Sonntag, 28. April 2024

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Wissensgesellschaft erfordert andere Qualifikationen als Industriegesellschaft

OECD-Bildungskoordinator Andreas Schleicher glaubt angesichts des sich verschärfenden Akademikermangels in Deutschland, dass kurzfristig die Einwanderung helfen könnte, die Lücken zu füllen. Langfristig könne es sich aber kein Land leisten, sein Potenzial nicht auszuschöpfen. Das deutsche Bildungssystem sei immer noch auf die Industriegesellschaft zugeschnitten, bemängelte Schleicher.

Moderation: Christian Schütte | 18.09.2007
    Schütte: Schlechte Noten für das Bildungssystem in Deutschland. Daran hat man sich beinahe gewöhnt, spätestens seit der Pisa-Studie. Heute hat die OECD, die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, ihren Jahresbericht vorgelegt. Er heißt "Bildung auf einen Blick" und was darin in den Blick genommen wird, ist die Ausbildung von Fachkräften an den Hochschulen.
    Vor der Sendung habe ich den OECD-Bildungsexperten Andreas Schleicher gefragt, ob er einstimmt in die Wehklagen aus Politik und Wirtschaft über den Fachkräftemangel in Deutschland.

    Schleicher: Wir sehen international einen dynamischen Aus- und Umbau der Bildungssysteme gerade im Bereich der Spitzenqualifikation. Die OECD-Staaten, die Industriestaaten können im Wesentlichen nur noch an der Leistungsspitze konkurrenzfähig sein und hier sehen wir, wenn wir es uns anschauen: vor 40 Jahren hatte gerade mal einer von zehn eine Ausbildung im Universitätsbereich. Heute fangen im OECD-Vergleich mehr als 50 Prozent aller jungen Menschen eine Hochschulausbildung nach der Schule an. Das ist einfach ein enormer Aus- und Umbau, an dem Deutschland so nicht teilgenommen hat.

    Schütte: Wie steht denn Deutschland konkret da im internationalen Vergleich? Wie ist die Situation hier im Land?

    Schleicher: Wir sehen, dass es im OECD-Mittel heute fast dreimal so viele junge Absolventen der Universitäten und Fachhochschulen gibt, wie das in der älteren Generation nahe dem Pensionsalter der Fall ist, während das in Deutschland nicht der Fall ist. Dort ist das Verhältnis eher zwei zu eins. In einigen Bereichen, wenn Sie zum Beispiel an die Ingenieurwissenschaften denken, gibt es heute weniger Absolventen, die gerade aus dem Universitätssystem rauskommen, als in der älteren Generation. Hier schafft es Deutschland noch nicht einmal, Ersatz zu schaffen für die Qualifikationen, die am Ende dann in die Pension gehen.

    Schütte: Wie viele Fachkräfte fehlen denn konkret?

    Schleicher: Ich glaube das ist sehr schwer zu sagen und in Zahlen auszudrücken. Was wir aber sehen, dass sich der Einkommensvorteil einer Universitätsausbildung in Deutschland enorm vergrößert hat und er vergrößert sich jedes Jahr. Sie müssen sehen: Der Einkommensvorteil ist allein in den letzten zehn Jahren um 26 Prozentpunkte gestiegen. Das zeigt, dass die Nachfrage nach Spitzenqualifikationen deutlich schneller wächst als das Angebot.

    International können wir auch beobachten, dass diejenigen, die gut gerüstet sind, die eine Universitätsausbildung haben oder eine entsprechende berufliche Ausbildung, immer bessere Chancen haben - das ist also ein Bild, das man auch international sieht -, während die jungen Menschen, die an einer guten Schulausbildung scheitern, heute sinkende Lebenschancen haben.

    Schütte: Zu wenig Spitzenkräfte in Deutschland. Oft redet man ja auch vom Standort Deutschland. Sehen Sie den in Gefahr?

    Schleicher: Das kann man so nicht sagen. Deutschland hat ja traditionell ein sehr starkes System der beruflichen Ausbildung. Eine gute Basisqualifikation sichert auch einen reibungslosen Übergang in das Berufsleben. Das bleibt weiterhin eine große Stärke des deutschen Bildungssystems, reicht aber heute nicht mehr aus. Man muss einfach sehen: die Wissensgesellschaft erfordert andere Qualifikationen als die Industriegesellschaft, auf die das deutsche Bildungssystem im Wesentlichen zugeschnitten ist. Hier wird Deutschland einiges leisten müssen, um diesen Übergang zu bewältigen.

    Schütte: Und wo ist dann jetzt konkret anzusetzen, um letztendlich mehr Fachkräfte in Deutschland auszubilden?

    Schleicher: Es geht darum, mehr junge Menschen zu gewinnen für eine Teilnahme an einer tertiären Ausbildung, ihnen diese Perspektive zu eröffnen, sehr, sehr früh in der Schule, dass also praktisch allen jungen Menschen, denen es bewusst ist, dass es heute nicht mehr ausreicht, eine schnelle Berufsausbildung zu bekommen, sondern dass man den eigenen Horizont lebensbegleitend ausbaut durch eine Ausbildung im Spitzenbereich, diese Chance ermöglicht wird. Wir sehen wachsende Einkommen für die, die gut gerüstet sind, sinkende Lebenschancen für die, die an einer guten Ausbildung scheitern.

    Schütte: Welche Rolle spielt die soziale Herkunft?

    Schleicher: Deutschland ist eines der Länder, wo die soziale Herkunft in der Hochschule mit den größten Einfluss hat auf die Teilnahme. Wenn Sie sich das anschauen: die meisten der jungen Menschen, die eine Hochschulausbildung haben, haben Eltern, die das dann auch schon gemacht haben. Also da sieht man sehr großen Einfluss des sozialen Kontextes, trotz öffentlicher Finanzierung. Man hat oft so gedacht, solange der Staat das zahlt hat jeder Zugang, aber man sieht eben hier, dass die Barrieren ganz woanders liegen. Die liegen nicht in der Finanzierung, sondern die liegen darin, dass vielen jungen Menschen der Zugang zum Hochschulsystem einfach sehr früh verbaut wird.

    Schütte: Ist diese Entwicklung, dass zu wenig Fachkräfte ausgebildet werden und dass die soziale Herkunft eine Rolle spielt, bereits eine Folge der Einführung beispielsweise von Studiengebühren in vielen Bundesländern?

    Schleicher: Sehen Sie die starke Abhängigkeit von der Teilnahme am Universitätssystem vom sozialen Kontext gab es ja schon lange vorher, als es keine Studiengebühren gab. Was unsere Indikatoren sehr deutlich machen, dass eine öffentliche Finanzierung keine Garantie für Chancengerechtigkeit ist. Die Ursachen hier liegen sehr viel tiefer.

    Die OECD zeigt zum Beispiel, dass es viele Länder gibt, die trotz Studiengebühren wesentlich gerechteren Zugang zum tertiären Bildungssystem haben. Diesen Zusammenhang zu sehen - - Die Studiengebühren sind sicherlich nicht die entscheidende Erklärung für die Abhängigkeit, denn wie gesagt die Abhängigkeit des Bildungserfolges vom sozialen Kontext gab es auch schon lange vor den Studiengebühren in eben solchem Maße.

    Schütte: Nun hat beispielsweise die EU-Kommission angeregt, verstärkt Fachkräfte aus dem Nicht-EU-Land, aus Asien oder Afrika anzuwerben. Stichwort "Blue Card". Könnte dies vorübergehend helfen?

    Schleicher: Klar. Das machen einige Länder ja auch ganz erfolgreich. Wenn Sie zum Beispiel in die USA schauen: dort wird ein erheblicher Anteil der Fachkräfte aus dem Ausland angeworben. Das mag sicherlich ausreichend sein für einen Übergangszeitraum. Langfristig kann es sich aber kein Land leisten, sein Potenzial nicht vollständig auszuschöpfen, denn Sie müssen einfach sehen: für diejenigen Menschen, die heute keine gute Ausbildung haben, werden die Chancen einfach schlechter. Die Globalisierung ist heute nicht mehr eine Frage, wie man mit Ländern wie China konkurriert, die niedrige Qualifikation zum günstigen Preis anbieten, sondern auch das sind Länder, die in ihren Bildungssystemen enorme Fortschritte machen. Wir können zum Beispiel davon ausgehen, dass im Jahre 2015 ein Land wie China jedes Jahr mehr als doppelt so viele Hochschulabsolventen auf den Markt bringt wie Europa und die USA zusammen. Der Durchschnittsdeutsche wird sich mit den besten Chinesen messen müssen und da geht die Entwicklung hin. Kurzfristig kann Migration also helfen, die Lücken auszufüllen, aber langfristig kann es sich kein Land leisten, hier das Potenzial aller Menschen nicht vollständig zu nutzen.

    Schütte: Über die heute vorgelegte Studie zum Fachkräftemangel in Deutschland sprach ich mit dem Bildungskoordinator der OECD Andreas Schleicher.
    Andreas Schleicher, Leiter der OECD-Abteilung Bildungsindikatoren und -analysen stellt am 6. Dezember 2004 in Berlin die Ergebnisse der PISA/Studie 2003 vor
    Andreas Schleicher, Leiter der OECD-Abteilung Bildungsindikatoren und -analysen vor drei Jahren mit der Pisa-Studie. (AP)