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Zehnter Jahrestag der Maueröffnung

Durak: Zehnter Jahrestag der Maueröffnung, die Reden sind gehalten, die gehalten werden sollten und auch solche, die in den Köpfen geblieben sind. Vorwürfe und Enttäuschungen in Ostdeutschland hat es vorab wegen der Rednerliste für die Feierstunde im Bundestag gegeben. Werner Schulz, haben wir denn gestern nun das erlebt und gehört, was Sie vorab befürchtet und beklagt haben - vorgezogene Feiern zum 3. Oktober?

    Schulz: Ja, in etwa ist es so gelaufen, wie ich das befürchtet habe, wie ich das auch kritisiert habe im Vorfeld. Diese ‚zerknüllte' Rednerliste ist zwar durch Joachim Gauck noch geglättet worden. Er hat wirklich eine andere Sichtweise noch hineingebracht, aber er hat auch einen Geschmack darauf gegeben, wie es hätte eigentlich sein können, wenn man mehr von dieser Güte und Qualität eingeladen hätte, wenn man dem Ereignis gerechter geworden wäre - als dass sich da drei alte große Staatsmänner nun gegenseitig loben und ihre Geschichten erzählen, wie es zur Deutschen Vereinigung gekommen ist. Der 9. November war eben doch der Tag, als die Mauer aus Ost- und Westberlin gestürmt wurde.

    Durak: Ich höre aus Ihren Worten ziemlich viel Traurigkeit und auch Bitterkeit?

    Schulz: Nein, Bitterkeit nicht. Ich glaube, es gehört mit zu den Versäumnissen; es ist ja nicht so eine gewaltige Sache, ob uns das jetzt gelungen ist, eine entsprechende Veranstaltung hinzubekommen. Wir Deutschen tun uns offensichtlich schwer; wir sind nicht in der Lage, wie die Franzosen auf der Straße zu tanzen. Das gibt möglicherweise unsere Mentalität und unsere Geschichte nicht her. Es besteht auch kein Anlass zum Jubel, wenn man unsere Geschichte betrachtet - gerade am 9. November, das ist ja ein Schicksalstag in unserer Nation. Der zieht sich von 1848 bis 1989, hat alle Teilrevolutionen in der Verbindung, hat die düstersten Kapitel und die glücklichsten Momente zusammen. Also kein Grund für Jubel, aber immerhin Grund zur Freude, zur Hoffnung.

    Durak: Sie haben vorgeschlagen - und nicht nur Sie -, den 9. November zum nationalen Gedenk- und Feiertag zu machen. Ist das auch so ein Traum ehemaliger Bürgerrechtler? Ich glaube, Rainer Eppelmann war es gestern auch in Berlin, der das gefordert hat.

    Schulz: Ja, ich meine, es hat etwas mit der Art zu tun, wie die Vereinigung dann vollzogen worden ist, ziemlich technisch, schnell, an manchen Stellen unbedacht. Und der 3. Oktober hat ja überhaupt keinen historischen Bezug. Er ist einfach so auf den Kalender gesetzt worden, weil es einen Tag vor dem 7. Oktober geben mußte, dass also die DDR keine 41 wird, sondern mit 40 verbleicht. Diese Schwierigkeiten haben wir dann auch permanent, die Verwechslung des 9. Novembers mit dem 3. Oktober. Eigentlich ist der 9. November der Tag der Wiedervereinigung, als sich die Leute tatsächlich in den Armen lagen, als sie sich wiederbegegnet sind. Und wie gesagt: Es ist der Tag unserer Geschichte, und es wäre gut, wir würden uns der gesamten Geschichte stellen. Dieser 9. November bietet die Chance, auch zur inneren Einheit der Nation zu kommen. Und insofern hat uns das Gespür gefehlt für demokratische, für nationale Symbole, die eine einheitsstiftende Wirkung haben.

    Durak: Herr Schulz, hat sich da aber mit der Rednerliste - denke ich mal, um nur darauf anzuspielen - nichts anderes abgespielt, als was sich sonst in den Parteien abspielt, nämlich dass ostdeutsche Stimmen und Personen eher Randerscheinungen sind? Oder ist das übertrieben?

    Schulz: Das ist nicht übertrieben. Insofern folgt diese Veranstaltung einer Kette davorliegender Ereignisse. Da besteht überhaupt keine Frage. Mein Freund Jochen Tschieche hat das gestern in der TAZ auf den Punkt gebracht, indem er gesagt hat, es wäre eigentlich mal die Chance für die Ostdeutschen, und die Westdeutschen sollten zuhören, wenn sie schon 364 Tage im Jahr das Sagen haben.

    Durak: Ich möchte, Herr Schulz, ungern einem Vorurteil Vorschub leisten, nämlich dass Ostdeutsche zum Jammern neigen. Also - umgedreht den Spieß selbst: Weshalb haben sich Ostdeutsche in den vergangenen 10 Jahren nicht energischer eingemischt?

    Schulz: Berechtigte Frage. So einfach ist das natürlich nicht in einer Demokratie, die auf Mehrheitsverhältnissen beruht. Da bekommen Sie relativ schnell mit, dass Sie in einer Minderheit sich befinden, zumal: Es gibt nicht die Ostdeutschen, so wie es die Westdeutschen - als Sammelbegriff - gibt. Das ist ja dann auch differenziert, teilt sich auf die Parteien, auf politische Richtung, und ich meine auch nicht, dass das Klagen und Jammern und Lamentieren ist, was man da aus dem Osten hört. Es mag solche Stimmen auch geben, die gibt es im übrigen ja auch im Westen. Ich glaube, das ist mehr ein Stöhnen. Das ist ein Verhalten, wenn man diesem großen Anpassungsdruck ausgesetzt ist, wenn man sich umstellen muss. Und die Ostdeutschen mußten in den letzten Jahren doch Enormes bewältigen. Sie mußten sich in fast allen Lebensbereichen umstellen. Dass das nicht immer nur mit Freudenausbrüchen verbunden ist, vor allem wenn man merkt und feststellt, dass so das eine oder andere westdeutsche Gebrauchsmuster eben doch nicht so ohne weiteres zu übertragen ist.

    Durak: Nun sind Sie ja sozusagen ‚gebranntes Kind' im deutsch-deutschen Parteibündnis - 90/Die Grünen, was Macht angeht. Fehlt es den Ostdeutschen an positivem Machtbewußtsein?

    Schulz: Möglicherweise. Wir haben das ja nicht gelernt, und mit Ellenbogen durchzusetzen - ich weiß auch nicht, ob das in jedem Falle so erstrebenswert ist. Vielleicht gibt es da auch eine Scheu, diese Körperteile einzusetzen . . .

    Durak: . . . welche Körperteile? . . .

    Schulz: . . . die Ellenbogen meine ich, in der Gesellschaft sich durchzuarbeiten.

    Durak: Ich dachte ja, da geht es um den Kopf.

    Schulz: Ja, die Politik der Köpfe ist nicht unbedingt das Ausschlaggebende, wenn Sie das Gerangel anschauen. Also, da müssen Sie schon mit allen Mitteln offenbar arbeiten. Möglicherweise ist gerade denen das nicht gegeben gewesen, die diese friedliche Revolution mit vorangebracht haben, denn das spricht ja in einer gewissen Weise für sich, das ist eine Stärke und eine Schwäche zugleich gewesen. Also, das Instrumentarium, sich in der westdeutschen Politik durchzusetzen, haben die Ostdeutschen - glaube ich - nicht so erworben. Es ist verdammt schwer, aber es fehlt, es gibt einen Mangel. Und wie deutlich der geworden ist, konnte man gestern bei den Reden auch erleben. Es wäre durchaus wünschenswert, dass in der Politik auch in diesem vereinten Deutschland die Bürgerrechtler eine größere Rolle spielen, also dass Zivilcourage, Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, nicht dieses ausgesprochene Angepasstsein, was sich in den politischen Karrieren auszahlt, dass solche Dinge wieder stärker zum Vorschein kommen.

    Durak: Nun sind doch aber Bürgerrechtler aus der DDR eigentlich fast am Ziel ihrer Träume angekommen, indem sie nämlich mit Hilfe der rot-grünen Koalition teilhaben an der Regierung, am Regieren. Sie haben Möglichkeiten zur Gestaltung und Umgestaltung. Wieviel von den Bürgerrechtsträumen und -vorstellungen sind denn aus Ihrer Sicht verwirklicht in dieser Koalition?

    Schulz: Es sind ja nicht mehr viele Bürgerrechtler übrig geblieben. Das hat unterschiedliche Gründe, aber das spricht nicht unbedingt für den politischen Betrieb, in den sie geraten sind. Was die Regierungspolitik anbelangt: Ich meine, ein Großteil der Wünsche, der Vorstellungen der Bürgerrechtler, die sind bereits 1990/91 in Erfüllung gegangen mit der Vereinigung. Das sind die selbsterkämpften Freiheitsrechte, wenn sie so wollen. Die finden sich doch alle wieder in der Bundesrepublik, im Grundgesetz und dergleichen mehr. Was nicht verwirklicht worden ist - und das ist möglicherweise auch heute schwierig -, ist eigentlich der kritisch bilanzierende Blick oder die kritisch bilanzierende Aufnahme - was hätte man an Erfahrungen, an Wertvorstellungen, die es im Osten gab, mit übernehmen können.

    Durak: Was hätte man denn?

    Schulz: Mehr als nur den ‚grünen Pfeil' oder den Gedanken an Polikliniken beispielsweise. In der jetzigen Reformpolitik beispielsweise müßten wir wissen, dass es in der DDR Lohnfortzahlung im Krankheitsfall immer prozentual abgestaffelt gab, dass es eine freiwillige Zusatzrentenversicherung gab, also dass es durchaus das Bewußtsein gab, dass man selbst noch mehr einfallen muss in Sozialversicherungs-Systeme, wenn man im Alter eine entsprechende Absicherung haben will.

    Durak: Herr Schulz, da befinden wir uns aber auf sehr gefährlichem Terrain, denn in der DDR gab es das auf dem Papier und auch in unseren Lohntüten, aber es war nicht bezahlbar.

    Schulz: Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall war ja - wenn Sie so wollen - doch anders geregelt als wir das heute hier haben. Aber ich will mich nicht darüber streiten. Die DDR liefert natürlich auch die Negativbeispiele, dass man Sozialpolitik nicht auf Kosten der Wirtschaft machen kann. Auch das ist eine wichtige Erkenntnis. Aber schau'n Sie beispielsweise, dass man es übernommen hat, kirchliche Feiertage abzuschaffen, um damit Sozialpolitik zu machen. Das ist eine schlechte Erfahrung, die wir aus der DDR übernommen haben. Das hatten ja gerade die Bürgerrechtler wieder rückgängig gemacht. Damals wurde der arbeitsfreie Samstag durch die Abschaffung kirchlicher Feiertage erkauft. Wir haben das bei der Pflegeversicherung gemacht. Also irgendwo stimmt da etwas nicht.

    Durak: Erleben wir, Herr Schulz, nicht im gewissen Sinne die Demontage bündnis-grüner Ideale und Ziele in der Realität der rot-grünen Koalition?

    Schulz: Das ist nun jetzt ein ganz anderes Kapitel, was Sie anschneiden. Ich glaube, dieses Urteil kommt zu schnell. Wir sind ein Jahr jetzt erst dabei, haben natürlich große Schwierigkeiten. Ich will die überhaupt nicht in Abrede stellen. Es ist ein wirklich hartes Geschäft, wenn man sich der Realität stellen muss und wenn man versucht, seine Programmvorstellungen umzusetzen. Wir sind da selbst nicht zufrieden mit dem, was bisher erreicht worden ist. Aber fairer weise sollte man eine Regierung am Ende einer Legislaturperiode bewerten, dafür wird sie ja auch für vier Jahre gewählt. Ich finde es nicht gut, wenn man immer diesem Dauer- und Schnelltest ausgesetzt wird, der im Grunde genommen dann schon die Gesamtnote erteilen möchte.

    Durak: Also haben Sie nicht die Empfindung, es gibt zuviel SPD und zu wenig Bündnis/Grüne?

    Schulz: Da könnten wir schnell einer Meinung sein. Ich habe im Moment auch eher das Empfinden, dass wir noch zu wenig in dieser Regierungskoalition vorkommen, noch zu wenig umsetzen, aber wir sind bemüht, das zu verändern. Die Proportionen stimmen natürlich noch nicht, und auch das, was wir an Vorstellungen haben, ist noch längst nicht - wie gesagt - in einem solchen Zustand, dass wir zufrieden sind. Aber wir arbeiten daran, und dass wir da nicht aufgeben, das mag ein Zeichen dafür sein, dass ich Rot-Grün durchaus eine Perspektive gebe.

    Durak: Danke schön. Werner Schulz war das, Bundestagsabgeordneter der Bündnisgrünen. Herzlichen Dank Herr Schulz.

    Schulz: Bitteschön.

    Link: (Gespräch mit Dr. Helmut Kohl (9.11.99)==>/cgi-bin/es/neu-interview/452.html)