Meurer: Was denken Sie denn über den Vorschlag von Staatspräsident Jacques Chirac, den Euro-Stabilitätspakt zu lockern?
Wiegard: Ich halte davon überhaupt nichts. Ich würde es für ganz falsch halten, wenn in dieser Situation der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt gelockert würde. Der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt oder auch der Vertrag von Maastricht ist genau für solche Situationen konzipiert worden, wenn diese dann eintreten, kann man ihn nicht einfach, auch nur vorübergehend, außer Kraft setzen. Das ist wie mit der Abseitsregel. Wenn die diskutiert werden sollte, dann sollte man das nicht gerade machen, wenn die gegnerische Seite ein Abseitstor getreten hat, also der Stabilitätspakt muss eingehalten werden.
Meurer: Nun sind ja die Franzosen oder waren, Fußballweltmeister, müssten sich also auskennen. Aber in der Sache, sagt Chirac, ist unser Problem im Moment nicht ein schwacher Euro, nicht die Inflation. Warum also nicht mehr für die Konjunktur tun?
Wiegard: Das hat nicht mit dem schwachen oder starken Euro zu tun, also mit der gemeinsamen Währung, das hängt auch mit der Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen zusammen. Der Stabilitätspakt soll auch sicherstellen, dass die öffentlichen Finanzen tragfähig sind. Insofern gibt es eine ganze Palette von Begründungen für den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt. Außerdem erlaubt die Defizitobergrenze des Stabilitätspakts, nämlich drei Prozent, genügend Spielraum für konjunkturbedingte Defizite. Vorausgesetzt ist natürlich, dass die einzelnen Mitgliedsländer früher ihre Hausaufgaben gemacht haben, das haben sie zum Teil nicht getan. Frankreich nicht, Deutschland teilweise auch nicht und wollen jetzt die Konsequenzen abwälzen. Das geht nicht.
Meurer: Wie viel ist der Stabilitätspakt denn im Moment überhaupt noch wert, wenn ihn seit 2002 beide Länder nicht einhalten, 2003 wahrscheinlich auch nicht und nächstes Jahr wieder beide über drei Prozent liegen?
Wiegard: Das ist in der Tat kritisch. Der Pakt sieht ja für solche Situationen Vorkehrungen vor, nämlich dass solche Länder zunächst eine unverzinslichte Einlage leisten müssen, die dann hinterher in eine Strafe umgewandelt wird. Der Pakt muss dann wirklich angewendet werden und das würde bedeuten, dass Länder wie vielleicht Deutschland oder Frankreich, die drei Jahre in Folge die Defizitobergrenze überschreiten, sich darauf gefasst machen müssten, eine Geldstrafe zu bezahlen und das könnte im Falle von Deutschland auf bis zu 10 Milliarden Euro rauslaufen.
Meurer: Sie sprechen aber im Konjunktiv. Kommen wird das nicht?
Wiegard: Naja, es gibt eine Reihe von Ausweichmöglichkeiten im Stabilitäts- und Wachstumspakt, darüber muss die EU-Kommission beschließen. Das ist nicht zwangsläufig so, und solche weichen Formulierungen sind auch ganz sinnvoll, aber man müsste das im Prinzip in Kauf nehmen, dass eine Strafzahlung droht, wenn man wiederholt - und zwar zunehmend - diese Defizitobergrenze überschreitet, denn wir hatten im Jahr 2002 3,6 Prozent Defizitquote, das wird in diesem Jahr höher liegen, wir werden an die vier Prozent rankommen und je nachdem, wenn die Steuerausfälle bedingt durch das Vorziehen der dritten Stufe der Einkommenssteuerreform vollständig über Nettokreditaufnahmen finanziert werden, werden wir im nächsten Jahr auch wieder über 3,5 Prozent bei der Defizitquote liegen. Wenn eine realistische Wachstumsannahme unterstellt wird, die Bundesregierung geht noch von zwei Prozent aus, das scheint uns wesentlich zu hoch zu sein.
Meurer: Ist denn überhaupt noch Spielraum vorhanden, irgendwelche zusätzlichen Steuern zu nehmen, um auch nur teilweise das Vorziehen der Steuerreform zu finanzieren?
Wiegard: Von zusätzlichen Steuererhöhungen in dem Sinne, dass die Steuersätze einzelner Steuern erhöht werden, davon würde ich dringend abraten. Es ist Spielraum da, um bestimmte Steuervergünstigungen abzubauen, da wurde ja schon ein Anlauf unternommen mit dem sogenannten Steuervergünstigungsabbaugesetz, das wurde von der Opposition –CDU/CSU und FDP - im Bundesrat gestoppt, ich denke, dass das aber noch mal auf die Tagesordnung gehört.
Meurer: Sind Sie grundsätzlich dagegen, dass zusätzliche Schulden gemacht werden, um das Vorziehen der Steuerreform teilweise zu finanzieren?
Wiegard: Nein, so kann man das nicht sagen. Es wird sich im Endeffekt nicht vermeiden lassen, dass in gewissem Umfang zusätzliche Schulden gemacht werden. Es kommt tatsächlich auf den Umfang an. Gegenwärtig wird diskutiert, dass der Bund seine Steuerausfälle von rund 7,5 Milliarden Euro vollständig über eine höhere Nettokreditaufnahme finanziert und das würde ich in der Tat für falsch halten.
Meurer: Das eiserne Credo der Bundesregierung sparen, sparen und nicht der nächsten Generation aufhalsen gilt ja nicht mehr. Hätten Sie es gerne gesehen, wenn Eichel seinen strikten Sparkurs fortgesetzt hätte?
Wiegard: In dieser Zeit ist ein strikter Sparkus sicherlich auch nicht zu empfehlen, aber mich haben seine Ausführungen immer überzeugt, wenn er über Tragfähigkeit und Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen geredet hat.
Meurer: Der Finanzminister überzeugt Sie also nicht mehr heute?
Wiegard: Ich glaube, es ist weniger sein Problem, ich glaube, Herr Eichel kann manchmal nicht so, wie er selbst gerne möchte.
Meurer: Die Befürworter des Vorziehens der Steuerreform verweisen ja darauf, dass es einen Selbstfinanzierungseffekt gäbe. Wie groß würde der Ihrer Meinung nach sein?
Wiegard: Der würde gering sein. Ein Selbstfinanzierungseffekt würde vor allem dann auftreten, wenn die Steuerausfälle über eine höhere Nettokreditaufnahme finanziert werden, wenn sie vollständig über eine höhere Nettokreditaufnahme finanziert würden, was ich für schlecht halten würde, würde nach unserer Meinung ein zusätzlicher Wachstumsschub von ungefähr 0,2 Prozentpunkten im Jahr 2004 erzielt werden, bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt und die zusätzlichen Steuern ist das wirklich sehr gering.
Meurer: Schulden eher nein, was halten Sie davon, zu privatisieren, Bundesbesitz zu verkaufen für eine Einmalaufwendung für das Jahr 2004?
Wiegard: Da muss man vorsichtig sein. Privatisierungserlöse verschaffen dem Fiskus natürlich zusätzliche Einnahmen, aber sie lösen die Problematik des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes nicht, weil sie nach den Bestimmungen des Systems der europäischen volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung defizitneutral sind. Sie würden eventuell das Problem lösen, dass nicht gegen Artikel 115 unseres Grundgesetzes verstoßen wird, der besagt in einem Passus, dass die öffentliche Nettokreditaufnahme die Ausgaben für öffentliche Investitionen nicht überschreiten darf. Und das würde in der Tat durch Privatisierungserlöse verhindert werden, aber die Defizitquote nach dem Maastricht Vertrag oder dem europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts würde weiterhin hoch sein. Trotzdem müssen Privatisierungserlöse in Betracht gezogen werden, allerdings angesichts der Situation auf den Aktienmärkten müsste da eine Zwischenlösung über die Kreditanstalt für Wiederaufbau gewählt werden.
Meurer: Wie viel könnte in die Kasse des Bundes kommen?
Wiegard: Das kommt darauf an. In diesem Jahr sind schon im öffentlichen Haushalt des Bundes 5,5 Milliarden Euro aus Privatisierungserlösen eingebucht worden, im nächsten Jahr könnten das vielleicht noch mal drei Milliarden Euro sein.
Meurer: Das war der Vorsitzende der fünf Weisen Wolfgang Wiegard bei uns im Deutschlandfunk. Herr Wiegard, ich bedanke mich. Auf Wiederhören.
Wiegard: Danke, auf Wiederhören.
Link: Interview als RealAudio