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Wolfgang Herles: "Die Gefallsüchtigen"
Die Quoten der Nachtwächter

"Das Fernsehen wird unterschätzt", sagt TV-Journalist Wolfgang Herles, der eine beißende Medienkritik in ein Buch packt. Selbst Schuld, wenn die Macher nur auf die Einschaltquote schielen. In den Programmen wie in der politischen Debatte sei Fühlen wichtiger als Reflektieren.

Von Brigitte Baetz | 14.09.2015
    Einschaltquoten im ARD-Videotext
    Die Fernsehmacher schielen laut Herles nur noch auf die Quote, nicht auf die Qualität einer Sendung. (Deutschlandradio / Sebastian Döring)
    "Der morgendliche Anruf des Programmdirektors nach meiner ersten Aspekte-Sendung im Januar 2000 beginnt so:
    'Das war ja wohl ein Fehlstart.'
    Ich warte auf eine Begründung.
    Der Direktor schweigt.
    'Was hat Ihnen nicht gefallen?'
    'Kennen Sie denn nicht die Zahlen?'
    Ich kenne sie noch nicht.
    'Teletext, Seite 446', knurrt er.
    Dort werden jeden Morgen um halb neun die Zahlen des Vorabends veröffentlicht. Zur Sendung selbst will dem Direktor kein einziger Satz einfallen, obwohl er sie gesehen hat."
    So beginnt Wolfgang Herles' Abrechnung mit dem modernen Fernsehjournalismus, dessen Macher seiner Meinung nach nur noch auf die Quote schielen und die Qualität einer Sendung für zweitrangig erachten. Doch es geht ihm nicht nur um die Medien, sondern auch um die Politik, denn die Politiker, so sagt Herles, agierten ähnlich wie Medienmacher, nämlich mutlos und konformistisch. Deshalb habe er sein Buch auch "Die Gefallsüchtigen" genannt.
    "Quote ist der Inbegriff der Gefallsucht"
    "Weil die Gefallsucht das ist, was unsere Gesellschaft schwächt – sowohl in der Politik: es geht nicht mehr um Haltungen, es geht nicht mehr um Programme, es geht darum, wer den Bürgern gefällt – und das spiegelt sich dann genau in den Massenmedien. Von den Printmedien, die in Gefahr sind, weil das Geschäftsmodell zusammenbricht unter der Konkurrenz des Internets, geht's nur noch um Klickzahlen, geht's nur noch um Gefälligkeit und wir – die Einzigen, die davon befreit sind, gefallsüchtig zu sein, denn wir kriegen ja Gebühren, weil wir einen gesellschaftlichen Auftrag haben, wir jagen nur noch der Quote nach. Die Quote ist der Inbegriff der Gefallsucht."
    Herles beschreibt an einem kleinen Beispiel, wie sich medialer und politischer Konformismus aufs Trefflichste begegnen: Beim CDU-Parteitag in Köln Ende 2014 bewirbt sich ein Kandidat mehr, als Präsidiumsposten zu vergeben sind. Unruhe bei den Delegierten, Unruhe bei den Medienvertretern. Doch warum eigentlich, fragt Herles. Für ihn ist das eher ein Mangel an innerparteilicher Demokratie, wenn sich eben nur ein Kandidat mehr bewirbt, als Plätze vorhanden sind. Er schreibt über den weiteren Verlauf des Parteitages:
    "Gesundheitsminister Hermann Gröhe, Merkel treu ergeben, zieht seine Kandidatur auf Geheiß zurück. Nun aber berichtet der Reporter nicht mehr. Starr vor Bewunderung kommentiert er: 'Die Partei erspart sich eine Blamage. Angela Merkel hat auch diesen Konflikt sanft entschärft.' Welchen Konflikt? Welche Blamage? Und was heißt: entschärft? (...) Die kleinste Dissonanz im feierlichen C-Dur des Feldgottesdienstes zu Ehren der heiligen Angela interpretiert der ZDF-Reporter um, gibt einen Tusch auf deren Führungsstärke zum Besten. Mit keiner Silbe aber deutet er auch nur an, weshalb Jens Spahn die Kampfkandidatur gewagt hat."
    Die Programme werden immer flacher
    Der Fernsehreporter in der Rolle des Nachtwächters, der die Friedhofsruhe einer diskussions- und konfliktunfähigen Partei behütet - für den Autor das Krisensymptom der ganzen Gesellschaft. Die Programme sowohl der politischen Parteien als auch der Fernsehsender werden immer flacher, so diagnostiziert der Autor. Bei beiden regiere der angebliche Mainstream, anregend Aufregendes sei nicht mehr gefragt. Selbstzufrieden und denkfaul versäumten wir Deutschen, uns den Zukunftsfragen zu stellen, sagt Herles.
    "Demokratie heißt Diskurs. Man müsste sich über die großen Fragen gemeinsam Gedanken machen. Man müsste um die Lösungen der großen Fragen gemeinsam ringen. Aber die meisten großen Fragen werden gar nicht diskutiert, es sei denn sie werden virulent durch die Ereignisse – also Grexit war ein Beispiel, die Flüchtlinge sind ein anderes Beispiel. Wir haben jahrelang nicht über Europa nachgedacht, Europa war geradezu ein Quotenkiller, wie wir im Fernsehen gesagt haben. Am liebsten haben wir gar nicht hingeguckt und wieder kam es zu einem Ereignis, die Pleite Griechenlands, und dann wurde wieder nicht diskutiert nach diesem alten, blöden Satz von Frau Merkel: Stirbt der Euro, stirbt Europa, der unsinnig ist, wurde wieder nicht diskutiert, sondern einfach nur gesagt: wir müssen da durch."
    Die Medien, allen voran das Fernsehen, hinterfragten nichts mehr, setzten auch selbst keine Themen mehr. Im Internet werde durchaus diskutiert, aber nur jeweils unter Gleichgesinnten. Eine wirkliche Debatte finde auch dort nicht statt. Die Vermittlung von ernsthafter Kultur, für Wolfgang Herles eine der wichtigsten Aufgaben der öffentlich-rechtlichen Sender, werde sträflich vernachlässigt. Dabei schärfe doch Kultur den Blick, so Herles, für das, was gut, richtig und wichtig sei.
    "Das Fernsehen wird unterschätzt, weil es ja als reines Unterhaltungsmedium missbraucht wird. Es ist aber das letzte Medium, das noch Mehrheiten erreichen könnte – auch erreichen könnte mit ernsthafteren, strittigeren, unbequemeren, unkonventionelleren Inhalten. Wir nutzen diese Chance aber nicht. Wir senden Sport ohne Ende, dafür sind die Gebühren bestimmt nicht da. Wir senden Krimis ohne Ende, senden jeden Tag mehrere Krimis, als ob Krimis die Realität abbilden würden. Das sind die Märchen unserer Zeit. Und in den zahllosen Talkshows wird zwar geredet, aber nicht wirklich debattiert, denn es läuft immer auf das Fühlen hinaus. Wir sind in einer politischen Situation, in der das Fühlen – Willkommenskultur nur als Beispiel, gegen die ich nichts habe – aber das Fühlen gilt uns mehr als das Wissen und mehr als das Reflektieren."
    Herles' Denkfehler
    Was tun gegen den Substanzverlust in der politischen Debatte und die Verflachung der Fernsehprogramme? Herles hat ein relativ einfaches Rezept parat: er ist dafür, ARD und ZDF neu zu organisieren - etwa über das Institut einer Stiftung - und sie nicht mehr über einen Beitrag, sondern über Steuern zu finanzieren. Doch ob das mit der Staatsferne zu vereinbaren ist, wäre die verfassungsrechtliche Frage. Und das klug analysierende und flott zu lesende Buch enthält noch einen Denkfehler. Denn der Autor beklagt zu Recht, dass die Öffentlich-Rechtlichen die Kultur aus den Hauptprogrammen auslagern und damit die Chance verpassen, große Massen dafür zu interessieren. Wenn ARD und ZDF, wie er es empfiehlt, weitgehend auf Sport und Unterhaltung verzichten, werden sie in der Konkurrenz mit den Kommerzkanälen genau zu den Spartensendern, die auf der Fernbedienung nach hinten programmiert werden.
    Wolfgang Herles: "Die Gefallsüchtigen - Gegen Konformismus in den Medien und Populismus in der Politik"
    Knaus, 256 Seiten, 19,99 Euro
    ISBN 978-3-8135-0668-6