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Yuri Slezkine
"Das Haus der Regierung. Eine Saga der Russischen Revolution"

Schriftsteller, Funktionäre, Stalins Tochter - sie alle lebten im Haus der Regierung in Moskau. Der Wohnkomplex gegenüber dem Kreml ist der Mittelpunkt im Buch des Russland-Historikers Yuri Slezkine. Und ein Symbol vieler Jahrzehnte sowjetischer Herrschaft.

Frederik Rother im Gespräch mit Catrin Stövesand | 07.01.2019
    Blick auf das Haus der Regierung in Moskau vom Dach der Lenin-Bibliothek
    Blick auf das Haus der Regierung in Moskau vom Dach der Lenin-Bibliothek (Cover: Verlag Hanser, Hintergrund: dpa / Vladimir Pesnya)
    Catrin Stövesand: Hunderte komfortable Wohnungen, Gemeinschaftseinrichtungen wie eine Bibliothek, eine Sporthalle, ein Friseursalon oder ein Kino – das Haus der Regierung in Moskau hat viele Annehmlichkeiten für seine Bewohner bereitgehalten. Der riesige Wohnkomplex wurde ab den späten 1920er Jahren gegenüber dem Kreml errichtet – für die Elite der Sowjetunion. Und er ist der Mittelpunkt in Yuri Slezkines Buch "Das Haus der Regierung. Eine Saga der russischen Revolution." Der Russland-Historiker von der Universität Berkeley verknüpft in seinem Werk die Geschichte des bekannten Wohnkomplexes und seiner Bewohner mit der Geschichte der Sowjetunion – denn das Haus erzählt so einiges über 70 Jahre sowjetische Herrschaft. Frederik Rother, Sie haben das Buch für uns näher angeschaut. Was erfährt man denn darin über die Entstehungsgeschichte des Hauses der Regierung?
    Frederik Rother: Der riesige Wohnkomplex wurde 1931 eröffnet, nach nur wenigen Jahren Bauzeit. Und wenn wir auf den Rahmen schauen: Es war die Zeit des ersten Fünfjahresplans, mit dem die Sowjetunion umfassend industrialisiert und modernisiert werden sollte. Und das Gebäude entstand auch in einer Zeit, in der Moskau nach sozialistisch-ideologischen Kriterien umgestaltet werden sollte. Das sieht man zum Beispiel am Baustil des Hauses, der sich an die postrevolutionäre Avantgarde und an die klaren, geraden Linien des Sozialistischen Realismus anlehnte. Die sowjetische Führung wollte einen repräsentativen Bau für die eigenen Funktionäre, die oft noch immer in Hotels wohnten. Und das ist der Kontext, in dem das Haus der Regierung entstanden ist. Direkt gegenüber des Machtzentrums, gegenüber dem Kreml.
    Luxuriöse Infrastruktur für die sowjetische Elite
    Stövesand: Wie muss man sich das Haus denn genau vorstellen?
    Rother: Der Komplex war tatsächlich gigantisch. Es waren elf verschiedene Einheiten, die über Innenhöfe miteinander verbunden waren. Es gab mehr als 500 Wohnungen und einige Jahre nach Eröffnung lebten gut 700 Staats- und Parteifunktionäre hier. Das waren Volkskommissare, marxistische Gelehrte, Gulag-Funktionäre, Betriebsleiter mit ihren Familien und ihren Bediensteten. Die Infrastruktur war gut, man kann sagen geradezu luxuriös. Es gab ein Kino, eine Kantine, ein Theater, eine Wäscherei, einen Kindergarten und eine Ambulanz. Es gab auch warmes Wasser, einen Gasherd und eine Heizung, das gab es in jeder Wohnung. Man kann also sagen, die Funktionsträger des neuen Staates lebten gut in dieser "Wohnmaschine".
    Stövesand: Teile des Komplexes stehen ja noch heute, was ist da heute drin?
    Rother: Der Komplex steht bis heute dort am Ufer der Moskwa. Aber der Wandel der Zeiten lässt sich natürlich auch am Haus der Regierung ablesen. Als die Sowjetunion zusammenbrach, wurden die Wohnungen privatisiert, viele Reiche sind hier eingezogen, auf dem Dach wurde damals sogar ein Mercedes-Stern installiert, zu Werbezwecken. Heute gehören die Wohnungen zu den exklusiveren in Moskau.
    Von der frühen Sowjetunion bis zum Großen Terror
    Stövesand: Wie bringt denn Yuri Slezkine die Geschichte mit diesem Gebäude zusammen?
    Rother: Slezkine nutzt das Haus der Regierung als Rahmen und er erzählt eigentlich daran die Geschichte der Sowjetunion bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Er fängt Anfang des 20. Jahrhunderts an, er stellt uns bekannte Altbolschewiki als junge, idealistische Männer vor, wie sie gegen die zaristische Ordnung kämpfen, dafür im Gefängnis oder der Verbannung landen und sich dort meist weiter radikalisieren. Dann erleben wir mit den Protagonisten des Buches den Fall des Zaren, die Russische Revolution, die sie anstoßen, den Bürgerkrieg, aus dem die Bolschewiki siegreich hervorgehen. Und natürlich die 1920er Jahre in der Sowjetunion.
    Der Glaube an eine neue Ordnung wird sichtbar, das spielte damals auch immer noch eine große Rolle. Das lässt sich zusammenfassen zum ersten Teil des Buches. Im zweiten Teil geht es dann ganz konkret um das Haus der Regierung, um den Bau des Komplexes. Und um die inzwischen älter gewordenen Bolschewiki, die jetzt in Amt und Würden sind, in die neuen Wohnungen einziehen und dort eben ihr Leben verbringen.
    Im dritten Teil steht der Große Terror im Mittelpunkt, das ist eines der dunkelsten Kapitel der Sowjetgeschichte, das auch im Haus der Regierung natürlich Spuren hinterließ. In den 1930er Jahren wurden etwa 800 Bewohner und Funktionäre willkürlich verhaftet und verurteilt, zum Beispiel wegen konterrevolutionärer Tätigkeit, einige Hundert wurden erschossen. Und Slezkine hat eine Erzählung erschaffen, die mit dem schnellen und brutalen Aufstieg der Bolschewiki beginnt und mehr oder weniger mit dem Großen Terror endet.
    Stövesand: Der dritte Teil also der Große Terror. Endet denn damit auch die Geschichte von Slezkine über das Haus der Regierung?
    Rother: Slezkine schließt den Erzählbogen in 1950er Jahren, nach Stalins Tod, mit der beginnenden Entstalinisierung, angestoßen durch Chruschtschow. Und er kommt zu dem Schluss, dass die Revolution gescheitert ist, dass die Kinder der Altrevolutionäre sich von den alten sozialistischen Idealen entfernt und entfremdet hätten.
    Eine Sekte namens Bolschwiki
    Stövesand: Mit welchem Argument begründet er denn dieses Scheitern?
    Rother: Slezkines zentrale These ist, dass die Bolschwiki eine apokalyptische, endzeitliche, millenaristische Sekte waren – also an ein tausendjähriges Reich glaubten, das sie in Form der Sowjetunion erschaffen wollten. Und seiner Meinung nach ist es den Kadern aber in ihren luxuriösen Wohnungen nicht gelungen, diese kommunistische und quasireligiöse Vision an ihre Kinder und damit an eine neue Elite weiterzugeben, das zumindest meint Slezkine. Beigetragen dazu haben sicherlich auch der Große Terror und die Entstalinisierung.
    Stövesand: Was erfährt denn der Leser über die Menschen, die in diesem Haus der Regierung gewohnt haben?
    Rother: Man erfährt einiges über unbekanntere Bolschewiki, die zwar in Führungspositionen waren, aber eben zur zweiten Garde gehörten. Aber es gab natürlich auch bekannte Repräsentanten, die hier lebten und wohnten. Dazu gehört zum Beispiel Nikolaj Bucharin, einer der Revolutionäre der ersten Stunde, der in den 1930er Jahren in einem Schauprozess zum Tode verurteilt wurde. Juri Trifonow wuchs hier auf. Der bekannte Schriftsteller, der in den 1970er Jahren die Novelle "Das Haus an der Uferstraße " veröffentlichte und darin von seiner Kindheit im Haus der Regierung und den Deportationen in seiner Familie erzählt. Swetlana Allilujewa lebte hier, die Tochter Stalins; Boris Iofan, einer der großen Architekten der Sowjetunion, der auch das Haus maßgeblich mitgestaltet hat – das alles sind einige der Bewohner des Hauses.
    Ein Panorama sowjetischer Geschichte
    Stövesand: Wie erzählt Slezkine diese Geschichte?
    Rother: Slezkine bleibt dicht an seinen Protagonisten dran und durch sie erzählt er eigentlich die Geschichte der Sowjetunion – nicht andersrum. Man erhält tiefe Einblicke in die Leben der Revolutionäre, in ihren privaten Alltag, ihre Gedanken, man lernt ihre Familien und Freunde kennen, auch ihre Liebschaften. Und natürlich ihr Leben mit dem Großen Terror und seinen Folgen. Slezkine arbeitet viel mit der Literatur dieser Tage und verwebt die Werke sowjetischer Schriftsteller mit seiner Erzählung und seinen Protagonisten.
    Das alles geschieht unglaublich detailreich, also er erschafft geradezu ein Panorama und man sieht eben als Leser: Das sind nicht nur vermeintlich verdienstvolle Sowjet-Apparatschicks, die da im Haus der Regierung lebten, sondern auch normale Menschen. Durch seine wirklich beeindruckende Recherche hat Slezkine die Geschichten dieser Leute sichtbar gemacht, sie vielleicht auch etwas entzaubert. Und er zeigt ganz deutlich, dass Geschichte kein starrer Prozess ist, sondern von Menschen gemacht wird.
    Stövesand: Apropos Recherche: Mit welchen Quellen hat denn der Autor gearbeitet?
    Rother: Er war in Archiven unterwegs, hat Briefe und Tagebücher studiert, Sekundärliteratur gesichtet und das alles neu arrangiert und damit dieses Werk geschaffen. Am Ende entsteht dadurch ein historisches Buch, das die frühe sowjetische Geschichte abbildet, sich aber dennoch wie ein Roman liest. Schön auch, dass es einige Bilder gibt, aus dem Moskau der 1920er und 1930er Jahre zum Beispiel, von den Bewohnern des Hauses – das rundet das Buch ab.
    Yuri Slezkine: "Das Haus der Regierung. Eine Saga der russischen Revolution",
    Carl Hanser Verlag, 1338 Seiten, 49 Euro.