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Lebenserwartung
Wie Armut und Gesundheit zusammenhängen

Wie gelingt ein sozial und gesundheitlich gutes Leben? Der Zusammenhang zwischen Armut, Gesundheit und Lebenserwartung wird seit Jahren untersucht. Armut war eines der Themen auf dem Public Health Kongress an der TU Berlin - mit überraschend neuen Ansätzen.

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger |
Ein Obdachloser bekommt am 19.02.2014 in Berlin eine Suppe in einer Wärmelufthalle. Die Berliner Stadtmission hat das provisorisch errichtete Gebäude als Nachtquartier für Obdachlose unweit des Innsbrucker Platzes vorgesehen.
Eine warme Halle für Obdachlose der Berliner Stadtmission (dpa / Paul Zinken)
Der Fokus des anwendungsorientierten Fachgebiets hat sich längst verändert. Ging es früher um Hygiene, Kontrolle von Krankheitsübertragungen und gesundheitsschädliches Verhalten wie Rauchen oder Trinken, stehen heute die sozio-ökonomischen Ursachen für menschliches Befinden im Mittelpunkt. Wie sich etwa ein niedriges Einkommen auf die Lebenserwartung auswirkt, zeigt die jüngste Studie des Robert-Koch-Instituts nicht zum ersten Mal. Dr. Thomas Lampert:
"Diese Studie zeigt, dass Personen mit niedrigem Einkommen, die einem Armutsrisiko ausgesetzt sind – das sind diejenigen, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben – eine deutlich geringere Lebenserwartung haben. Männer, die einem Armutsrisiko ausgesetzt sind, haben im Vergleich zu den Männern aus den höheren Einkommensgruppen eine um 8,6 Jahre verringerte Lebenserwartung, wenn wir den Zeitpunkt von der Geburt an wählen. Und bei Frauen beträgt diese Differenz 4,4 Jahre. Also sehr sehr große Unterschiede und auch im Alter von 65 Jahren sind diese noch beträchtlich."
Allerdings hätten sich diese Unterschiede in den vergangenen 25 Jahren vergrößert, sagt Thomas Lampert. Menschen mit geringer Bildung, niedrigem Einkommen und Berufsstatus unterliegen einem zwei- bis dreifach erhöhten Risiko, an Diabetes oder Krebs zu erkranken, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu bekommen. Bei ihnen treten diese Krankheiten vergleichsweise früher auf, verlaufen schwerer und ziehen gravierendere Folgen für Alltag und soziale Teilhabe nach sich.
Verfestigte Armutslagen
Um diese gesundheitliche Ungleichheit zu verringern, sprechen Experten des Public Health seit einigen Jahren von "Health in all Policies" und fordern, dass alle Politikbereiche sich mit Gesundheit befassen. Auch der Gesundheitswissenschaftler Prof. Rolf Rosenbrock betont mit Blick auf das diesjährige Kongressmotto "Politik Macht Gesundheit", Politik müsse so handeln, dass die positiven gesundheitlichen Folgen überwiegen:
"Würde diese Maxime gelten, hätten wir die 30-Stunden-Woche, hätten eine ganz andere Qualität der Partizipation in der Arbeitswelt, hätten wir eine Kindergrundsicherung, wir hätten armutsfeste Renten, und wir hätten eine Besteuerung großer Einkommen und Vermögen, die der gesundheitsfeindlichen Einkommensspreizung entgegenwirkt."
Auf die massive Polarisierung in unserer Gesellschaft verweist auch der Sozialwissenschaftler Stefan Sell und spricht von zwei großen Trends. Neben einer steigenden Zahl an älteren Menschen, die in Altersarmut leben, wachse auch die Gruppe jener, die im Ruhestand über ein hohes Vermögen verfügt und in einer gesundheitsförderlichen Umgebung lebt.
Außerdem verfestigen sich in Deutschland sowohl die Armutslagen als auch die Reichtumsverhältnisse, sagt der Professor an der Hochschule Koblenz. Die soziale Mobilität nach oben nehme vor allem für Kinder und Jugendliche aus dem unteren und durchschnittlichen Einkommensbereich ab. Es sei falsch, nur jene zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung als arm zu bezeichnen, die in manifester Einkommensarmut leben.
"Das sollten wir nicht tun. Wir sollten auch mit Blick auf die gesundheitlichen Folgewirkungen in unserem Land, in Deutschland, hinweisen, dass wir seit Mitte der 90er Jahre haben wir eine wachsende Gruppe an Arbeitnehmern, die im sogenannten Niedriglohnsektor in unserem Land unterwegs sind. Diese Entwicklung hat lange vor den Hartz-Reformen angesetzt. Wir haben zur Zeit 3,7 Millionen – wohlgemerkt sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigte, die weniger als 2.000 Euro brutto pro Monat verdienen, die als LKW-Fahrer arbeiten, die als Verkäuferin arbeiten, als Pflegekräfte, im Erziehungsbereich."
"Gesunde Lebenswelten"
Vor allem mit Blick auf die Kinder fordern Experten wie Rolf Rosenbrock so genannte gesunde Lebenswelten. Was braucht ein Kind, um die Chance zu erhöhen, ein sozial und gesundheitlich gelingendes Leben zu beginnen und zu führen?, fragt er. Den Weg, den Kinder von der Zeugung bis zum Berufseintritt beschreiten, bezeichnet er als Hürdenlauf.
"Wobei für Kinder aus armen Familien die Hürden höher sind, unregelmäßiger stehen und leichter umfallen. Und jede gerissene Hürde die Chancen für die erfolgreiche Nahme der nächsten Hürde verschlechtern. Und darauf gibt es in der deutschen Gesundheitspolitik gleich zwei Wege, darauf zu antworten. Das eine ist mit dem Präventionsgesetz eröffnet: die Lebenswelt-Prävention, die ja, wenn sie richtig gemacht wird, darauf abzielt, auch mit kleinen Kindern, auch in der Kita schon mit dem Maximum an Partizipation die Kinder darüber mit beraten, entscheiden und tun zu lassen, wie ihre Kita aussehen soll, was gegessen werden soll, wie der Tag aussehen soll."
Dass Public Health seinen Fokus weiten muss, war auf dem Kongress ein wichtiges Anliegen. Zu eng hängt die öffentliche Gesundheit hierzulande mit der so genannten Global Health, der Gesundheit der weltweiten Bevölkerung, zusammen – wie Migrationsprozesse und Klimawandel zeigen.
Ein Beispiel: Regelmäßig sucht Berrin Sayan ein Dutzend Flüchtlingsunterkünfte auf, um Frauen in gesundheitlichen Fragen zu beraten. Bei den Gruppengesprächen finden sich 18jährige Mädchen, aber auch ältere Frauen um die 70 ein. Die Sozialarbeiterin vom "Familienplanungszentrum Balance" hört zu und informiert.
"Das Wichtigste ist, auch die genitalen Organe von Frauen zeigen. Wie funktionieren die? Was sind die Hormone? Was ist die Verhütung? Krebsvorsorge-Untersuchung, das ist wichtig. Brust-Selbstuntersuchung. Manchmal ist es auch so witzig oder auch störend manchmal für die Teilnehmerinnen. Weil die ja dadrüber meistens keine großen Gedanken gemacht haben."
Das Projekt trägt seit 2016 dazu bei, die Gesundheitsversorgung von geflüchteten Frauen in Berlin zu verbessern und ist eines von vielen Beispielen aus dem Bereich Global Health.
Gesundheit oder Stabilität des Erdsystems
Planetary Health geht noch darüber hinaus. Wie es den Menschen geht, hängt nach dem neuen Konzept zwar vom sozialen, politischen und ökonomischen System ab, sagt Prof. Sabine Gabrysch vom Heidelberger Institut für Global Health. Letztendlich beruht jedoch alles auf der Gesundheit oder Stabilität des Erdsystems. Wirkt sich doch allein der Klimawandel in vielfältiger Weise negativ auf die Gesundheit aus:
"Einmal gibt es direkte Gesundheitsschäden, zum Beispiel als Folge von Extremereignissen wie Stürmen, Überflutungen, Hitze und Dürre und Feuersbrünsten. Vor allem in Asien leben viele Millionen Menschen in Gegenden, wo es jetzt schon sehr heiß ist und wo es an immer mehr Tagen zu heiß ist, überhaupt draußen sein zu können geschweige denn zu arbeiten in der Landwirtschaft oder im Baugewerbe. Zu den indirekten Folgen zählen zum Beispiel Hungersnöte, weil die Ernten ausfallen aufgrund von Dürren oder Überschwemmungen, Migration infolge davon oder durch Meeresspiegelanstieg. Und dann eben auch die psychischen Folgen durch Extremereignise und durch Migration."
Planetary Health hat im vergangenen Jahr einen Aufschwung erlebt. Wie die Ärztin und Epidemiologin Sabine Gabrysch erzählt, entsteht daraus auch eine soziale Bewegung. Wissenschaftler und Umweltaktivisten beginnen, gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Wie können die Menschen anders handeln – umwelt- und gesundheitsverträglicher?
"Der menschliche Einfluss auf den Planeten ist mittlerweile so umfassend, so global, dass Geologen ein neues Erdzeitalter ausgerufen haben, welches das Holozän ablöst: das Anthropozän, also das Zeitalter der Menschen. Die Kernherausforderung von Planetary Health sind einmal die Beziehung von Menschen und Planet neu zu denken – imagination challenge, die Gesundheitsfolgen globaler Umweltveränderungen zu quantifizieren – der knowledge challenge, und dann Lösungsstrategien für einen umweltverträglichen Lebensstil zu entwickeln und zu evaluieren – der implementation challenge."