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Wohnungsnot
Tübingen will Grundeigentümer zum Bauen zwingen

Wohnraum ist rar und teuer – nicht nur in den deutschen Metropolen, sondern auch in kleineren Städten. Der grüne Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, will das ändern - mit einer umstrittenen Maßnahme: Dem Baugebot für Grundstückseingentümer.

Von Thomas Wagner | 26.06.2019
Tübinger Altstadt mit Hölderlinturm und Stiftskirche am Neckar, Tübingen, Baden-Württemberg.
Pittoreske Altstadtbauten: Es ist schön in Tübingen zu wohnen - aber auch ganz schön teuer (picture alliance / Imagebroker)
Tübingen, Innenstadt: Pittoreske Altstadtbauten prägen das Stadtzentrum. Es ist schön, hier zu wohnen, aber auch teuer – sagen vor allem die vielen Studierenden, die hier vorbei flanieren: "Ist schon schwierig hier. Ich glaube, Tübingen ist eine der teuersten Städte in Deutschland, was den Wohnraum anbelangt, ja." - "Schon sehr schwierig: 350 Euro warm für 16 Quadratmeter. Aber es ist auch in der Altstadt."
OB Palmer: "Wir brauchen wieder einen Mietendeckel"
"Die Tübinger Verhältnisse sind sogar schlimmer als die in Berlin. Wir gehören zu den zehn teuersten Städten in Deutschland", klagt Tübingens grüner Oberbürgermeister Boris Palmer im Rathaus gleich nebenan. Zu wenig Wohnraum, zu teure Mieten: Was in der Bundeshauptstadt zum Riesenproblem geworden ist, beschäftigt längst auch die Verantwortlichen in der schwäbischen Provinz: "Nach meiner Auffassung brauchen wir wieder eine Mietpreiskontrolle, einen Mietendeckel, wie es ihn Ende der Sechzigerjahre gegeben hat: Keine Mieterhöhung war zulässig ohne Zustimmung der Gemeinde. Tübingen ist aber kein Bundesland und hat dafür keine eigene Rechtssetzungskompetenz."
Will heißen: Was in Berlin beschlossen wurde, geht in Tübingen erst einmal nicht - nämlich ein rechtlich verbindlicher "Mietendeckel". Deshalb sinnt Palmer auf anderem Weg auf Abhilfe: Wenn nur mehr Wohnungen gebaut würden in Tübingen, würde dies, so seine Annahme, zu einer Entspannung des Wohnungsmarktes und möglicherweise sogar gleichbleibenden Mieten führen: "Wir haben nachgezählt: In Tübingen gibt es etwa 500 baureife Grundstücke. Es wäre Platz für etwa 2000 Einwohner. Und im Schnitt liegen die schon 20 Jahre oder länger unbebaut herum."
Wohnraum schaffen per Gebot
Unbebaute Grundstücke im Schwäbischen, auf denen kein "Häusle" steht: Angesichts der Wohnraum-Knappheit in Tübingen ist das für Palmer ein unhaltbarer Zustand. Den will er folgendermaßen beheben: "Es gibt dort im Baugesetzbuch einen Paragraphen mit der Nummer 176, der ganz klar sagt: Wenn in einer Stadt Wohnungsmangel festgestellt ist - das gilt für Tübingen - dann besteht die Möglichkeit, dass der Bürgermeister per Bescheid ein Baugebot erlässt. Das heißt: Es muss das gebaut werden, was auf dem Grundstück auf dem Bebauungsplan zulässig ist."
Das teilte Palmer per Brief dann auch den Eigentümern der 500 Grundstücke mit. Die Grundstückseigentümer sollen sich erklären, wie sie mit ihrem Grund und Boden umzugehen gedenken: Bebauen? Verkaufen? Vielleicht sogar an die Stadt?
"Und wenn sie sich weigern, dann wird ein solches Baugebot die Konsequenz sein. Wird ein Baugebot ignoriert, kann ein Bußgeld von 50 000 Euro erlassen werden. Spätestens dann werden die meisten bauen oder verkaufen. Wer dann immer noch uneinsichtig ist, muss auch mit einem Enteignungsverfahren rechnen."
Palmers Plan stößt auf Ablehnung
Pikanterweise darf laut Gesetz der Oberbürgermeister einer Stadt all dies alleine verfügen, ohne Gemeinderatsbeschluss, was Palmer auch zu tun gedenkt. Allerdings: Baugebote erlassen, oder sogar mit Enteignungen drohen - das ist für viele eine Spur zu heftig.
"Wir sind natürlich entschieden dagegen, einen Zwang, eine Bevormundung einzuführen! Um das dann durchzusetzen, wird, wenn sich jemand wehrt, nicht unter fünf, sechs Jahren der Fall sein", sagt Helmut Failenschmid. Der Vorsitzende des Vereins "Haus und Grund" in Tübingen, ist verärgert über den Palmer-Brief an die Grundstückseigentümer. Er verweist auf ein sehr kompliziertes Verfahren, das dem Erlass eines Baugebotes vorangeht: Die Eigentümer müssten gehört und deren Argumente, warum sie auf ihrem Grundstück bisher nichts gebaut haben, berücksichtigt werden. Und solche Gründe gebe es eine ganze Menge:
"Persönliche Gründe: Alter, fortgeschrittenes Alter. Oder familiäre Gründe: Da sind drei, vier Kinder da, von denen noch nicht klar ist: Wo etablieren sie sich beruflich? Werden sie in Tübingen bauen? Und wirtschaftliche Gründe: So ganz schnell mal eine Wohnung zu bauen oder ein Einfamilienhaus zu bauen - das geht über die Kräfte normalerweise. Das muss langfristig geplant werden."
Baugebot entlastet Wohnungsmarkt nicht zwingend
Und selbst wenn ein betroffener Grundstückseigentümer dem Baugebot folgt, müsse das längst noch nicht zu einer Entlastung des angespannten Wohnungsmarktes führen: "Das Baugebot bedeutet ja nicht, dass vorgeschrieben wird, was gebaut wird: Wir haben Baufreiheit. Herr Palmer kann nur sagen, ob gebaut wird. Wie gebaut wird, entscheiden die Eigentümer selber." Ein Einfamilienhäuschen in einer Baulücke gebe nicht unbedingt eine günstige Studentenbude her, so der Haus-und-Grund-Vorsitzende.
Boris Palmer ficht das alles nicht an. Er ist entschlossen, das Instrument des Baugebotes zu nutzen und Grundstückseigentümer zum Bauen zu zwingen. Denn: "Städte funktionieren nicht mehr, wenn dort weder Krankenschwestern noch Erzieherinnen noch Feuerwehrleute noch Polizisten wohnen können. Wir brauchen die in den Städten. Man kann nicht nur mit Professoren und Oberbürgermeistern eine Stadt betreiben. Und aus diesem Grund muss sich etwas ändern!"