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Wowereit verteidigt Ethik-Unterricht

Jochen Spengler: In anderthalb Jahren soll es laut Beschluss der Berliner SPD an Berlins Schulen ein neues Pflichtfach geben. Es heißt Lebenskunde/Ethik/Religion - L.E.R. Wer lieber in den katholischen oder evangelischen Religionsunterricht will, der kann sich nicht, wie in Brandenburg, dafür entscheiden, sondern muss den freiwillig tun aber zusätzlich. Ein Beschluss, der vor allem bei der Union bundesweit auf Protest stößt, die heute eine Aktuelle Stunde im Bundestag beantragt hat. Aber auch in den eigenen Reihen, bei den Sozialdemokraten, herrscht Unmut. Der Kanzler, Bundestagspräsident Thierse, Parteichef Müntefering, Klaus Mönnig, Johannes Rau, sie alle äußerten sich negativ. Vor der Sendung haben wir mit dem regierenden Bürgermeister von Berlin, dem SPD-Politker Klaus Wowereit, gesprochen und ihn gefragt, ob ihn die Kritik anficht oder ob er nach dem Motto handele "Viel Feind, viel Ehr".

Moderation: Jochen Spengler |
    Klaus Wowereit: Das ist nicht eine Frage von Feindschaft, sondern eine Frage in einer demokratischen Partei von unterschiedlichen Meinungen. Die sind legitim, gerade bei so einem Thema, wo es ja um Wertvermittlung geht, gibt es natürlich auch Streit innerhalb einer Partei. Der ist ausgetragen worden. Die Berliner SPD hat mit glaube ich 77 Prozent der Stimmen auf dem Landesparteitag sich entschieden, nämlich für ein verbindliches Unterrichtsfach Ethik/Philosophie und Beibehalten des freiwilligen Angebots von Religion. Das heißt der Religionsunterricht in bisheriger Form wird genauso weitergeführt werden und das ist aus meiner Sicht auch eine richtige Entscheidung.

    Spengler: Das Problem ist ja, dass nicht mehr gewählt werden soll, oder dass überhaupt nicht gewählt werden soll, wie zum Beispiel im Land Brandenburg. Warum ermöglichen Sie das nicht?

    Wowereit: Nochmals: An der über 50-jährigen Praxis im Land Berlin, die in der Tat auch in der Bundesrepublik Deutschland eine Sonderposition war, war in Berlin immer die Regelung, dass die Kirchen eigenverantwortlich, auf freiwilliger Basis Religion in der Berliner Schule anbieten. Das hat in den letzten 50 Jahren gut geklappt und das wird auch in den nächsten 50 Jahren gut klappen. An diesem Status wird überhaupt nichts verändert. Ich glaube, das wird in der öffentlichen Kommunikation immer so dargestellt, als ob die SPD sich gegen Religionsunterricht ausgesprochen hat. Mitnichten, es bleibt bei der bisherigen Praxis. Wir sagen aber, ergänzend dazu, sollen alle Kinder gemeinsam, egal ob sie zum katholischen Religionsunterricht gehen, egal ob sie in den jüdischen Unterricht gehen oder gar keinen Unterricht im Glaubensbekenntnis besuchen, sollen die Schüler gemeinsam, alle zusammen darüber diskutieren und Möglichkeiten haben, ein Unterrichtsfach zu bekommen, wo man über ethische Grundlagen, über moralische Grundlagen, über natürlich auch Weltreligionen sich austauscht, und zwar gemeinsam. Was daran falsch sein soll, kann ich nicht erkennen.

    Spengler: Nun, der Bundestagspräsident Thierse hat es vielleicht so gesagt, dass man es verstehen kann. Er hat gesagt, dass er selber ein fleißiger religiöser Schüler gewesen sei, aber wenn bei ihm Ethik Pflichtfach gewesen wäre und Religion freiwillig, dann wäre wahrscheinlich auch er kaum länger in die Schule gegangen. Und das ist doch ein realistisches Bild, dass man damit sozusagen die Religion aus den Schulen sozusagen herausdrängt.

    Wowereit: Nein, das ist überhaupt kein realistisches Bild.

    Spengler: Wer geht denn da freiwillig länger in die Schule?

    Wowereit: Beispielsweise die Elternhäuser oder die Kinder, die sich bewusst für Religion entscheiden. Es ist doch eine zutiefst persönliche Angelegenheit, dass ich sage, ich als Katholik gehe in den katholischen Religionsunterricht. Ich als Protestant gehe in den protestantischen Religionsunterricht, in den glaubensgebundenen Unterricht, das ist doch eine persönliche Entscheidung.

    Spengler: Aber warum sollte er dann noch zusätzlich in den Ethikunterricht gehen.

    Wowereit: Ja, ganz einfach, weil er geht ja natürlich auch in den Deutschunterricht, er geht auch in den Politikunterricht, er geht auch in den Sportunterricht.

    Spengler: Aber unsere Ethik, unsere Werte beruhen doch auf dem Christentum.

    Wowereit: Nein, die beruhen beispielsweise auch auf der Aufklärung! Und da fängt es doch schon an, das ist nicht nur richtig, sonst wären wir nicht in einer Demokratie, sondern nach wie vor in einer monarchistischen Gesellschaft. Und insofern gibt es doch kein Monopol auf Werte, nach dem Motte, derjenige, der in den Religionsunterricht geht, hat Werte an sich und der andere ist der Atheist, der braucht einen Werteunterricht. Im Gemeinsam liegt die Vielfalt. Ich möchte doch, dass die Erfahrungen, die jemand macht, der christlich orientiert ist, eingebracht werden, auch in eine Diskussion über Lebenskunde, über Ethik, Philosophie, genauso wie derjenige, der sagt, von seinem Elternhaus geprägt, ich habe mit Kirche gar nichts im Sinn, ich will mich nicht an eine Kirche binden. Die private Entscheidung, mich zu einem Glauben zu bekennen, die wird keinem genommen. Selbstverständlich haben die Kirchen das Recht, wie bisher Religionsunterricht anzubieten. Wir wollen aber, dass gerade in einer Gesellschaft, wie in Berlin, wo immer weniger Kinder sich auch zu einem Glauben bekennen oder die Elternhäuser, dass man gemeinsam über Grundlagen unseres gesellschaftlichen Lebens zusammen die Möglichkeit hat, Unterricht zu haben. Und das ist überhaupt kein Gegensatz und überhaupt nicht gegen die bekennende Religionsausübung.

    Spengler: Aber bislang ist es in anderen Bundesländern ja so, dass zum Beispiel im herkömmlichen Religionsunterricht natürlich genau über diese Werte, philosophische Werte, über Ethik gesprochen wird und auch zum Beispiel im Geschichtsunterricht für andere, die nicht gläubig sind, im Philosophieunterricht. Die Frage ist einfach, warum ermöglichen Sie nicht den religiösen Menschen die Wahl zwischen entweder Religion oder diesen Werteunterricht?

    Wowereit: Die Wahl haben sie, sie können beides machen.

    Spengler: Nein, zusätzlich.

    Wowereit: Nicht zusätzlich, sondern es ist Teil des Berliner Unterrichts und Teil der Stundentafel. Da gibt es gar keine Alternative, genauso wenig, wie Schüler, die in den Religionsunterricht gehen, selber entscheiden können, wie viel Deutschstunden sie haben können. Insofern ist das überhaupt gar nichts atypisches. Wir haben in Berlin - dazu kann man ja stehen oder nicht stehen oder das kann man für gut oder falsch halten, es war auch nicht meine Entscheidung - der Verfassungsgeber, eine Situation, wo Religionsunterricht freiwillig angeboten wird an der Berliner Schule. In anderen Ländern haben wir das als Pflichtfach und als verbindliches Unterrichtsfach in staatlicher Kompetenz. Wir haben hier die komfortable Situation, auch die Kirchgemeinden können in eigener Verantwortung, eigener Rahmenplangestaltung beispielsweise, eigener Entscheidung, welches Personal sie einsetzen, den Religionsunterricht anbieten. Das hat sich bewährt aus meiner Sicht, da muss auch gar nichts geändert werden.

    Spengler: Befürchten Sie nicht, dass nun eine Verfassungsklage ins Haus steht, da es im Grundgesetzartikel 7 heißt, der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen, mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen, ordentliches Lehrfach, "außer in Berlin" steht da nicht.

    Wowereit: Nein, aber es gibt die Bremer Klausel und die sagt ganz eindeutig, in Berlin ist das zulässig. Jeder, der sich auskennt im rechtlichen Bereich und das ist überhaupt gar kein Streit mit der evangelischen Kirche und der katholischen Kirche, weiß, dass das verfassungsrechtlich zulässig ist. Das ist überhaupt gar kein Streit, sagen auch führende Vertreter der katholischen und der evangelischen Kirche. Also, insofern, da befürchte ich überhaupt gar nichts. Dieser Gang ist überflüssig, weil es selbstverständlich rechtlich möglich ist.

    Spengler: Aber es könnte ihn geben. Herr Wowereit, ist es denn nicht dennoch unglaublich überheblich, sich mit allen quer zu legen bei so einer wichtigen Frage? 15 Bundesländer machen es anders, nur Sie begehen den eigenen Weg und sagen, wir wissen es besser, der Staat macht den besseren Unterricht. Sie spalten doch von oben herab.

    Wowereit: Berlin geht seit 50 Jahren einen eigenen Weg, auch unter CDU-geführtem Senat und das ist keine Erfindung des jetzigen Senats, sondern das ist die Entscheidung der Verfassungsgebers vor 50 Jahren gewesen. Dieses hat es 50 Jahre gegeben und da ist überhaupt nichts neues. Im übrigen hat gerade eine, im Auftrag der Morgenpost, ja nicht gerade einer regierungstreuen Zeitung, von einem Meinungsforschungsinstitut, was uns auch nicht gerade besonders nahe steht, Emnid nämlich, eine Umfrage ergeben, dass in Berlin über 80 Prozent der Bevölkerung befürwortet, dass alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam in einem Fach über Ethik, Philosophie, Lebenskunde, Werte Unterricht erhalten. Also, wir sind nicht gegen alle, sondern wir vertreten hier auch die Meinung der überwältigen Mehrheit der Bevölkerung, dass einzelne sich stark artikulieren zur Zeit und man fast den Eindruck haben könnte, auch durch Ihre Fragestellung, dass es nur Gegner dieser Lösung gibt, das ist auch einseitig, das ist nicht die Realität.

    Spengler: Ich danke Ihnen für das Gespräch.