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Wirtschaftsstudie
Der Streit um die Vermögensschere

Geht sie nun auseinander oder nicht: die Schere zwischen Arm und Reich? Die einen Fachleute sagen das seit Jahren, andere widersprechen postwendend. Und Journalistinnen und Journalisten verbreiten entsprechend beide Narrative. Aber müssten sie sich nicht für eines entscheiden?

Von Michael Borgers | 18.12.2019
Ein Mann sitzt auf dem Gehweg und bettelt
Die stetig steigende Vermögensungleichheit eine Mär? So stand es jedenfalls in einer Pressemitteilung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). (dpa / Jens Kalaene)
"Vermögensverteilung: Bemerkenswerte Stabilität" – unter dieser Überschrift hat das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) gerade eine Studie veröffentlicht. In der dazugehörigen Pressemitteilung wurden die von Verbänden und Unternehmen der Wirtschaft finanzierten Wissenschaftler noch plakativer: Von der "Mär von der stetig steigenden Vermögensungleichheit" ist da die Rede. Weiter heißt es, "glaubt man der öffentlichen Debatte, nimmt die Vermögensungleichheit in Deutschland seit Jahren ungebremst zu". Doch ein genauer Blick auf die Daten zeige sogar eine gegenteilige Entwicklung in Deutschland.
Im Deutschlandfunk-Interview spricht die Moderatorin IW-Direktor Michael Hüther auf die unterschiedliche öffentliche Wahrnehmung an – und bringt die "Schere" ins Spiel, in diesem Fall die "Vermögensschere". Ein sprachliches Bild, das Journalistinnen und Journalisten in den vergangenen Jahren bemüht haben wie kaum ein anderes.
Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln.
Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln (picture alliance / Michael Kappeler)
Unterschiedliche Ansätze, ein mediales Bild
Erst im Herbst titelten zahlreiche Medien online "Schere zwischen Arm und Reich wird immer größer" (Bild), "Schere zwischen Arm und Reich wächst" (Focus Money) oder "Schere zwischen Arm und Reich groß wie nie" (Rheinische Post). Hintergrund hier war ebenfalls eine Studie - des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.
In dieser Untersuchung ging es nicht um bestehende Vermögen, sondern um die Entwicklung von Einkommen in Deutschland. Das Ergebnis und wie es medial gezeichnet wird, entspricht aber genau dem Bild, das das IW kritisiert: dem einer wachsenden Ungleichheit.
"Kontext erkennen, kritisch einordnen"
Institute wie das Institut der deutschen Wirtschaft würden mit seriösen Zahlen arbeiten, betont Kim Otto, der in Würzburg Wirtschaftsjournalismus unterrichtet. Doch "natürlich" habe auch das IW ein Interesse, sich in den politischen Diskurs einzumischen, gibt er gegenüber dem Deutschlandfunk zu bedenken.
Der Journalist Kim Otto
Kim Otto, als Journalist hat er lange für den WDR gearbeitet, unter anderem für das ARD-Politmagazin "Monitor" und die Dokureihe "die story". In Würzburg ist er seit 2015 Professor für Wirtschaftsjournalismus.

"Wenn die SPD eine Vermögenssteuer fordert, ist doch klar, dass das IW kurzfristig eine Studie vorlegt zur Einkommensverteilung", meint Otto. Journalistinnen und Journalisten seien gefragt, diesen Kontext zu erkennen und entsprechend kritisch einzuordnen.
Und zu fragen, "wer steckt hinter einer Statistik und Studie und welche Absicht wird damit vielleicht erfolgt", ergänzt Sina Fröhndrich aus der Wirtschaftsredaktion im Deutschlandfunk. Das zeige auch das Beispiel IW-Studie: "Zu sagen, die Vermögensungleichheit nimmt nicht zu, verstellt den Blick darauf, dass die Ungleichheit allerdings sehr groß ist, wenn auch vielleicht stabil."
Die viel grundlegendere Frage wäre aber vielleicht, findet Fröhndrich: "Sollte Vermögen besteuert werden oder nicht? Wäre es nicht fair, Einkommen, das sich einfach aus Vermögen ohne großes Zutun erzielen lässt, auch zu besteuern?"
"Immer mit Vorsicht genießen"
Es komme immer darauf an, "welche Zahlen nehme ich", sagt Kim Otto, der selbst auch als Wirtschaftsjournalist arbeitet. So würde im aktuellen Fall der IW-Studie vernachlässigt, dass die "oberen zehn Prozent der Vermögensverteilung gar nicht richtig erfasst werden". Auf diesen "versteckten Reichtum" weist auch die taz in ihrer Analyse der IW-Studie hin. Auch die Bundesbank wies etwa 2017 darauf hin, dass bei ihrer Vermögenserhebung Angaben der sehr vermögenden Haushalte fehlten.
Wichtig sei außerdem der Vergleich mit anderen Ländern: So stehe Deutschland im europäischen Vergleich besonders schlecht da, was die Ungleichheit angehe.
Ottos Fazit: Studien zum Thema Vermögensverteilung (und natürlich auch zu anderen Themen) seien "immer mit Vorsicht zu genießen". Gerade von politisch arbeitenden Journalistinnen und Journalisten erwarte er, dass sie sich immer alles ganz genau anschauen.