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Wolfgang Herrndorf: "Stimmen"
Letzte Bilder einer großen Liebe

Der 2013 verstorbene Schriftsteller Wolfgang Herrndorf hat die Veröffentlichung seiner nachgelassenen Texte akribisch geregelt. Mit "Stimmen" ist nun posthum eine Sammlung von Texten der unterschiedlichsten Gattungen erschienen, von Kindheitserinnerungen bis hin zu Gedichten.

Von Christoph Schröder | 06.11.2018
    Wolfgang Herrndorf
    Wolfgang Herrndorf: "Falls ich jemals etwas anderes als reine Fiktion schreiben sollte, erschießen Sie mich bitte" (dpa / picture alliance / Erwin Elsner)
    Im August 2013 starb der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf durch eigene Hand im Alter von 48 Jahren. Rund drei Jahre zuvor war bei ihm ein bösartiger Hirntumor diagnostiziert worden. Herrndorf war ein Schriftsteller, der sich sowohl beim Publikum als auch bei der Kritik größter Beliebtheit sicher sein konnte: In seinem viel frequentierten Internetblog "Arbeit und Struktur" berichtete Herrndorf ab März 2010 über den Verlauf seiner Krankheit und die Fortschritte seiner Arbeit. Sein Roadmovie "Tschick" stand mehr als ein Jahr auf den Bestsellerlisten und wurde 2016 von Fatih Akin verfilmt. Der Nachfolgeroman "Sand" wurde 2012 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Aus dem Nachlass ist bereits das Romanfragment "Bilder deiner großen Liebe" erschienen. Nun hat der Rowohlt Verlag mit "Stimmen" einen weiteren Band posthum publiziert. Das Buch trägt den Untertitel: "Texte, die bleiben sollen".
    Nach der Tumor-Diagnose begann Wolfgang Herrndorf umgehend, seinen Nachlass zu ordnen. Er baute die Festplatte aus seinem Computer aus und zerstörte sie. Er warf Ordner mit Prosatexten und Zeichnungen in den Müll. Und er veröffentlichte Fotos seiner mit Wasser gefüllten Badewanne, in der seine Notizen schwammen. Andererseits aber fand sich auf seinem Rechner ein Ordner mit dem Namen "Unbesehen löschen", den Herrndorf selbst aber wiederum nicht gelöscht hatte. Daran sieht man, dass es keine einfache Aufgabe für die beiden Herausgeber Marcus Gärtner und Cornelius Reiber gewesen sein kann, eine Sammlung von Texten auszuwählen, die in den Augen des Autors Gnade gefunden hätte.
    Wir höflichen Paparazzi
    Die Herausgeber haben sich in verantwortungsvoller Herangehensweise dafür entschieden, eine möglichst heterogene Mischung von Textsorten aus dem von Herrndorf selbst frei gegebenen Nachlass zusammenzustellen. Diese Mischung wiederum haben sie nach Gattung und nach thematischen Schwerpunkten sortiert.
    "Stimmen" heißt der Band, und unter diesem Pseudonym schrieb auch Wolfgang Herrndorf im Internetforum "Wir höflichen Paparazzi". Ein Großteil der Texte aus dem vorliegenden Buch ist dort bereits veröffentlicht worden. Gerade im ersten Teil tritt einem ein erstaunlich ungeschütztes Ich entgegen. Ein Ich, das von zum Teil peinlichen, demütigenden, aber auch aufregenden Kindheitserlebnissen berichtet.
    Die erste Geschichte ist die einer ersten Liebe, erlebt im Alter von fünf Jahren. Katharina und der Ich-Erzähler wohnen im gleichen Haus. Sie spielen gemeinsam in den Feldern, einmal küssen sie sich, einmal zünden sie ein Feuer an und verbrennen sich beide die Finger – ohne dass einer von beiden es sich anmerken lässt. Die erste große Liebe endet so, wie so etwas eben endet: Ohne ein richtiges Ende.
    Ist das dramatisch? Oder ganz normal? Bei Herrndorf erscheint es als eine Mischung aus beidem:
    "Wir wohnten noch mindestens zehn Jahre im selben Treppenhaus, ohne miteinander zu tun zu haben. Nur einmal wollte jemand wissen, wie Katharina und ich uns früher geküsst hätten. Ich demonstrierte es, alle lachten, und mir machte das nichts aus. Es war die letzte Berührung mit einem Mädchen, bis ich erwachsen war."
    Herrndorfs Stil und seine Tonlage sind schwer zu charakterisieren, weil beide innerhalb eines einzigen Satzes umschlagen können. Herrndorf kann nüchtern schreiben und lakonisch, er hat einen mal subtilen, dann wieder krachenden Humor.
    Die untergehende Sonne im Rückspiegel
    Zugleich aber spricht aus den Texten, die nur selten mit einer offenen Pointe enden, ein sorgfältig kaschierter Wille zur Poetisierung. Anders gesagt: Die Erzählungen sind eindeutig in der Gegenwart angesiedelt. Vor allem im zweiten Teil von "Stimmen" finden sich viele Motive, die auch in den Romanen verarbeitet wurden. Doch unter dieser Realitätsoberfläche blitzt das Unwahrscheinliche, Abseitige, Skurrile ebenso hervor wie das Schöne.
    In einer Geschichte, die sich wie eine frühe Vorarbeit zu "Tschick" liest, klaut der Ich-Erzähler einen unverschlossen abgestellten gelben Wartburg und fährt einfach los. Während der Fahrt geraten die Gesetze der Plausibilität zunehmend außer Kraft. Stattdessen geht es um die Bewegung, um das Fortkommen an sich:
    "Als ich endlich die Feldmark erreichte, begann es zu dämmern. Ich suchte das Licht, es funktionierte. Auch das Radio funktionierte. Es war großartig. Ich wusste eigentlich nicht, wo ich hinwollte. An der untergehenden Sonne im Rückspiegel sah ich, dass ich Richtung Nordosten fuhr, und wenn mich nicht alles täuschte, würde ich früher oder später am Meer oder in Polen rauskommen. Das erschien mir beides richtig, und ich gab Gas."
    Es gibt keine Literaturtheorie
    Der dritte Teil von "Stimmen" besteht aus eher essayistischen Texten, die die Sprache und das Schreiben, nicht nur das eigene, reflektieren. Auch hier stößt man wieder auf ein Herrndorf’sches Paradoxon: Wenn es überhaupt ein Schreibprogramm gab, dann bestand es in der Ablehnung jeglicher ästhetischer Festschreibungen.
    Diese Ablehnung bezieht sich auch auf einen festgefügten Literaturkanon. Wenn Herrndorf spöttisch und ironisch die vermeintliche Bedeutsamkeit des "Tristram Shandy" auseinandernimmt und die Bedeutung von Weltliteratur darauf reduziert, dass ihre Nichtlektüre ein schlechtes Gewissen bereitet – dann ist das nicht nur sehr lustig, sondern hat auch etwas Befreiendes. Herrndorfs Anspruch lautet: Keine allgemeinen Ansichten über Literatur, weder von Autoren, noch von Germanisten oder Kritikern, denn:
    "Schreibtheorien von Leuten, die selbst nicht schreiben, kann man noch weniger ernst nehmen. Insofern: Es gibt keine Literaturtheorie. Es gibt keine guten Gattungen, es gibt keine großen Würfe, es gibt keine Zeitforderungen, es gibt nur die Kunst und den Mist."
    Auch das ist, versteht sich, eine Theorie und wird in einem nichtfiktionalen Text formuliert. In schönster Dialektik folgt dann kurz darauf die Zuspitzung:
    "Falls ich jemals etwas anderes als reine Fiktion schreiben sollte, erschießen Sie mich bitte."
    Eine Mischung aus Gernhardt und Erhardt
    Das Überraschendste an dem Band "Stimmen" dürfte die Zusammenstellung von knapp 20 Gedichten sein, die den Abschluss des Buches bilden. Es sind Werke, die zum Teil in den späten 1980er-Jahren geschrieben wurden. "Alles während meines Studiums, manches vielleicht vorher", so lautet die vage Datierung, die der Autor selbst vorgenommen hat. Doch offensichtlich wollte Herrndorf, dass auch die Gedichte von ihm bleiben und gelesen werden.
    Ihnen ist das Ausprobieren anzumerken. Herrndorf variiert und parodiert darin Tonfälle und klassische Strophen- und Reimformen. Er schreibt Liebes-, Tier- und Naturgedichte. Er betrachtet, wie auch in jener Erzählung, die er beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt vorgetragen hat, den Mond. Er spielt die gängigen Motive von Einsamkeit und Sehnsucht durch. Und dann wiederum kann Herrndorf klingen wie eine Mischung aus Robert Gernhardt und Heinz Erhardt:
    "Das Schweigen
    Am Abend, wenn der Himmel Glut wird,
    Die Häschen husch das Feld durchmessen,
    Wenn mir unendlich still zumut wird,
    Und was ich wollte, ist vergessen –
    Wenn sanft der Tau vom Himmel rollte,
    Steh an den Eichbaum ich gelehnt;
    Und hab vergessen, was ich wollte,
    Wie schon in Zeile 4 erwähnt."
    Der Grundton ist die Melancholie
    Möglicherweise sind die Gedichte literarisch entbehrlich. Aber sie runden das Bild eines sympathischen, angenehm zurückhaltenden Buches ab, das nicht in kleinen Texten den großen Autor behaupten will. "Stimmen" ist keine Sammlung bedeutender Texte, aber ein Buch, das Kunstfertigkeit und Formbewusstsein dokumentiert.
    Der Grundton ist der einer Melancholie, die immer im richtigen Augenblick, also: gerade noch rechtzeitig vor dem Pathos, von Ironie, Spott oder Drastik durchbrochen wird. "Stimmen" wird, so schreiben die Herausgeber, das letzte Buch aus Herrndorfs Nachlass sein. Es ist ein in seinem Understatement würdiger Abschluss.
    Wolfgang Herrndorf: "Stimmen"
    Rowohlt Verlag, Reinbek,
    192 Seiten, 18 Euro