Freitag, 19. April 2024

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Wissen über die DDR
"Zeitgeschichte ist ein Stiefkind des Geschichtsunterrichts"

53 Jahre nach Beginn des Mauerbaus sei das Wissen über die DDR unter jungen Leuten mangelhaft, kritisiert der Historiker Klaus Schröder. Demokratieerziehung finde in der Schule nicht statt, sagte der Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat im Deutschlandfunk.

Klaus Schröder im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 13.08.2014
    John Runnings demonstriert am 07.08.1986 mit einem Balanceakt gegen den Bau der Berliner Mauer vom 13. August 1961. Mit einem großen Vorschlaghammer führt der 69-jährige Amerikaner vor, was seiner Meinung nach mit dem Bauwerk zu tun sei.
    Die fast vollständige Beseitigung der Berliner Mauer nach dem Mauerfall war ein "geschichtspolitischer Fehler", kritisierte der Historiker Klaus Schröder im Interview mit dem Deutschlandfunk. (picture alliance / dpa / Roland Holschneider)
    Es sei erschreckend, dass Schüler heute aufgrund von Unkenntnis behaupteten, die DDR sei demokratisch gewesen, sagte Klaus Schröder, Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat, im Deutschlandfunk. In der Schule werde Zeitgeschichte nur unzureichend vermittelt. Das Thema DDR werde häufig am Schuljahresende behandelt, wenn Unterricht ausfalle. "Dann rutscht das eben durch", sagte Schröder im DLF.

    Dabei gebe es gute Gründe, den Geschichtsunterricht mit Zeitgeschichte zu beginnen und anschließend zurückzugehen. Statt reinem Vermitteln von Daten müsse der Unterricht mit Leben gefüllt werden, sagte Schröder. Er schlug vor, etwa die Schicksale von DDR-Flüchtlingen im Unterricht zu behandeln. Sinnvoll sei auch, die politischen Systeme von BRD und DDR zu vergleichen. Die Schüler könnten auf diese Weise lernen, was eine Demokratie von einer Diktatur unterscheidet.

    Stattdessen werde die DDR von manchen Lehrern nur sozial betrachtet, da sie zum Teil in ihrer Vergangenheit Sympathien für die DDR gehegt hätten. Dabei hätten Schule, Öffentlichkeit und Politik die Aufgabe, Menschen zu kritischen Demokraten zu erziehen. "Einen geschichtspolitischen Fehler" nannte Schröder die Beseitigung der Mauerreste in Berlin. Es habe sich um "Geschichtsvergessen" gehandelt, so der Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat.

    In Berlin und anderen Städten wird heute an den Beginn des Mauerbaus vor 53 Jahren erinnert.

    Das Interview mit Klaus Schröder in voller Länge:
    Dirk-Oliver Heckmann: Was geschah am 13. August 1961, also genau heute vor 53 Jahren? Ich hatte gerade bereits auf die Studie hingewiesen, die die Bundesstiftung Aufarbeitung in Auftrag gegeben hatte, und die zu dem Ergebnis kam, dass gerade einmal die Hälfte der Deutschen weiß, dass an diesem Tag die DDR-Führung damit begonnen hat, die Mauer zu errichten – bei den jungen Leuten übrigens ist es sogar nur ein Drittel.
    Doch das ist beileibe nicht die einzige Erkenntnis, im Gegenteil, denn jeder fünfte Bundesbürger glaubt, dass die DDR-Führung mit dem Bau der Mauer versucht habe, den Ost-West-Konflikt zu entschärfen. Im Osten Deutschlands glaubt daran sogar ein Viertel der Befragten. Zugeschaltet aus Berlin ist uns jetzt der Leiter des Forschungsverbunds SED-Staat an der FU Berlin, Klaus Schröder. Schönen guten Tag, Herr Schröder!
    Klaus Schröder: Ja, schönen guten Morgen!
    Heckmann: Sie haben ja zuletzt vor zwei Jahren eine ähnliche Studie veröffentlicht, bei der es um die Kenntnisse von Jugendlichen ging und die ja ebenfalls erschreckende Resultate hervorbrachte. Wenn Sie sich jetzt die aktuellen Ergebnisse anhören, wie überrascht sind Sie dann?
    Zeitgeschichte im Schulunterricht: "Es hat sich nichts getan"
    Schröder: Überhaupt nicht überrascht. Ich bin überrascht, dass sich überhaupt nichts geändert hat, denn die Politiker, auch die Bildungspolitiker sagten ja 2008 nach den Veröffentlichungen unserer ersten Studie, jetzt würde was geschehen in den Schulen, das Thema wird auch Abiturprüfungsthema und so weiter. Es hat sich nichts getan. Und heute werden wieder Sonntagsreden gehalten, dass man im Schulunterricht mehr tun soll. Also das ist ein Laufen gegen die Wand, gegen Windmühlen. Ich verstehe das nicht.
    Heckmann: Also was man da genau tun kann, darüber können wir ja im Verlauf des Gesprächs gerne noch mal intensiver sprechen, aber kommen wir erst mal vielleicht mal zu den Ursachen. Sie haben mir vor diesem Gespräch gesagt, bei Ihrer Studie hätte es auch Jugendliche gegeben, die gesagt hätten und die fest davon überzeugt gewesen sind, der Westen hätte die Mauer gebaut, um Armutsflüchtlinge aus dem Osten abzuwehren. Was sind die Gründe für diese frappierende Unkenntnis?
    Schröder: Das ist Resultat von Unkenntnis, und sie wissen aber, dass Europa sich abschottet gegen Armutsflüchtlinge aus Afrika, dass die USA sich abschotten gegenüber Mexiko, und daraus schließen sie – weil sie keine konkreten Kenntnisse über die deutsche Zeitgeschichte haben –, daraus schließen sie: Der reiche Staat grenzt sich ab, macht dicht gegen potenzielle Armutsflüchtlinge.
    Unbewusste Assoziationen statt Kenntnisse
    Das wird übertragen, unbewusst, ohne dass sie das wissen oder darüber reflektieren, sondern das nehmen sie so einfach mit, genau wie Schüler, die nicht wissen, was die DDR eigentlich war, wenn man sie fragt, war die DDR demokratisch, kurz überlegen und dann sagen, ja, natürlich, denn sie hieß ja Deutsche Demokratische Republik. Das heißt, da, wo keine Kenntnisse da sind, werden Assoziationen unbewusster Art getätigt, und dann kommt so was heraus.
    Heckmann: Aber die Frage ist ja: Weshalb verfügen Schülerinnen und Schüler über so wenig konkrete Kenntnisse über die Zeitgeschichte?
    Schröder: Das wird in der Schule offenbar nicht vermittelt oder nicht hinreichend vermittelt. Die Zeitgeschichte ist ein Stiefkind des Geschichtsunterrichts, die kommt ... steht immer am Ende, dann ist oft das Schuljahr zu Ende, Stunden sind ausgefallen, im Osten mögen die Lehrer, die älteren jedenfalls, sich mit diesem Thema auch immer noch nicht beschäftigen. Und dann rutscht das eben durch.
    Insofern wäre es eine Überlegung wert, vielleicht mit der Zeitgeschichte zu beginnen und dann zurückzugehen. Hierfür gibt es gute Gründe, denn es gibt ja nicht nur mangelnde Kenntnisse über die DDR, sondern auch über die alte Bundesrepublik wissen viele Schüler überhaupt nichts. Manchmal denkt man, die Schüler gehen davon aus, es gab den Nationalsozialismus, die DDR und dann kam die Wiedervereinigung. Also das ist schon erschreckend.
    Heckmann: Jetzt ist es ja vielleicht nicht nur eine Frage, wie viel Zeitgeschichte vermittelt wird in der Schule, sondern auch, auf welche Art und Weise, nämlich wie das gemacht wird. Ist da möglicherweise auch eine Ursache zu finden?
    Keine Demokratieerziehung in der Schule
    Schröder: Ja, auf jeden Fall, denn rein das Vermitteln von Daten – die rutschen wieder weg. Sie müssen gefüllt werden mit Leben. Nehmen wir das Beispiel der Abriegelung der DDR, die dann 61 vollendet wurde. Es gab ja eine Grenze durch ganz Deutschland. Man könnte zum Beispiel Lebensschicksale von Flüchtlingen im Schulunterricht behandeln. Es gibt genug Biografien. Dann wird auch klar: Warum wollte jemand die DDR verlassen? Es gab unterschiedliche Motive. Und dann wird das mit Leben gefüllt.
    Gleichzeitig könnte man auch in einem Vergleich Bundesrepublik – DDR aufzeigen: Was unterscheidet eigentlich eine Demokratie von einer Diktatur? Wie waren die Medien, wie war das Gerichtswesen, wie war die Demonstrationsfreiheit oder -unfreiheit? Also an ganz verschiedenen Punkten kann man lebendig machen: Was hat diese beiden Systeme unterschieden? Was ist charakteristisch für eine Demokratie, was für eine Diktatur? Denn das können die Schüler zum größten Teil nicht. Bei unserer letzten Studie kam ja heraus, dass jeder Dritte in Ostdeutschland glaubte, dass die DDR demokratisch legitimiert war, im Westen immerhin noch jeder Vierte. Also da passiert etwas in der Schule nicht, was notwendig ist, nämlich Demokratieerziehung.
    Heckmann: Junge Leute können immer weniger zwischen Demokratie und Diktatur unterscheiden, haben Sie gerade eben noch mal betont. Nur die Hälfte der Befragten, laut Ihrer Studie, konnten sagen, dass das Dritte Reich eine Diktatur gewesen ist, und bei der DDR war es gerade mal ein Drittel, die zu dieser Erkenntnis kam. Auf der anderen Seite war es nur die Hälfte der Befragten, die gesagt hatten, dass es sich bei der alten Bundesrepublik um eine Demokratie gehandelt hat. Man könnte ja auch sagen, das ist alles Vergangenheit – wo ist das Problem?
    "Abstrakte Begriffe müssen mit Leben gefüllt werden"
    Schröder: Das Problem ist, dass ja auch für das vereinte Deutschland ein Drittel das nicht weiß, ob es nun eine Demokratie ist, weil es abstrakte Begriffe sind. Demokratie, Diktatur – da können junge Leute erst mal nichts mit anfangen. Das muss mit Leben gefüllt werden. Es muss aufgezeigt werden: Was hieß das im Alltagsleben? Was hieß das für das politische System?
    Erst dann können sie nachvollziehen und auch die Demokratie schätzen lernen, wenn sie wissen: Was passiert in einer Diktatur eigentlich, sei es im Nationalsozialismus, einer ungleich schlimmeren Diktatur, aber auch in der sozialistischen Diktatur DDR, wo die Menschen entmündigt wurden, wie kleine Kinder behandelt wurden von der SED? Also alles das wird nicht vermittelt. Im Osten kann ich es manchmal nachvollziehen, weil die Älteren sich das schönreden, weil sie ihr eigenes Leben schönreden wollen. Aber im Westen ist es offenbar Desinteresse.
    Heckmann: Es ist ja auch erschreckend: Nachdem das Thema im Unterricht behandelt wurde, sind Sie zu der Erkenntnis gekommen, dass der Anteil derer, die glauben, dass die DDR eine Demokratie gewesen ist, sogar noch anstieg. Können wir uns also politisch-historische Bildung ganz gleich sparen?
    Schröder: Nein, das liegt natürlich an bestimmten Lehrern, die ihren Schülern was erzählen und diese Trennlinien auch verschwimmen lassen. Es ist ja häufig, dass Lehrer sagen, die DDR hatte Demokratiedefizite, und dann wird ein bisschen erzählt, wie sozial sie war, und auf einmal war sie dann doch wieder demokratisch.
    Heckmann: Das wissen Sie, dass das so läuft teilweise im Unterricht?
    Schröder: Ja, es läuft so. Wir haben ja auch mit Schülern geredet, mit Lehrern geredet, und da kommt dann eben heraus, dass die DDR manchmal nur sozial betrachtet wird, die soziale Dimension betrachtet wird, übrigens auch im Westen. Das sind zum Teil Lehrer, die in ihrer Jugend auch Sympathien offenbar für die DDR hatten. Die wollen auch ihre eigene Vergangenheit nicht über Bord werfen.
    Heckmann: Das sind dann aber doch massive Verstöße gegen die geltenden Lehrpläne, oder?
    Schröder: Na ja, wer kontrolliert das? Ich höre immer wieder von Lehrern auch: Man darf den Kindern nicht sagen, die DDR war eine Diktatur, das muss ergebnisoffen geschehen. Da entgegne ich immer, ergebnisoffen aber nur im Sinne des Pluralismus unseres Grundgesetzes, und nicht ergebnisoffen generell. Denn dann ... Was heißt das für den Nationalsozialismus? Sollen wir das auch nicht als Diktatur kennzeichnen?
    Heckmann: Kommen wir noch mal auf die Mauer zurück. In Berlin, da ist es ja gar nicht so einfach, die Stellen zu finden, wo man die Mauer noch einigermaßen authentisch sozusagen – mit Abstrichen natürlich – erleben kann. Die Gedenkstätte Bernauer Straße, die gilt vielen als doch ein bisschen künstlich. War es ein Fehler, die Mauer so gründlich abgerissen zu haben?
    Schröder: Ja, auf jeden Fall, es war Geschichtsvergessen. Man wollte die Vergangenheit so schnell wie möglich hinter sich lassen und hat deshalb alles beseitigt, was zu beseitigen war. Ich halte das für einen geschichtspolitischen Fehler.
    "Gleichgültigkeit gegenüber der Demokratie wäre das Schlimmste"
    Heckmann: Der aber auch nicht mehr zu korrigieren ist?
    Schröder: Nein, der ist nicht zu korrigieren. Es gibt jenseits von Berlin einige Orte, zum Beispiel in Mödlareuth in Bayern, dort ist ein Dorf genauso getrennt worden wie Berlin, deshalb hieß das Dorf auch Klein-Berlin im Volksmund. Da können Sie das noch authentisch sehen, aber hier in Berlin kaum.
    Heckmann: Wir haben also festgestellt, Herr Schröder: Jugendliche wissen sehr wenig über die Zeitgeschichte, über die DDR, auch über die alte und die neue Bundesrepublik. Denken Sie, dass sich das mit dem Alter dann auch irgendwann gibt, oder kommt da ein richtiges Problem auf uns zu?
    Schröder: Ich hoffe nicht. Ich hoffe nicht, dass es zu einer Gleichgültigkeit gegenüber der Demokratie kommt, denn das wäre das Schlimmste. Wir haben das schon mal erlebt in der Weimarer Republik. Wir hatten institutionell eine Demokratie, aber keine Mehrheit von Demokraten. Das ist das, was Schule leisten muss, was die Öffentlichkeit, die Politik leisten muss, Menschen zu kritischen Demokraten zu erziehen, nicht, dass sie alles glauben und alles gut finden, was heute stattfindet, sondern dass sie kritisch damit umgehen, aber dass sie ihr Recht, zu kritisieren, ihr Recht, etwas infrage zu stellen, lernen. Und das kann man nur auch in der Schule, indem auch Kenntnisse vermittelt werden über Zeiten, wo es keine Demokratie gab.
    Heckmann: Am 13. August 1961 begann der Bau der Berliner Mauer, doch nur jeder zweite Deutsche weiß mit dem Datum etwas anzufangen. Und über Ursachen haben wir gesprochen mit Klaus Schröder, dem Leiter des Forschungsverbunds SED-Staat an der FU Berlin. Herr Schröder, danke Ihnen, dass Sie ins Funkhaus gekommen sind!
    Schröder: Ja, bitte. Wiedersehen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.