Dienstag, 16. April 2024

Archiv

Wirtschaftskrise in der Türkei
"Die Sonne geht wieder aus dem Osten auf"

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan werde sich keine "Finanzspritze" vom Internationalen Währungsfond holen, so Bülent Bilgi von der AKP-nahen Union Europäisch-Türkischer Demokraten im Dlf. Die Türkei würde sich angesichts der Wirtschaftskrise stattdessen neue Partner suchen - zum Beispiel China.

Bülent Bilgi im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 21.08.2018
    Der türkische Präsident Erdogan hält in Ankara eine Rede, im Hintegrrund sind türkische Flaggen zu sehen
    Präsident Erdogan erwäge China als neuen Partner, so Bülent Bilgi im Interview (dpa / Pool Photo via AP)
    Dirk-Oliver Heckmann: Die deutsche Übersetzerin und Journalistin Mesale Tolu, die sich unter angeblichem Terrorverdacht erst mehr als sieben Monate in U-Haft, dann im Hausarrest befand, sie darf die Türkei verlassen. Kürzlich war bereits der Ehrenvorsitzende von Amnesty International, Taner Kilic überraschend freigekommen, ebenso wie zwei griechische Soldaten – das Ganze in einer Zeit, in der der Konflikt zwischen Präsident Erdogan und US-Präsident Trump auf die Spitze getrieben wurde und die türkische Lira ins Bodenlose fällt. Viele sehen da einen Zusammenhang. Er auch? – Das habe ich Bülent Bilgi gefragt, den Vorsitzenden der AKP-nahen Union Europäisch-Türkischer Demokraten.
    Bülent Bilgi: Nein. Ich sehe da absolut keinen Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Situation der Türkei und den juristischen Entscheidungen, die gerade gefallen sind. Ich habe mehrmals auch in der Vergangenheit gesagt, wenn Anschuldigungen im Raum stehen, dass ein Rechtsstaat verpflichtet ist, diesen Anschuldigungen nachzugehen, juristische Prozesse zu starten, das juristisch zu prüfen. Am Ende fällt eine Entscheidung und diese sind in diesen Fällen gefallen, und es freut mich umso mehr, dass diese positiv waren, dass diese Menschen sich offensichtlich nichts vorzuwerfen haben. Das ist begrüßenswert.
    Heckmann: Das heißt, Sie sehen den Fall Tolu und wie er jetzt entschieden ist allen Ernstes als Beleg dafür, dass der Rechtsstaat in der Türkei funktioniert?
    Bilgi: Ja, absolut. Natürlich kann es in einem Rechtsstaat auch Entscheidungen geben, die uns nicht gefallen. Das passiert genauso in Deutschland, in den Vereinigten Staaten, überall.
    "Ich vertraue der Rechtsstaatlichkeit der Türkei"
    Heckmann: Aber sie hat sich ja monatelang in Untersuchungshaft befunden.
    Bilgi: Aber ja, ich vertraue der Rechtsstaatlichkeit der Türkei, und wenn ich das so sehe, dann bitte ich auch darum, meine Meinung zu respektiere, so wie ich auch Ihre respektiere.
    Heckmann: Das ist völlig unbenommen. Deswegen reden wir auch miteinander. Aber Frau Tolu hat sich ja monatelang in Untersuchungshaft befunden und später dann noch unter Hausarrest, unter dann doch recht fadenscheinigen Vorwänden oder Begründungen.
    Bilgi: Ja, das ist Ihre Meinung, dass es fadenscheinige Vorwände sind. Wie gesagt, die juristischen Prozesse, die dauern nun mal ihre Zeit, und es sollte jetzt nichts beschleunigt werden, dass man sagt, okay, wir machen das mal kurzerhand und lassen diese Menschen frei, ohne das vernünftig geprüft zu haben. Das wäre eines Rechtsstaates unwürdig.
    Heckmann: Gut, Herr Bilgi. Ihre Position ist angekommen. Aber um mal auf das deutsch-türkische Verhältnis zu sprechen zu kommen: Täuscht der Eindruck, dass Präsident Erdogan seine Tonlage doch ein ganzes Stück weit geändert hat? Denn von Faschismus-Vorwürfen beispielsweise ist ja schon lange nicht mehr die Rede.
    Bilgi: Es ist ja so, dass beide Seiten im Ton Vernunft angeschlagen haben. Sowohl auf der deutschen Seite als auch auf der türkischen Seite kommen vernünftige Töne. Das ist auch gut so und das muss auch so sein. Auch von Frau Nahles kamen entsprechend positive Zeichen. Ich sehe das so, dass beide Seiten sich annähern, und das ist auch zwingend erforderlich, angesichts der Situation, wo wir eine US-Regierung haben, die absolut unkalkulierbare Handlungen durchführt, wo im Grunde genommen die Länder auf der Welt der Willkür eines Präsidenten ausgesetzt sind. Da muss die freiheitlich-demokratische Grundstruktur in den Ländern beziehungsweise die Demokraten müssen in diesem Punkt zusammenhalten und entsprechend reagieren.
    Ich finde, dass Deutschland mit der Türkei zusammen, mit Frankreich, mit den Engländern, also insgesamt Europa sich gemeinsam gegenüber der USA positioniert, klar Stellung bezieht. Es kann nicht sein, dass die Vereinigten Staaten einen Krieg gegen Europa und diverse andere Länder führen und ihre Willkür durchsetzen. Da muss man sich entsprechend auflehnen und sagen: Stopp, so geht das nicht, das ist unfair. Im Moment, auch die Monate davor war es ausschließlich die Türkei, die sich gegen diese Haltung der Vereinigten Staaten beziehungsweise von Herrn Trump aufgelehnt hat. Jetzt ist es gut so, dass auch andere Staaten so wie auch Italien - Italiens Außenminister hat in den vergangenen Tagen auch gesagt: Das was gegenüber der Türkei gerade durchgeführt wird, das ist nicht in Ordnung.
    "Deutschland darf sich nicht mehr von den USA vorführen lassen"
    Heckmann: Das heißt, Herr Bilgi, ich verstehe Sie richtig, wenn Sie sagen, dass der Handelskrieg zwischen den USA und der Türkei jetzt Präsident Erdogan dazu motiviert, wieder stärker auf Europa zuzugehen?
    Bilgi: Nein. Es ist so, dass Länder ihre eigenen Interessen verfolgen, und das sollten die europäischen Länder auch machen, insbesondere Deutschland. Deutschland darf sich nicht mehr von den Vereinigten Staaten vorführen lassen wie ein Schuljunge, und das ist in den letzten Monaten mehrmals geschehen, dass deutsche Firmen sanktioniert wurden, dass deutsche Firmen Entschädigungen zahlen mussten. Das geht nicht mehr, dass auch deutsche Unternehmen beziehungsweise auch die deutsche Regierung, die Bundesregierung sich dagegen stemmt. Ich sehe hinter den Handlungen der Vereinigten Staaten, auch hinter den Handlungen von Herrn Trump die Absicht oder die Vorgehensweise eines skrupellosen Geschäftsmannes, die Gegenseite in eine schlechte Position zu bringen, so dass man eine schlechte Ausgangssituation hat.
    Heckmann: …, so dass man sich dann wieder einem Land zuwenden kann, das unter Faschismus-Vorwürfen angegriffen wurde?
    Bilgi: Nein, wir reden jetzt gerade nicht von Faschismus, sondern Sie haben mich gerade über die Beziehungen gefragt und ich rede gerade über die Beziehungen auch im Hinblick auf die Vereinigten Staaten und wie Herr Trump verfährt. Trump verfährt so, dass die Gegenseite ins schlechte Licht gerückt wird und an die Wand gestellt wird, so dass man eine vernünftige Verhandlungsbasis hat aus seiner eigenen Sicht und einen Deal herausschlägt. Wenn man sich davon beeindrucken lässt, dann ist man in einer schlechten Verhandlungsposition, und das darf nicht sein.
    Heckmann: Herr Bilgi, Sie haben gerade Andrea Nahles angesprochen. Die hat am Wochenende ja Finanzhilfen Deutschlands für die Türkei ins Spiel gebracht, unabhängig von den politischen Differenzen mit Präsident Erdogan. Die Bundesregierung, die sagt zwar jetzt, diese Frage stelle sich derzeit aktuell nicht, aber Finanzhilfen könnte die Türkei gut gebrauchen, oder?
    Bilgi: Viel mehr war es für die Türkei nicht wichtig, dass Gelder kommen, sondern viel mehr war die Aussage wichtig, dass man als Partner diese Position hat und sich neben die Türkei stellt, bei dieser Ungerechtigkeit neben die Türkei stellt, sich hinter die Türkei stellt, und das auch klar zum Ausdruck bringt. Ich glaube, auch für die türkische Seite, auch für Herrn Erdogan war das nicht wichtig, dass eventuelle Gelder kommen, Finanzspritzen kommen, sondern dieser Gedanke, dass man sich gegen die Willkür der Vereinigten Staaten entgegensetzen muss, das war für die Türkei, glaube ich, viel wichtiger als Message.
    "Nachdem die Sanktionen kamen, ging der Wert um 35 Prozent runter"
    Heckmann: Wie ist denn aus Ihrer Sicht die wirtschaftliche Lage in der Türkei derzeit? Ich meine, die türkische Lira hat 45 Prozent an Wert verloren seit Jahresbeginn – übrigens ganz unabhängig von den Sanktionen, die von den USA ausgesprochen wurden.
    Bilgi: Nein. Die Sanktionen, die von den Vereinigten Staaten kommen, die haben das enorm beflügelt. Nachdem die Sanktionen kamen, ging der Wert um 35 Prozent runter. Das heißt, die zehn Prozent, die waren noch kalkulierbar. Aber die Vereinigten Staaten, auch Herr Pence, der Vizepräsident, hat klar zum Ausdruck gebracht, wir werden alle Mittel nutzen, damit Priester Brunson freikommt. Sie können nicht sagen, wir sind Partner, und von dem Partner verlangen, dass er die Rechtsstaatlichkeit bei Seite räumt, und verlangen, dass man jemanden ausliefert. Das geht nicht.
    Heckmann: Da geht es um den evangelikalen Priester aus den USA, der in der Türkei in Untersuchungshaft sitzt. Der Außenpolitiker Hardt von der CDU, der hat gestern bei uns im Deutschlandfunk gesagt, Finanzhilfen könne es nur geben, wenn Erdogan seinen politischen Kurs ändert, nämlich in Richtung Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit der Zentralbank. Wenn die Wirtschaft jetzt so weiter in der Türkei den Bach runtergeht, wie das derzeit ja den Anschein hat, und Erdogan Gefahr läuft, möglicherweise selber zu stürzen, wäre er denn bereit aus Ihrer Sicht, im Gegenzug für Finanzhilfen seinen politischen Kurs zu ändern?
    Bilgi: Definitiv nicht. Das kann ich mit Sicherheit sagen, dass Herr Erdogan sich definitiv keine Finanzspritzen holt, erst recht nicht vom Internationalen Währungsfonds. Das wird meines Erachtens nicht geschehen, dass Herr Erdogan seinen politischen Kurs wechselt und diese Richtung einschlägt. Das erwarte ich nicht. Das ist natürlich meine persönliche Meinung.
    Heckmann: Ist das nicht ein sehr riskanter Kurs für das Land, für die Türkei, für alle Türken?
    Bilgi: Auch Herr Erdogan hat das ja mehrmals zum Ausdruck gebracht, dass man sich neue Partner, neue Verbündete sucht. Ich würde das so sagen, dass die Türkei sich nicht neue Partner sucht, sondern weitere Partner sucht. Es ist ja auch ganz klar zu sehen, dass speziell die Chinesen, im Osten, ich sage mal so salopp: Die Sonne geht wieder aus dem Osten auf. Das heißt, es gibt auch andere Varianten für die Türkei, mit denen man sich unterhält. Ich meine, auch in der Vergangenheit hat man gesehen, dass China sich in den Balkan-Ländern im südosteuropäischen Raum aufgehalten hat und in Bulgarien mit 16 anderen südosteuropäischen Ländern getroffen hat und entsprechende Maßnahmen geplant wurden.
    Für die Türkei gibt es mehrere Alternativen und ich weiß, dass mit diesen Alternativen gerade auch verhandelt wird. Es ist nicht so, dass Deutschland und Europa die einzigen Alternativen für die Türkei sind, und ich finde das gut so, dass man entsprechende Handlungsfreiräume hat. Aber mein Wunsch wäre, dass man sich mit Europa einigt und die alten Partnerschaften wieder auf Augenhöhe aufblühen im Grunde genommen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.