würde.
Simon: Aber die Schweiz ist doch auf der einen Seite ein hochmodernes Land, ein wichtiger Finanzplatz in Europa, wenn nicht der wichtigste. Wie geht das zusammen mit dieser Wirklichkeitsverweigerung von vielen Schweizer Bürgern?
Flückiger: Ja, wir sind vielleicht wirklich ein sonderbares Völkchen, um manchmal geht der alte Stolz, den wir zurecht auch haben, ein bisschen mit uns durch. Aber wir müssen, glaube ich, als Schweizer aufpassen, dass wir nicht langsam in zwei Gruppen zerfallen, genau die, die Sie genannt haben, auf der einen Seite eben die urbane, offene, wettbewerbsfreudige und moderne Schweiz, und auf der anderen Seite ein bisschen die rückwärtsgewandte Schweiz, die ihr Heil in der Abschottung sucht. Das ist natürlich Gift, sowohl für das ökonomische Überleben als auch für den inneren Zusammenhalt. Es ist im Übrigen interessant, wenn man auf die vergangenen Abstimmungen schaut, dass diese zwei Länder sozusagen oder diese zwei Gruppen, diese zwei Bereiche auch ein bisschen in Stadt und Land auseinanderfallen, also bezeichnenderweise nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, die Bewohner der Städte, die eigentlich dem Wettbewerb ausgesetzt sind, gegen diese Erweiterung, sondern es sind erstaunlicherweise die Leute in den Raumregionen, wo eigentlich dieser Einzug gar nicht so wahnsinnig zu spüren ist.
Simon: Was macht denn eigentlich die Schweiz, die umgeben ist von EU-Europa – das muss man sich wirklich vorstellen -, wenn es wirklich schlimm kommt, die Schweiz "Nein" sagt zu den neuen EU-Ländern und die wichtigen Abkommen gekündigt werden?
Flückiger: Zunächst glaube ich nicht, dass es soweit kommt. Ich glaube, bis jetzt in wirklich zukunftsentscheidenden Abstimmungen, wie diese eine es sein wird am 25. September, hat am Schluss immer die Vernunft gesiegt. Ich glaube, dass nicht von einem Tag auf den anderen die Krise eintreffen würde. Auch die EU hat ein gewisses Interesse, dieses Vertragswerk zu behalten. Auch die EU-Länder, die mit der Schweiz in Wirtschaftsarbeit sind, sind im Prinzip daran interessiert, aber die Schweizer, die denken, man gibt hier Autonomie auf, irren sich wahrscheinlich, denn gibt sich quasi einer gewissen Erpressung gleich, auch wenn die EU-Staaten nicht am Tag darauf, am Montag danach, am 26. September Maßnahmen ergreifen würden, so würde man ihnen doch die Möglichkeit lassen, das zu tun oder das immer wieder durchblicken zu lassen, dass man so ein Instrument in der Hand hätte, und damit würde man sich wirklich in der Autonomie sehr viel stärker beschneiden.
Simon: Vielen Dank für das Gespräch.