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Zehn Jahre Literaturfest München
Die Rückeroberung des Liberalen

Einen erneuten Freiheitskampf hat der Historiker Timothy Garton Ash beim Münchner Literaturfest gefordert. Zusammen mit Ingo Schulze, Schriftsteller und Kurator der Veranstaltung, blickte er deshalb nicht zurück auf die friedlichen Revolutionen in Europa - sondern nach vorn.

Von Tobias Krone | 14.11.2019
Schriftsteller Ingo Schulze, Kurator des 10. Literaturfests München, 2019
Kurator in München: der Schriftsteller Ingo Schulze (Literaturfest München / Foto: Gaby Gerster)
1989 ist lang lang her. Inzwischen, weiß Timothy Garton Ash, beherrscht ein anderer Kampf die weltweite Öffentlichkeit: "Auf die globale liberale Revolution folgt jetzt eine globale antiliberale Revolution. Damals waren Mauern gefallen, heute werden Mauern wieder gebaut."
Der englische Historiker ist ein gefragter Mann in diesen Tagen: Berlin, Prag, Bratislava. Timothy Garton Ashs Reportagen erklärten dem Westen, wie es um das Osteuropa hinter der Mauer stand. Längst ist der Geschichtsprofessor aus Oxford einer der wichtigsten Intellektuellen Europas – und auch auf einem Abend wie diesem gefragt.
"Nichts kommt von selbst"
Er will nicht über 1989 reden – es sei schließlich schon sehr viel gesagt worden. Es gehe jetzt um die Zukunft, wie Timothy Garton Ash am Rande der Veranstaltung im Interview erläutert:
"Wir leben frei nach Willy Brandt: Nichts kommt von selbst, und wenig ist von Dauer. Das heißt, wir haben den Fehler gemacht, zu glauben: So wird es jetzt weiterhin fast für immer sein; die liberale Revolution hat obsiegt. Und so ist es eben nicht. Das war ein Denkfehler. Der Freiheitskampf muss sozusagen wieder gekämpft werden, in jeder Generation."
Liberalismus nicht nur als Wirtschaftsfaktor
In seiner Rede machte der Träger des Aachener Karlspreises einen weiteren Konstruktionsfehler des Liberalismus in Europa aus:
"Ein Grundgedanke des Kommunismus war doch: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Und jetzt haben wir sozusagen diesen Fehler selber gemacht. Wir haben den Liberalismus auf nur eine Dimension, nämlich die wirtschaftliche Dimension, reduziert. Und ein Liberalismus mit nur einer Dimension ist kein echter Liberalismus. Wir haben gesagt, frei nach Bill Clinton: ‚It’s the economy, stupid!‘ Das ist sozusagen Vulgärmarxismus mit neoliberalem Gesicht."
Gefühl kultureller Vernachlässigung
Diese Entwicklung habe einerseits Südeuropa in eine finanzielle Krise geführt, und andererseits in Mittel- und Osteuropa das Gefühl erzeugt, kulturell vernachlässigt zu sein.
Garton Ashs Fazit: Man müsse sich stärker den Vernachlässigten zuwenden – und um den Liberalismus ringen. Die Antiliberalen würden noch einige Zeit weiterkämpfen. Doch es sei möglich, dass am Ende das freie Denken siege: "Die Selbstkritik ist die große Stärke des Liberalismus, gerade dann, wenn natürlich darauf konkrete Schritte der Verbesserung und der Reform folgen. Der Kommunismus war nicht reformierbar, der Liberalismus ist durchaus reformierbar."
Timothy Garton Ash - "Ein Jahrhundert wird abgewählt"
Der Essayband über die Hintergründe der Wende in Mittel- und Osteuropa machte den britischen Historiker 1990 bekannt, nun wird er zum Mauerfall-Jubiläum noch einmal aufgelegt – angereichert mit aktuellen Eindrücken.

Drei Wochen lang mitreformieren
Als so ein Reformprojekt könnte man die kommenden Tage auf dem Literaturfest verstehen. Für das diesjährige Gesprächsformat "Forum Autoren" konnte man den gebürtigen Dresdner Ingo Schulze als Kurator gewinnen. Er machte den Titel seiner Erzählung "Einübungen ins Paradies" sogar zum Festivalmotto:
"Einübungen ins Paradies meint, dass man glaubte, '89 doch in so etwas wie einen – ja, sagen wir mal – natürlichen Menschheitszustand zurückgekehrt zu sein. Und Einübung und Paradies sind natürlich Dinge, die eigentlich einander widersprechen. Nur das ins Bewusstsein zu rücken – und dass vielleicht das, was als Normalität, gewisserweise als Paradies, angesehen wird, natürlich auch etwas ist, was geworden ist. Und gerade bei den Hoffnungen, die man hatte, bei den Ansprüchen, die es '89, '90 gab, wie diese Welt verändert werden könnte, ist natürlich dann die Fallhöhe ziemlich groß."
"Kolonisierung deluxe"
Ingo Schulze ist bekannt dafür, dass er kein Blatt vor den Mund nimmt, wenn er von der Enttäuschung der Ostdeutschen spricht – über den, wie er es nennt, Beitritt der DDR:
"Und in der Folge lässt sich das schon beschreiben als eine Art Kolonisierung deluxe." Zumal dadurch auch der Westen die globalen Veränderungen in der Folge von '89 kaum wahrgenommen habe. Ingo Schulze:
"Eigentlich interessiert mich in München vielmehr: Was hat sich in München getan durch diesen Weltenwechsel. Und das Frappierende ist ja, dass man dann sehr oft hört: Ja, also hier hat sich doch nichts verändert. Hier musste sich doch gar nichts verändern."
Er wolle das Forum nun nutzen, um Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt zu befragen, welche Auswirkungen sie spürten. Um den Spirit von '89 und seine ambivalenten Folgen auch dem saturierten Süden der Republik bewusst zu machen.