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Xaver Bayer: "Geschichten mit Marianne"
Traumberichte aus der Realität

In poetischem Plauderton lässt der Österreicher Xaver Bayer seinen Ich-Erzähler die Grenzen zwischen Realität und Traum erkunden. Mit Marianne kommt er der Welt und sich selbst abhanden. Im somnambulen Wachtraum verlieren kollektive Vorstellungen von Wirklichkeit ihre Gültigkeit.

Von Cornelius Wüllenkemper | 28.02.2020
Der Schriftsteller Xaver Bayer
Im Werk des 1977 in Wien geborenen Autors Xaver Bayer geht es oft um junge Männer, die Mühe haben, zwischen Realität und Traum zu unterscheiden (Jung und Jung / Klaus Pichler)
Seit sieben Jahren sind Xaver Bayers namenloser Ich-Erzähler und Marianne ein Paar. Die junge Frau stammt aus wohlhabenden Verhältnissen, bewohnt mehrere Immobilien in und außerhalb der Stadt, hat Zugang zu einem großen Schloss auf dem Lande und besitzt einen Hang zum Snobismus – vielmehr ist nicht bekannt über die Dame, mit der Bayers Protagonist die Grenzbereiche der Realität erforscht. Ihre Dekonstruktion des Realen beginnt stets mit einer unverfänglichen Idee, mit einer Unternehmung oder einem "Spiel".
"Immer wenn Marianne dieses verschmitzte, leicht abwesende Lächeln aufsetzt und diesen gieksenden Ton in der Stimme hat, weiß ich: Halt, da kommt jetzt was! Und richtig – unvermittelt fragt sie mich: ‚Könntest du etwas für mich erledigen?’ ‚Gerne’, antworte ich [...] Es handelt sich eher um ein Abenteuer. Oder wenn du willst: eine Mission. Oder, weniger spektakulär ausgedrückt, um eine Erfahrung.’ ‚Aha’, sage ich."
Flucht vor der Wirklichkeit
Mariannes Aufforderung, ein bestimmtes Buch aus einer Schlossbibliothek auf dem Lande zu beschaffen, nachts und ohne Licht, endet nach einer beklemmenden, labyrinthischen Suche in einem veritablen Alptraum. Dass die Experimente des Paares in einer geträumten, oft auch traumatischen Wirklichkeit enden, darauf ist bei Bayer Verlass. Ein Volksfest kippt in einen kollektiven Blutrausch. Ein nächtlicher Waldspaziergang wird zu einer wahrlich horroresken Treibjagd auf Menschen. Mit seiner Marianne untersucht Bayers Erzähler Möglichkeiten der Flucht vor dem, was man kollektiv zur Wirklichkeit erklärt hat, vor dem erwartbaren Fortgang der Ereignisse. Von der misslungenen Ausstellung im Wiener "Weltmuseum" ziehen sich die Liebenden etwa in eine dunkle Putzkammer zurück.
"Wir fühlen uns, als wären wir der Welt abhanden gekommen. Und wie still es ist ... Als wären wir zuhause, zurück von allen Reisen, die uns in die fremdesten Länder und Zeiten geführt haben. Ich schließe die Augen. Hier, in dieser Abstellkammer, haben wir endlich einen Lebensraum gefunden. Hier will ich bleiben, mit Marianne eine Familie gründen, leben, lachen, weinen, Feste feiern, und wenn die Stunde gekommen ist, will ich hier in Ruhe sterben, nicht mehr und nicht weniger."
Die Suche nach einem Zuhause, dort wo das Sein und das Bewusstsein deckungsgleich werden, ist auf Bayers tagträumerischen literarischen Irrfahrten vergeblich. Auf dem Weg zu Mariannes Stadtwohnung etwa wird sein Protagonist in einer endlosen Aufzugfahrt plötzlich bis zum zehntausendsten Stockwerk ins Nichts katapultiert.
Buchcover: Xaver Bayer: „Geschichten mit Marianne“
Buchcover: Xaver Bayer: „Geschichten mit Marianne“ (Buchcover: Jung und Jung)
Eine befreiende Ich-Auflösung
"Irgendwann habe ich nicht mehr mit Gewissheit sagen können, ob Marianne blonde oder schwarze Haare hat, ob sie schlank oder mollig ist, und selbst, was ihren Namen anbelangt, war ich mir nicht mehr sicher. Marianne? Oder doch Marlen oder Madeleine oder Magdalena? Ich bin sogar im Zweifel, ob ich Marianne überhaupt je begegnet bin oder ob sie nicht einfach nur eine Ausgeburt meiner Fantasie ist."
Immer wieder kommt dem Protagnisten seine Marianne abhanden: Mal wird sie von zwei Horrorclowns in einer Zirkusshow entführt, ein anderes Mal lässt sie beim Feuergefecht in der Innenstadt ihr Leben. Aber wie ist zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden? In somnambuler Entrückung wirft Bayer einen poetischen Blick, der die Welt in lauter Wunder verwandelt. Die lakonischen, distanzierten Beschreibungen dieses Taumels erinnern an die Frühwerke von Bayers Landsmann Peter Handke und dessen Tormann Josef Bloch. Das Verlorengehen, die schmerzhafte und doch befreiende Ich-Auflösung werden in Bayers Geschichten sehr greifbar durchgespielt. Sein Protagonist verschwindet beim "Partner-Floating" im Salzwasserbecken mit einmal winzig verkleinert im Abfluss.
Man lebt wie man träumt: allein
"In diesem Moment war mein Schicksal besiegelt. Ich, der Fast-Unsichtbare, der zur Größe eines Staubkorns geschrumpfte, geriet in den Strudel. Der Weg, den ich seitdem zurückgelegt habe, führte mich durch die Kanalisation, durch Bäche und Flüsse bis ins Schwarze Meer und weiter in die Ozeane. Jetzt treibe ich schon eine Ewigkeit auf der Oberfläche des Pazifik, der wie ein lidloses Auge dem unermesslichen Weltenraum entgegenblickt, starr, furchtlos und gleichgültig. Was auch immer noch kommen mag, ich erwarte es geduldig. Ich warte, denn mir scheint, ich habe Zeit."
"Wenig kann das Glück uns geben, denn ein Traum ist alles Leben" – dieses Zitat aus Pedro Calderon de la Barcas Versdrama "Das Leben, ein Traum" hat Xaver Bayer einmal zur Erläuterung seiner literarischen Weltsicht herangezogen. Und tatsächlich ist der einzige Glücksmoment seiner "Geschichten mit Marianne" eine Szene, in der das Paar voller Genuss wertvolle Antiquitäten zerstört. Der immer wieder zelebrierte Defätismus, die Verachtung der Welt und der Nivellierung durch die Masse wirken manchmal etwas konstruiert. Das ändern nichts daran, dass Xaver Bayer literarisch auf höchstem Niveau vorführt, dass man lebt, wie man träumt: allein.
Xaver Bayer: "Geschichten mit Marianne"
Jung und Jung, Salzburg. 180 Seiten, 21 Euro.