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Yoko Ogawa: "Zärtliche Klagen"
Sanftmut bis zur Charakterlosigkeit

Ruriko flieht vor ihrem gewalttätigen Mann, der seit Jahren eine Geliebte hat, in die Berge. Dort entwickelt sich mit dem Cembalobauer Nitta und seiner Assistentin Kaoru eine Dreiecksbeziehung: Ruriko kommt in Versuchung, das Glück von Nitta und Kaoru zu zerstören. Das Frühwerk der japanischen Autorin mit hartem Kern, erzählt in leichtem Stil.

Von Katharina Borchardt | 28.03.2017
    Rückzug in die Einsamkeit der japanischen Berge.
    Rückzug in die Einsamkeit der japanischen Berge. (imago/AFLO)
    "Zärtliche Klagen" ist kein neuer Roman von Yoko Ogawa. Die deutsche Übersetzung ist zwar druckfrisch, doch im japanischen Original ist das Buch schon gute 20 Jahre alt. Und das merkt man! Es ist gar nicht mal so sehr die Verwunderung darüber, dass die Erzählerin Ruriko vor ihrem lieblosen Mann in ein Ferienhaus im Wald flieht und dort nur über einen Festnetzanschluss verfügt. Handys waren offenbar noch nicht verbreitet, als der Roman in den 90er-Jahren entstand.
    Eher ist es eine gewisse Schlichtheit in der literarischen Motivik, die stutzen lässt. Schließlich hat die 54-jährige Yoko Ogawa zuletzt Geschichten vorgelegt, die bestrickend und fantasievoll waren und dabei fast schon ins Fantastische übergingen.
    Wiederkehrendes Motiv: Suche nach Schutzräumen
    Da gab es zum Beispiel den Jungen, der in einem Schachautomaten lebt, den Professor, dessen Gedächtnis immer nur achtzig Minuten zurückreicht, oder den Mann, der ausschließlich mit Vögeln kommuniziert.
    Der jetzt erschienene Roman "Zärtliche Klagen" fällt dem gegenüber recht einfach aus. Zunächst flieht eine ganz normale Frau vor ihrem ganz normalen Mann aus Tokio in ihr Ferienhaus im Wald. Das ist typisch Ogawa und in jedem ihrer Romane Thema: die Suche nach Schutzräumen.
    Doch wäre Ruriko in ihrer Waldeinsamkeit wirklich mutterseelenallein, wäre dies kein Ogawa-Roman: Gleich nach der Ankunft heißt eine nette Pensionswirtin die Ehe- und Großstadtflüchtige willkommen und versorgt sie ab sofort mit Lebensmitteln und Herzenswärme. Die Wirtin ist extrem dick; das sind heimatgebende Figuren bei Ogawa oft.
    An der Liebe Gescheiterte suchen Heilung
    Kurz darauf lernt Ruriko außerdem die Nachbarn Nitta und Kaoru kennen und erkundet ihre Werkstatt. Nitta ist Cembalobauer von Beruf, Kaoru seine junge Assistentin. Nitta und Kaoru sind ebenfalls Versehrte aus der Großstadt: Nitta ist ein gescheiterter und geschiedener Pianist aus Tokio.
    Kaoru wiederum stammt aus Nagasaki und hat ihren Ehemann verloren: Er wurde von seiner Mätresse im Liebeswahn erstochen. Wie in allen Romanen von Yoko Ogawa treffen sich auch hier Menschen, die Schicksalsschläge verwinden müssen, die einander aber Zuwendung und Trost geben können.
    Immer mit dabei sind Tiere, die Freude spenden. Hier ist es ein Mops namens Dona, der bei den Cembalobauern wohnt und mit seiner lustig-gemütlichen Art allen guttut.
    Sanftmut und dunkle Erotik wenig glaubwürdig
    Yoko Ogawas Romane handeln von seelischen Qualen; so richtig kompliziert ist die Welt in ihnen aber nicht. Gut und böse sind deutlich zu unterscheiden: In "Zärtliche Klagen" ist die nette Ruriko vor den Schlägen ihres gemeinen Ehemanns geflohen und vor seiner aseptischen Welt. Denn der Mann ist Arzt. Ruriko assoziiert ihn vor allem mit Desinfektionsmitteln.
    Natürlich hat der bürgerliche Simpel kein Verständnis dafür, dass sich seine Frau in nutzloser Kalligrafie übt und dies sogar zu ihrem Brotberuf macht. Dass Yoko Ogawa die 36-Jährige später in einen dunklen Erotikkonflikt mit Cembalobauer Nitta verstrickt, ist wenig glaubwürdig.
    Aus dem Nichts heraus droht die bis zur Charakterlosigkeit sanftmütige Ruriko sogar, den Mops zu meucheln, sollte Nitta ihr nicht zu Willen sein. Ein etwas hilfloser Versuch, einen Spannungsbogen zu kreieren, den ein ausschließlich ruhiges und heilsames Miteinander im Wald einfach nicht bietet. Wirklich tiefe Ruhe herrscht nur zwischen den Cembalobauern Nitta und Kaoru, denn ihre innige Beziehung wird offenbar von Erotik nicht gestört.
    Roman mit Soundtrack
    Wohin allzu viel Verlangen führen kann, versinnbildlicht vor allem Kaorus Ehemann, der aus Eifersucht umgebracht wurde. Wahrscheinlich ist es daher auch Kaoru, die einer Jizō-Statue regelmäßig Opfergaben darbringt. Immer wieder liegt frisches Obst vor dem steinernen Bodhisattva, der die gequälten Seelen der Toten rettet. Er steht im Wald neben einer gewaltigen ausgehöhlten Ulme, in die sich Ogawas Figuren gerne zurückziehen.
    Alles schön und gut, aber auch ein bisschen diffus japanphilosophisch. Mit einem Hang zu literarischer Wellness. Hübsch allerdings ist, dass der Roman eine Art Soundtrack besitzt. Schon sein Titel "Zärtliche Klagen" verweist auf ein Stück von Jean-Philippe Rameau, das Kaoru im Verlauf der Geschichte mehrfach spielt. Weitere Stücke werden erwähnt. Man kann sie im Internet leicht finden und während der Lektüre hören.
    Beginn von Ogawas "leichter Kunst"
    Vielleicht merkt man dann aber nicht so deutlich, dass die Ausführungen über das Cembalo als Instrument zwar sehr hingebungsvoll formuliert sind, inhaltlich aber doch recht oberflächlich ausfallen und das Wissen eines Musiklexikons nicht übersteigen.
    Musik, Mathematik, Vogelkunde, Schach – in Yoko Ogawas Romanen steht immer eine Kunst oder Wissenschaft im Zentrum. Auch in "Zärtliche Klagen". In diesem frühen Roman aber steckt Ogawas leichte Kunst noch in den Kinderschuhen. Vieles, was man hier liest, kennt man von Yoko Ogawa. Man hat es in ihren späteren Romanen bloß schon viel besser gelesen.
    Yoko Ogawa: "Zärtliche Klagen"
    Aus dem Japanischen von Sabine Mangold.
    Verlagsbuchhandlung Liebeskind, 272 Seiten, 20 Euro.