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Wirtschaftsinstitut sieht kaum konjunkturelle Impulse durch Reformen

Liminski: Herr Sinn, Ihr Institut konstatiert seit Monaten eine optimistische Grundstimmung in den Betrieben. Wird sie nun durch den Kompromiss vom Sonntag gefördert?

    Sinn: Ja, ich würde sagen, sie wird ein bisschen gefördert, denn es wäre jetzt verheerend gewesen, wenn es nicht zu einer Einigung gekommen wäre, denn das hätte als Signal interpretiert werden müssen, dass Deutschland nicht reformfähig ist.

    Liminski: Bundeswirtschaftsminister Clement schätzt den Schub für den Aufschwung auf bis zu 0,6 Prozent zusätzlich für das kommende Jahr. Sind Sie auch so optimistisch? Fachleute hier haben im Sender gestern zum Beispiel die Erwartungen schon gedämpft auf knappe 0,3 Prozent.

    Sinn: Ja, 0,6 können es unmöglich sein. Die alte Reform, wie sie angekündigt war und in den Rechnungen der Wirtschaftsforschungsinstitute und des Sachverständigenrates berücksichtigt war, brachte es auf 0,2 Prozent. Jetzt haben wir nur die halbe Miete, also nur 0,1 Prozent. Das ist so gut wie gar nichts, also konjunkturell wird es nicht viel bringen. Es geht aber auch nicht um die Konjunktur. Es geht um die langfristigen Wachstumsbedingungen unseres Landes, und da ist die Reform schon sehr gut, denn eine Senkung der Steuersätze gibt Anreize, aus der Schwarzarbeit zurückzugehen in die normale Wirtschaft, gibt Anreize, sich wieder besser auszubilden, gibt Anreize, vielleicht doch beschäftigt zu sein statt unbeschäftigt usw.

    Liminski: Bleiben wir noch ein bisschen bei der Konjunktur. Es wurde immer gesagt, besonders von Finanzminister Eichel, die Ursachen für die schlechte Konjunktur seien außerhalb der deutschen Grenzen zu suchen. Ist der Abschwung eine Sache Amerikas und der Aufschwung nun ein Verdienst der eigenen Reformkräfte in Berlin?

    Sinn: Herr Eichel hat recht, dass die Ursache für den konjunkturellen Abschwung im Wesentlichen im Ausland zu suchen ist, und genauso die Ursache für den konjunkturellen Aufschwung, den wir jetzt bekommen. Aber unser deutsches Problem ist kein Konjunkturproblem. Wir haben ein Strukturproblem, das sich seit 30 Jahren aufbaut. Wir haben eine seit 30 Jahren in konjunkturellen Zyklen ansteigende Arbeitslosigkeit. Selbst wenn wir jetzt einen Superboom kriegen, ist die Arbeitslosigkeit immer noch vier Millionen. Also es ist kein Konjunkturproblem, das Deutschland drückt.

    Liminski: In Amerika brummt es schon. Nun kommt der Aufschwung auch zu uns. Reicht es nicht aus, um die Arbeitslosigkeit wenigstens ein bisschen zu verringern?

    Sinn: Ein bisschen schon, eine halbe Million. Dann sind wir nicht mehr bei 4,5, sondern bei 4 Millionen oder vielleicht 3,9 Millionen, wenn es ganz gut läuft. Aber was machen wir mit den anderen? Das ist eine Sockelarbeitslosigkeit, die wegen der Verkrustung unseres Arbeitsmarktes aufgebaut worden ist, die entstanden ist durch die neue Wettbewerbssituation, Fall des Eisernen Vorhangs, Niedriglohnkonkurrenz in Osteuropa, die zu der schon vorhandenen Niedriglohnkonkurrenz in Asien noch hinzukommt. All diese Dinge haben mit Konjunktur nichts zu tun.

    Liminski: Kommen wir zu diesen Strukturfragen. Der Kündigungsschutz ist gelockert. Der Druck auf die Tarifpartner wächst, jetzt auch den Flächenvertrag für die Betriebe noch flexibler zu gestalten. Sollte er ganz aufgegeben werden?

    Sinn: Ich meine, die Tarifpartner sollten weiterhin Lohnverhandlungen machen für die jeweiligen Branchen. Das kann man ja nicht alles auf betriebliche Ebenen verlagern, weil es viel zu kompliziert ist. Aber das Entscheidende ist, dass die Betriebe das Recht erhalten müssen, nach Wunsch auch nach unten abzuweichen, und zwar wenn die Mehrheit der Belegschaft eines Betriebes eine Lohnmäßigung, -senkung unter das Tarifniveau möchte, um dadurch den Konkurs des eigenen Betriebes zu verhindern oder seine Wettbewerbschancen zu vergrößern, dann muss das möglich sein, und es muss auch möglich sein, gegen die Interessen der Gewerkschaft und gegen die Interessen der Arbeitgeberverbände. Ich verweise hier auf das Beispiel der Baufirma Phillip Holzmann. Die sind ja pleitegegangen, und dann hatten die Arbeitnehmer gesagt, bevor wir jetzt pleite gehen, wollen wir uns mit weniger Lohn begnügen. Dann hat der Arbeitgeberverband und die Gewerkschaft gesagt, nein, das geht nicht, geht mal schön pleite, das dürft ihr nicht machen, denn in diesen Verbänden waren die Konkurrenten von Phillip Holzmann organisiert. Wir sind ja in einer Marktwirtschaft, und eine Marktwirtschaft lebt von der Konkurrenz. Es muss möglich sein, dass ein Betrieb die Wettbewerber unterbietet, auch wenn sie das nicht wollen und wenn ihre Verbände das nicht wollen.

    Liminski: Ein Wort zum Kündigungsschutz: Reicht es, was jetzt am Sonntag in Berlin beschlossen wurde?

    Sinn: Ja, da ist ja beschlossen worden, dass der gesetzliche Kündigungsschutz nicht in dieser Form bestehen bleibt für Betriebe von weniger als zehn Mitarbeitern. Ich weiß nicht, was das mit der Zahl der Mitarbeiter zu tun hat. Also das Kriterium entgeht meiner Einsicht total, denn es geht ja hier darum, durch die Lockerung des Kündigungsschutzes mehr Arbeitsplätze zu schaffen und damit letztlich mehr Schutz am Arbeitsmarkt. Es ist ja ein Irrglaube zu denken, dass mehr Kündigungsschutz mehr Sicherheit am Arbeitsplatz bedeutet. Erst mal schützt der Kündigungsschutz natürlich nicht vor Konkurs und Verlust des Arbeitsplatzes - wir haben eine gewaltige Pleitewelle, die durch Deutschland läuft, die sich immer noch weiter beschleunigt trotz des kommenden Aufschwunges. Zweitens behindert der Kündigungsschutz die Neueinstellung von jungen Menschen. Die Altsassen haben ihre festen Stellen, und weil die Unternehmen wissen, dass sie einen einmal angestellten Arbeitnehmer nie wieder loswerden, zögern sie bei einer leichten Geschäftsverbesserung, die sie erwarten, jetzt schon neue Leute einzustellen.

    Liminski: Auch wenn dieser Kompromiss vom Sonntag nicht alle voll befriedigt – das liegt ja auch in seiner Natur -, ist es ein Fortschritt. Ist damit, um den Titel Ihres jüngsten Buches aufzugreifen, Deutschland zu retten? Ist das der Anfang von der Wiedergewinnung der Wettbewerbsfähigkeit?

    Sinn: Na ja, hoffentlich der Anfang. Das würde jetzt davon abhängig sein, wie viele Reformen noch folgen. Also für mich ist das der mentale Einstieg in ein Reformszenario, was uns die nächsten Jahre begleiten wird. Da müssen wir noch einige Jahre solche Reformen machen, jedes Jahr wieder, und wenn wir das drei, vier Mal hintereinander gemacht haben, dann sind wir vielleicht wieder wettbewerbsfähig. Da fehlen aber noch gewaltige Dinge. Es fehlt eben dieses Tarifrecht, was wir gerade besprochen haben. Es fehlt auch eine Reform der Sozialhilfe. Jetzt ist ja das Arbeitslosengeld abgeschafft worden, und die Leute fallen in die Sozialhilfe. Nun, die Sozialhilfe selber ist in ihrer Form ziemlich beschäftigungsfeindlich, denn sie zahlt das Geld, das sie zur Verfügung nur aus unter Bedingung, dass man nicht arbeitet. Sie ist also praktisch eine Prämie dafür, dass man sich dem Arbeitsmarkt entzieht, und diese Prämie führt dazu, dass die Leute hohe Lohnansprüche haben gegen die Marktwirtschaft, die sie häufig nicht erfüllen kann, und dann gibt es keine Jobs. Also das Problem ist noch nicht gelöst, aber es gibt Lösungsvorschläge auf dem Tisch, Stichwort Aktivieren der Sozialhilfe, man zahlt das Geld in Zukunft unter der Bedingung, dass die Menschen mitmachen, statt unter der Bedingung, dass sie sich absentieren, und dann kommt es auch zur Entwicklung eines Niedriglohnsektors, den wir brauchen. Deutschlands Krankheit ist ja die hohe Arbeitslosigkeit unter den gering Qualifizierten. Da sind wir an der Spitze aller OECD-Länder, und das muss dringend gelöst werden. Das ist ein Riesenfeld, was noch nicht angegangen worden ist durch diese Reformen. Dann fehlt die Rentenversicherung.

    Liminski: Der mentale Einstieg in ein Reformszenario über mehrere Jahre, sagen Sie. Was ist denn das größte Problem für Deutschland, vielleicht auch für Europa?

    Sinn: Das größte Problem ist die Starrheit des Arbeitsmarktes. Wir haben nun diese wachsende Arbeitslosigkeit, die sich über 30 Jahre lang aufgebaut hat, und wir haben jetzt die Niedriglohnkonkurrenz aus Osteuropa, auch innerhalb Westeuropas, auf der ganzen Welt die Globalisierung. Da müssen wir uns nach der Decke strecken. Wir können nicht so tun als würde das alles nicht passieren. Der Sozialstatt behindert das. Der Sozialstaat ist der Marktwirtschaft nachgewachsen und hat immer Lohnersatz geboten für die, die keine Jobs hatten. Aber mit diesem Lohnersatz macht er die Löhne starr und die Lohnstruktur starr und verhindert dann die nötige Anpassung an solche äußeren Schocks, wie sie auf die Wirtschaft zukommen. Dann entsteht zwangsläufig die Arbeitslosigkeit. Also wir müssen total umkrempeln. Es kann nicht angehen, dass wir Menschen dafür bezahlen durch eine verbesserte Rente, wenn wie früher aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Das ist ja pervers, wenn Sie sich das vorstellen. Es kann nicht sein, dass wir zisch Milliarden jedes Jahr in die neuen Bundesländer zahlen an Menschen, aber die Nebenbedingung setzen, dass diese Menschen nicht am Arbeitsleben teilnehmen. Das tun wir nämlich, indem wir Lohnersatz in Form von Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe, Frühverrentung usw. zahlen. Das ist alles wirklich sehr schädlich. Wir müssen da total umdenken. Wir brauchen einen Sozialstaat. Wir müssen den Menschen, die nicht so leistungsfähig sind, helfen, aber wir müssen ihnen bitte helfen unter der Bedingung, dass sie sich auch selber helfen.

    Liminski: In Ihrem Buch kommen Sie öfters auf die Demographieanfälligkeit unserer Sozialsysteme zu sprechen. Ist das nicht auch eine Frage des Konsums oder der Konsumfähigkeit? Ihr Institut hat neulich eine interessante Studie über die Kinderstrafsteuer vorgelegt, also die Steuern, die Eltern verfassungswidrig zu viel gezahlt haben – immerhin 40 Milliarden Euro in den letzten zwölf Jahren. Das ist ja sozusagen auch dem Konsum vorenthalten worden. Stehen die Familien nach dem Kompromiss vom Sonntag besser?

    Sinn: Nein, die Familien haben da jetzt wenig davon abbekommen. Da ist noch gar nichts passiert. Wir brauchen dringend eine Berücksichtung der Familien in der Rentenversicherung. Die Rente kommt ja von unseren Kindern. Wenn wir selber eine Rente haben wollen, dann müssen Kinder da sein. Wenn keine Kinder da sind, kommt keine Rente. Dieser Zusammenhang ist aus dem Rentensystem ausgeblendet. Man hat Ansprüche, die erworben werden, weil man mit seinen Beiträgen seine eigenen Eltern finanziert, also jedenfalls die Generation der eigenen Eltern. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass die Kinder von alleine kommen. Das ist aber nicht der Fall. Wenn man von der Kinder anderer Leute im Alter leben kann, wie das heutige System angelegt ist, dann haben eben immer weniger Menschen Kinder und dann entstehen die gewaltigen demographischen Probleme, die wir in Deutschland haben, und das ist ja schon erheblich. Wir sind heute in einer günstigen Situation, wo es relativ wenige alte Menschen gibt, auch wegen der Kriege, auch weil früher die Geburtenrate noch hoch waren, wir uns also die Finanzierung unserer Eltern mit vielen Geschwistern teilen können, und dann kommen wir in eine ganz andere Situation, wo die jetzt Vierzigjährigen dann im Rentenalter sind und keinen Nachwuchs mehr haben, jedenfalls nur halb so viel, wie das früher üblich war, und davon sollen sie dann ernährt werden. Die Folge ist, dass das Rentensystem, so wie es heute aufgesetzt ist, kollabiert. Wenn wir also die Beitragssätze zur Rentenversicherung und den Bundeszuschuss prozentual auf heutigem Niveau festhalten, dann werden die Rente von heute 50 Prozent des Bruttolohnniveaus auf 25 Prozent des Bruttolohnniveaus runtergehen, und auch all die schönen Maßnahmen in Richtung Vergrößerung des Renteneintrittalters usw. werden nur ein bisschen wirken. Dann kommen wir vielleicht von 25 auf 30, 31, 32 Prozent. Das ist aber das Sozialhilfeniveau. Die Hälfte der Leute wird auch mit diesen Reformen eine Rente kriegen, die kleiner ist als die Sozialhilfe. Da muss also dringend etwas geschehen.

    Liminski: Vielen Dank für das Gespräch.