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"Zeiden, im Januar"
Die Siebenbürger Sachsen im Zweiten Weltkrieg

"Zeiden, im Januar" erzählt die Geschichte der Siebenbürger Sachsen während des Zweiten Weltkriegs. In ihrem ersten Roman zeichnet Ursula Ackrill ein differenziertes Bild von Situation und Gemütslage der Sachsen und ihrer rumänischen Mitbürger. Wie ihre Heldin Leontine stammt auch die Autorin aus Kronstadt, und verließ wie sie Siebenbürgen als junge Frau.

Von Eva Pfister | 09.03.2015
    Die Schriftstellerin Ursula Ackrill in der Sendung "Lesart" im Deutschlandradio Kultur
    "Zeiden, im Januar" von Ursula Ackrill ist für den diesjährigen Leipziger Buchpreis nominiert. (Matthias Horn / Deutschlandradio)
    Leontine Philippi hadert mit ihren Sachsen. Die deutsche Minderheit in Siebenbürgen hätte sich nicht so abschotten dürfen, denkt sie. Zwanghaft hielt die Volksgruppe an ihren Traditionen und Eigenheiten fest, fühlte sich den Rumänen und Ungarn um sie herum weit überlegen, verpasste dafür aber den Anschluss an die Moderne. Man lebt in Städten, deren Festungsmauern die feindliche Umgebung ausschließen, oder in Bauerndörfern, wo sich seit dem Mittelalter kaum etwas geändert hat.
    Leontine ist anders. Als Tochter aus gutem Haus hat sie in Wien studiert, kennt sich in Politik, Philosophie und Geschichte aus und liebt eine Ästhetik, der die altdeutschen Bauernmöbel nicht entsprechen. Während des Ersten Weltkriegs hat sie in der Kleinstadt Zeiden das Haus eines verschollenen Fliegers gekauft, der ihr einmal nahe stand. Das Bauernhaus richtete sie mit Jugendstilmöbeln ein, was sie schon äußerlich als eine Art Dissidentin entlarvte.
    Trotz ihrer rebellischen Gedanken, die sie auch öffentlich, etwa im Gemeinderat, kundtut, ist sie bei der Bevölkerung beliebt, denn sie kann wunderbar Geschichten erzählen, oft solche von Menschen, die aus dem Jenseits zurückkehren. Als Privatgelehrte schreibt sie an einer Geschichte Siebenbürgens, an einer sogenannten Turmknopfchronik. Die seltsame Bezeichnung geht auf das Wirken eines ihrer Vorfahren zurück, des Pfarrers Georg Draudt.
    "Dass Pfarrer eine Stadtchronik verfassen, ist üblich und korrekt, aber dieser Pfarrer, ein Waisenkind, 1748 vom Kronstädter Magistrat mit einem Reisegeld der Stadt auf die Universitäten in Halle und Jena geschickt, fiel aus seiner Rolle heraus, wie ein Jungvogel aus dem Nest halbwegs nach unten stürzend seine Flügel rührt und auffliegend entdeckt, in welchem Verhältnis das Nest zur Welt steht. Ein Humanist, der eine neue, zeitgerechte Schulordnung einführte, konnte mit konventionellen Erwartungen aber auch freier umgehen, diese etwas höher anlegen, als man in Zeiden den Hintern hochzureißen gewöhnt war.
    Aber wie hoch? Hoch an der Spitze des Glockenturms, unter dem Wetterhahn, über dem Turmhelm mit den vier Glocken im C-Dur-Akkord, auf denen Sprüche stehen wie 'Sachsenfleiß und Bürgersinn / Stellten mich als Wächter hin', glänzt goldig auch heute der Turmknopf aus Werkstätten sächsischer Goldschmiede. In diesen Kugelkessel legte Georg Draudt 1794 eine Kopie seiner Chronik hinein."
    Die Siebenbürger Sachsen wollten mit den Deutschen kämpfen
    Ursula Ackrill stammt wie ihre Heldin Leontine aus Kronstadt, und verließ wie sie Siebenbürgen als junge Frau. Sie studierte Germanistik und Theologie in Bukarest und Leicester, promovierte über Christa Wolf und lebt heute in England. Wie ihre Heldin scheint auch Ackrill mit ihren ehemaligen Landsleuten zu hadern. Denn der Titel ihres ersten Romans "Zeiden, im Januar" bezieht sich auf den Januar 1941, als die Siebenbürger Sachsen alles daran setzten, mit den Deutschen zu kämpfen.
    Dass die Nationalsozialisten mittlerweile mit dem faschistischen Rumänien verbündet waren und deshalb die fernen Sachsen in die rumänische Armee schickten, passte ihnen gar nicht. Heimlich ließen sie ihre jungen Männer nach Wien transportieren, um zur Waffen-SS zu stoßen. Wenn Leontine mit ihnen in einem Güterwaggon sitzt, wie gleich zu Beginn des Romans erzählt wird, hat das allerdings nichts damit zu tun, dass sie mit ihnen sympathisieren würde. Sie muss fliehen – das erfahren die Leser am Schluss des Buches.
    Die Autorin erzählt also die Geschichte der Siebenbürgen Sachsen bis in die Zeit des Dritten Reichs. Das Buch ist jedoch mehr als eine Abrechnung. Ackrill analysiert die Igelmentalität der deutschen Minderheit bis weit in die Geschichte hinein und macht zugleich ihre alte Heimat lebendig durch intensive – und liebevolle – Schilderungen von Orten und Lebensweisen.
    Ambivalent gezeichnet sind auch die Charaktere: der Arzt Herfurth, der sich vom guten Freund und Gesprächspartner zum Opportunisten und Gegner entwickelt, oder die junge sympathische Rumänin Maria, Leontines Haushaltshilfe. Als Maria mit ihrer Familie 1940 nach Bukarest zieht, genießt sie das Leben in der Großstadt mit der südlichen Lebensart, wird aber auch von dem neuen, nationalistischen Selbstbewusstsein erfasst. Und sie handelt mit Antiquitäten, die bei den sogenannten "Rumänisierungsaktionen" aus jüdischen Häusern geraubt werden, was sie solange verdrängt, bis sie persönlich dem Opfer eines Pogroms gegenübersteht.
    "Der Junge nuschelte, weil Blut in seinem Mund schneller zusammenquoll, als er schluckte. Sein Mund war wundgetreten, sein Auge eine dunkelblaue Falte, die aufsprang. Es war seine Blässe und die Langsamkeit, mit der er die geringste Bewegung vollbrachte, wie eine Ameise, die aus dem Bernstein herauszukommen bemüht ist, was Maria zwang, stillzustehen. Sie sah ins Treppenhaus hinauf und wollte um Hilfe rufen. Da gaben die Beine unter ihm nach. Maria fasste rasch seinen Rücken, aber ihre Hand glitt aus und mit dem Hemd zusammengerafft hoch. Sie prallten hart auf die Treppenstufen, und als Maria versuchte, ihn aufzurichten, sah sie, dass sein Rücken ein Rinnsal war, glatt vom Blut aus einer Schusswunde im Nacken."
    Eigenwillige und unkonventionelle Sprache
    Die Sprache von Ursula Ackrills Romans ist eigenwillig und in Stil wie Grammatik oft unkonventionell. Ob dies einer Entwöhnung des Deutschen zuzuschreiben ist oder auf die Sprachgewohnheiten der Siebenbürger Sachsen zurückgeht, ist schwer zu beurteilen. Man stolpert beim Lesen über originelle Wendungen wie "Leontine lacht sich die Haut voll" oder befremdliche wie "Zornig schlüpft Maria ihr Kleidchen über". Und wundert sich, dass für "Kuppel" das Wort "Dom" verwendet wird – wie es im Englischen üblich ist.
    Dramaturgisch leidet der Roman darunter, dass die Autorin die Zeitgeschichte bis ins letzte Detail vermitteln will. Das liest sich zuweilen, als hätte sie eine Chronik geschrieben - wie ihre Heldin Leontine - und diese dann kunstvoll zerstückelt, sodass man sich in vielen Zeitsprüngen dem entscheidenden 21. Januar 1941 nähert. Problematischer noch ist die Tatsache, dass die Figuren mehr Informations- als Handlungsträger sind. In ihren Gedanken und Gesprächen müssen sie vor allem Geschichte und politische Reflexionen vermitteln, eine psychologische Figurenzeichnung kommt dabei zu kurz.
    Dabei hat die Prosa von Ursula Ackrill ein großes Potenzial für sinnliche Schilderungen, sie setzt auch mutig eigene Metaphern ein. So entführt sie beim Lesen in ein vergangenes Siebenbürgen, in die Küchen, Gassen und Gärten, in die Säle des Gemeinderats und hinaus ins Waldbad, auf dessen Errichtung an einer warmen Quelle die Zeidener besonders stolz waren.
    "Hundertjährige Baumriesen wurden gefällt, und es wurde Licht im Talkessel. Eine Betonstauwand wurde errichtet. Lehrerschaft und Verschönerungsverein, dem das Waldbad gesetzlich gehörte, organisierten den Abwechsel von Arbeitsbelegschaften mit den Fabriken Zeidens, den Schulen, den Bauern, Kaufleuten und Handwerkern, dem Männerchor, Bläserkapelle, Theaterverein, Landwirtschaftsverein, Gewerbeverein, Spar- und Vorschussverein, Turnverein. Der Evangelische Frauenverein richtete Brötchen an und lieferte sie nach Absprache ab, die Krankenschwester des Frauenvereins dienstbereit dabei. Pferdefuhrwerke ratterten ein und aus, Schaufeln schnitten tief, Spitzhacken bissen gierig in die Wälle oberhalb des Schwimmbeckens, weiteten einen behaglichen Raum für Terrassen aus."
    Es ist nicht zu überlesen, dass die Autorin dieser Gemeinschaft und ihrem Zusammenhalt nachtrauert, die durch die Entwicklungen im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden. Woran die Siebenbürger Sachsen selbst nicht unschuldig waren.

    Ursula Ackrill: "Zeiden, im Januar".
    Wagenbach Verlag, Berlin 2015, 256 Seiten, 19,90 Euro.