Montag, 13. Mai 2024

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WWF-Studie zum Waldtierbestand
"Wir sind abhängig von den Tieren"

Der Berliner Wildtierbeauftragte Derk Ehlert zeigt sich besorgt darüber, dass sich der Bestand der Waldtiere halbiert hat. Es gehe dabei nicht nur um Tiere, die alle toll finden, sondern es auch um Arten, die aussterben, bevor sie entdeckt würden, sagte er im Dlf. Für den Sauerstoff im Wald seien Tiere notwendig.

Derk Ehlert im Gespräch mit Sandra Schulz | 14.08.2019
Borneo-Orang-Utan mit Jungtier im Tanjung Puting National Park, Zentral Kalimantan, Borneo, Indonesien
Auch Orang-Utans sind vom Aussterben bedroht (picture alliance / imageBROKER)
Sandra Schulz: Dass es durchaus möglich ist, den Wald vor Bäumen nicht zu sehen, das dürften die allermeisten auf Anhieb einsehen. Das Bild, mit dem die Umweltstiftung WWF gestern gearbeitet hat, das erschließt sich eher auf den zweiten Blick. Von leeren Wäldern in manchen Regionen der Erde ist die Rede in einer Studie, die die Naturschutzorganisation gestern vorgestellt hat. Danach haben sich die weltweiten Bestände zahlreicher Tierarten in Wäldern in den vergangenen Jahrzehnten mehr als halbiert. Zwischen 1970 und 2014 schrumpften die untersuchten Populationen (rund 450 waren es) um durchschnittlich gut die Hälfte. Um das einzuordnen, gehen wir jetzt in die Stadt, deren Fläche zu knapp 20 Prozent aus Wald besteht. In Berlin haben wir den Naturschützer und Berliner Wildtierbeauftragten Derk Ehlert erreicht, von der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz in Berlin. Schönen guten Morgen!
Derk Ehlert: Guten Morgen, Frau Schulz!
Schulz: Wie geht es denn den Tieren in Berlin?
Ehlert: Ich glaube, ganz gut. Zumindest sind sie noch da. Wir haben rund 20.000 Tier- und Pflanzenarten und tatsächlich sind wir in Berlin in sehr privilegierter Situation. Wir haben sehr viel Wald, Sie haben es gesagt. Knapp 20 Prozent unserer Landesfläche - das sind ungefähr 160 Quadratkilometer - der Stadt sind Wald und die sind vielschichtig. Wir haben einen zertifizierten Wald, einen FSC-zertifizierten Wald. Das heißt, der Wald dient in erster Linie der Erholung und nicht der Holznutzung. Wir lassen auch das tote Holz liegen, haben verschiedene Baumstrukturen, Baumarten, und somit geben wir natürlich vielen Wirbelarten und Wirbellosen gute Grundbedingungen.
"Die Veränderungen sind verheerend"
Schulz: Jetzt wollen wir auf diese Studie gucken. Da geht es nicht um Berlin, nicht speziell um Deutschland, sondern um Tiere und Waldtiere weltweit. Da ist der Befund, ich habe es gerade gesagt, dass der Bestand der Waldtiere sich teilweise halbiert hat. Ist das denn schlimm?
Ehlert: Das ist sehr schlimm, Frau Schulz - sehr schlimm, wenn man bedenkt, dass weltweit tatsächlich die Wälder auch dahingehend untersucht wurden, und zwar nur Wirbeltiere, Reptilien, Vögel, Säugetiere. Würde man das um die Wirbellosen erweitern, dann wäre die Zahl sicherlich noch dramatischer. Da geht es nicht nur um den Orang-Utan, den wir alle lieben, den wir alle toll finden, sondern es geht auch um Arten, mitunter kleinere Säugetierarten, die vielleicht noch gar nicht entdeckt wurden, die, bevor sie entdeckt werden, schon aussterben. Die Veränderungen sind verheerend, vor allem verheerend schnell.
Schulz: Welche Veränderungen sind das denn?
Ehlert: Das ist in erster Linie die Abholzung von Wäldern, die Umnutzung von Wäldern für die Landwirtschaft. Wir meinen ja immer, das ist ja ganz weit weg, damit haben wir nichts zu tun. Wir haben damit sehr, sehr viel zu tun, denn wir sind die Hauptverursacher: Ölplantagen, Kautschukplantagen, Staudämme, damit wir im Winter auch unser Obst essen können. All das sind die Gründe, warum Wald abgeholzt wird und warum es den Wäldern weltweit inzwischen so schlecht geht.
Schulz: Ich wollte aber noch mal genauer verstehen, warum die Tiere für den Wald so wichtig sind. Wenn ich jetzt die Perspektive eines Joggers im Wald habe, ist es da für alle praktischen Zwecke nicht egal, ob ich zwei- oder viermal ein Wildschwein treffe?
Ehlert: Ganz recht. Aber wenn Sie Joggerin sind, dann ist es eigentlich erforderlich, dass sie Sauerstoff zu sich nehmen. Sonst könnten Sie nämlich nicht joggen.
"In Deutschland haben wir eine stabile Waldbedeckung"
Schulz: Das gebe ich zu!
Ehlert: Für den Sauerstoff brauchen Sie Tiere, vom Wildschwein angefangen bis hin zu Kleintieren, Insekten, die es ermöglichen, dass die Bäume wachsen, dass sie Nährstoffe aus dem Boden ziehen. Das ist ja alles Jahrmillionen erprobt und in einem engen System verbunden. Es ist manchmal schwer, wie Sie selber sagen, einzusehen, jeweils in die Studien zu schauen und vor allem das gesamte Konglomerat zu erkennen. Fakt ist, dass wir abhängig sind von den Tieren und natürlich der Wald in erster Linie abhängig ist. Viele leben auch in Symbiose oder als Schmarotzer. Gar nicht auszudenken, wenn es einen weiteren Artenschwund gäbe.
Schulz: Geht es denn jetzt um einzelne Arten? Sie sagen, Artenschwund. Oder ist das Problem, dass insgesamt einfach weniger Tiere da sind?
Ehlert: Beides, sowohl weniger Tiere als auch natürlich der Artenschwund bei bestimmten speziellen Arten. In Deutschland können wir das kaum nachvollziehen, weil wir natürlich bei uns eine stabile Waldbedeckung haben. Wir sind da auch in Deutschland privilegiert. 32 Prozent Deutschlands sind waldbedeckt. Unsere Waldqualität, die könnte man verbessern, aber die ist grundsätzlich noch da. Das sieht aber in anderen Teilen der Welt ganz anders aus. Die Waldwirtschaft könnte auch in Deutschland übrigens naturnäher sein und vielfältiger, strukturreicher. Das alleine würde schon helfen, die Artenvielfalt zu erhalten.
Schulz: Ist es denn völlig auszuschließen, dass wir dort nicht schlichtweg einfach nur eine Veränderung sehen? Wir wissen zum Beispiel aus Deutschland, der Wolf ist zurück, es sind auch Elche gesichtet worden. Das ist ja immer dieses klassische Argument, im Laufe der Jahrzehnte, der Jahrhunderte, der Jahrmillionen ist der Bestand ja nicht gleich geblieben.
Ehlert: Genau, das verändert sich natürlich. Es gibt neue Arten, andere sterben aus. Die Geschwindigkeit, mit der sich das verändert, ist enorm. Was vorher mehrere tausend Jahre gebraucht hat, ist jetzt in zwei bis drei Jahren verändert. Auch die Einschleppung neuer Arten im Zuge der Globalisierung. Es ist ja überhaupt kein Problem, Arten quer durch die Welt innerhalb von Stunden zu transportieren, zu uns zu holen. Zum Beispiel der Buchsbaumzünsler ist keine Krankheit; das ist ein kleines Insekt, das uns jetzt überall Sorgen macht. Das ist ein gutes Beispiel, den haben wir uns mal reingeholt. Der Buchsbaumzünsler ist ein kleiner Falter, der den Buchsbäumen in Deutschland im Augenblick große Schwierigkeiten macht. Der hat die nämlich zum Fressen gern. Es gibt kaum ein Mittel dagegen. Eine Art, die eigentlich in Asien zuhause ist, die von alleine nicht hier hergekommen wäre. Oder der Waschbär, oder, oder, oder. Die neuen Arten, die eingeschleppten Arten machen nicht nur uns Probleme, sondern auch den Wäldern. Vor allen Dingen die Borkenkäfer, worunter jetzt die Wälder leiden, sind eingeschleppte, sind hier von alleine nicht hergekommen.
"Menschen wollen die Natur vor der Haustür"
Schulz: Jetzt sprechen Sie über Tiere, die dem Wald Probleme bereiten. Unser Ausgangspunkt war eigentlich dieses Schrumpfen der Tierwelt. Um welche Tiere machen Sie sich besondere Sorgen?
Ehlert: Ganz besonders sind das große besondere Arten wie der Orang-Utan, wie bestimmte Elefantentypen, die nur im Wald leben. Die großen spektakulären Arten, um die machen wir uns ganz große Sorgen, weil tatsächlich mit ihrem Sterben dann auch eine sehr spektakuläre und besondere Tierart weggeht.
Schulz: Aber weil diese Tierart schön ist, oder weil sie wirklich für die Natur wichtig und unverzichtbar ist?
Ehlert: Das ist eine spannende Frage. Die Tierart ist schön und sie ist natürlich auch wichtig. Aber ganz klassisch ist, dass man Leittiere braucht. Wenn wir über kleine Rüsselkäfer sprechen würden, würde sich kaum einer darum kümmern und dafür interessieren. Es ist tatsächlich immer eine bestimmte Leitart, die man braucht, wie Orang-Utans. Die mögen wir Menschen, das sind Sympathieträger und die kann man auch gut verwenden als Zielart. Aber dahinter stecken natürlich 40, 50 andere Arten, die weniger attraktiv aussehen, aber genauso wichtig sind.
Schulz: Sie ahnen, dass ich jetzt mit den Dinos komme. Die sind ja auch ausgestorben. Die sind jetzt vielleicht nicht unbedingt durchweg Sympathieträger, aber Sie werden mir zustimmen, dass die Erde deren Aussterben für alle praktischen Zwecke ganz gut verkraftet hat?
Ehlert: Sie hat ja auch ein paar Millionen Jahre Zeit gehabt und einige dieser Dinos haben ja auch überlebt, zum Beispiel Krokodile aus dieser Zeit oder Kormorane im Anschluss. Die haben überlebt, die konnten sich dann wieder aufbauen. Grundsätzlich haben es da kleine Arten, Wirbelarten immer besser als die ganz großen, und es wird sich zeigen, was langfristig sich weiter bewährt. Aber wir leben jetzt und heute und wir wollen ja auch weiter leben, und dazu brauchen wir viele Tiere, damit wir atmen können, damit wir joggen gehen können.
Schulz: Wir haben im globalen Maßstab jetzt das Thema, das Sie im kleinen Maßstab in Berlin als Wildtierreferent beackern, nämlich das Zusammenleben von Mensch und Natur, von Mensch und Tier. Gibt es da überhaupt ein gedeihliches Zusammenleben?
Ehlert: Das gibt es. Das sehe ich auch jeden Tag und merke es jeden Tag in der Stadt. Menschen in dieser Stadt und auch in jeder anderen Großstadt, die wollen die Natur vor der Haustür. Die wollen durchaus auch Tiere vor der Haustür. Interessant ist, dass man dann auch unterscheidet, was man für Tiere nett findet und nicht nett. Nett findet man das Wildschwein im Wald, aber nicht beim Joggen und erst recht nicht vor der eigenen Haustür. Insekten wollen wir alle, aber bitte nicht die Wespen und auch nicht die Mücken nachts. Da unterscheiden wir. Aber in einer Stadt gehen Grundsätzlich die Menschen, natürlich, weil sie sich nach der Natur sehnen, anders um und meine Erfahrung nach über 20 Jahren ist, dass die Stadtmenschen in besonderer Weise sich nach Natur sehnen und sie auch vor der Haustür haben wollen.
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