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Zeit der Orientierungssuche

Eine der Ursachen sinkender Umfragewerte für die CDU sieht der Publizist Warnfried Dettling in der ausgebliebenen Debatte nach der Wahlniederlage 2005. Die Partei müsse sich mit einer veränderten Familienpolitik für moderne Verhältnisse öffnen und dürfe nicht nur den "Homo Oeconomicus" sehen. Am Dienstag will die CDU auf einem Kongress in Berlin ein neues Grundsatzprogramm diskutieren.

Moderation: Ferdos Forudastan |
    Forudastan: In Angela Merkels Haut möchte man im Moment nicht stecken. Ganz gleich, was die Kanzlerin und CDU-Chefin im Moment tut oder lässt, ihre Union ist mit ihr unzufrieden und die Wähler sind es auch. Jedenfalls kommen die Christdemokraten in Umfragen so schlecht weg wie schon lange nicht mehr. Ein Teil ihrer Partei wirft Merkel vor, dass sie nicht entschieden genug regiere, dass sie wichtige Entscheidungen auf die lange Bank schiebe, dass sie vor allem beim Abbau des Sozialstaates zu wenige Konflikte mit dem Koalitionspartner SPD riskiere. Andere Unionspolitiker blasen in ein ganz anderes Horn, zum Beispiel der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers. Öffentlich verlangt er von der CDU, sie solle ihr soziales Profil schärfen und sich dafür stärker an den Interessen der Arbeitnehmer orientieren. Und dann fordert er auch noch die Christdemokraten sollten sich von Lebenslügen, wie der trennen, Steuersenkungen führten zu mehr Investitionen und damit zu Arbeitsplätzen. In dieser für sie ziemlich schwierigen Zeit der Orientierungssuche stürmt die Union gewissermaßen nach vorne. Übermorgen, am Dienstag, will sie in Berlin auf einem großen Kongress ihr zukünftiges Grundsatzprogramm diskutieren. Das Motto der Veranstaltung lautet: "Grundsätze für Deutschland, neue Gerechtigkeit für mehr Freiheit". Warnfried Dettling beschäftigt sich als Publizist seit etlichen Jahren mit der Union und er war unter Generalsekretär Heiner Geißler Leiter der Hauptabteilung Politik im Konrad Adenauer-Haus. Schönen guten Morgen, Herr Dettling!

    Dettling: Hallo, guten Morgen Frau Forudastan!

    Forudastan: Debatten über das eigene Programm, über den eigenen Kurs und über die Frage warum will die Partei wann, wo hin, das haben sie ja in Ihrer Zeit als christdemokratischer Stratege auch immer gefordert. Was erwarten Sie von der jetzt anstehenden Diskussion über das neue Grundsatzprogramm?

    Dettling: Ja nun, der Grundsatzkongress am Dienstag sollte eigentlich so eine Art Zwischenbilanz geben über die Grundsatzdebatte, über das Grundsatzprogramm der Union, welches im nächsten Jahr verabschiedet werden soll, und eben auch deutlich machen, wie die CDU einerseits ihre Politik der Freiheit, wirtschaftlicher Dynamik, persönlicher Entfaltung und der sozialen Gerechtigkeit verbindet. Ich glaube, dass jetzt das Thema ein anderes sein wird und im Mittelpunkt werden die Kontroversen der letzten Zeit stehen, die Sie auch angesprochen haben, und Frau Merkel wird die Gelegenheit nutzen, ihre Position deutlich zu machen, und ich denke auch, dass man die Kritiker hören wird. Ich finde das auch nicht so tragisch, dass man öffentlich und kontrovers über diese Dinge diskutiert, es sind wichtige Fragen.

    Forudastan: Das heißt, die CDU wird sich mit einem Dilemma beschäftigen in dem sie ja, man muss fast sagen, objektiv steckt, nämlich einerseits ist da der Wunsch als entschiedene oder radikale Reformerin des Sozialstaats Punkte zu machen und zum anderen ist die Sorge davor, als christliche Partei, die sie ja immer noch sein will, viel soziales Profil einzubüßen.

    Dettling: Ich denke, dass die Debatte, die jetzt ausgebrochen ist, relativ klare Ursachen hat und die wichtigste Ursache besteht darin, dass es vor einem Jahr keine Debatte gab über die Ursachen der dramatischen Wahlniederlage und dass diese Debatte damals wirklich von Frau Merkel selber an sich auch unterdrückt wurde und jetzt sackt die CDU weiter runter, blickt in die 20er Prozent und jetzt geht es wirklich darum, mit welcher Politik kommt man wieder aus dieser Politik heraus. Es ist ganz einfach so, dass die CDU im Wahlkampf einen Kurs verfolgt hat, den sie auf dem Leipziger Parteitag 2003 beschlossen hat, und das war im Grunde ein eher neoliberaler Kurs, und der kam wie ein Transplantat in die Partei hinein, und die Partei hat ihn nie mehrheitlich richtig angenommen und jetzt wird es wirklich darum gehen und das kann man auch tun und daran arbeitet das Grundsatzprogramm, Freiheit, Dynamik, persönliche Entfaltung und Gerechtigkeit mehr miteinander zu verbinden. Man kann durchaus zeigen, dass man auch Reformen um der Gerechtigkeit Willen braucht, aber das wurde nicht deutlich.

    Forudastan: Aber selbst, wenn die CDU das vor einem Jahr schon angepackt hätte, nach der Wahlniederlage oder bereits früher, sie wäre trotzdem in diesem Dilemma, über das wir eben gesprochen haben, stecken, vielleicht nicht geblieben, aber sie wäre darin gesteckt. Wie kommt sie da raus? Sie sagen, das lässt sich durchaus verbinden, aber ganz offenkundig hat diese Partei ja große Schwierigkeiten damit.

    Dettling: Der jetzige Slogan heißt eben "neue Gerechtigkeit durch mehr Freiheit". Der Punkt ist der, dass es durchaus in der Wissenschaft und in der politischen Debatte Ansätze gibt, wie man diese beiden Aspekte, Politik der Freiheit, das klassische Markenzeichen der CDU, und Politik der Gerechtigkeit miteinander verbinden kann und einer derjenigen, der hier gute Ideen vorgetragen hat, ist der Nobelpreisträger Amartya Sen, der sagt eben, wir brauchen eine soziale Politik um der Freiheit, um der Chancen, um der Fähigkeiten der Menschen Willen und Gerechtigkeit bedeutet dann, dass diese Politik der Freiheit, der Chancen der Fähigkeiten für alle gilt, auch für die Migranten, auch für die, die zu 20 Prozent die Hauptschulen verlassen, auch für die, die keine Chancen haben aufzusteigen. Und wenn man international schaut, wie die Gerechtigkeitsbilanz in OECD-Ländern aussieht, dann sieht man eben, dass Deutschland sehr schlecht abschneidet, trotz viel Geld bei der Integration, sowohl der Menschen in den Arbeitmarkt wie auch bei der Integration der Menschen in ein weiterführendes Bildungssystem. Nirgendwo werden so viele Menschen durch das Bildungssystem und durch den Arbeitsmarkt ausgegrenzt wie bei uns. Es gibt also die Möglichkeit, konzeptionell und politisch beides miteinander zu verbinden. Das hat aber die CDU in der Vergangenheit nicht hinreichend deutlich gemacht und auch Rüttgers sagt in seinem Text gestern in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", dass er sich ja Sozialpolitik nicht einfach als Umverteilungspolitik vorstellt, sondern als soziale Ordnungspolitik, und ich denke, die CDU führt die Debatte, und sie kann daraus gestärkt hervorgehen, wenn sie es richtig macht.

    Forudastan: Heißt das, was Sie sagen, dass die CDU sich von ihrem Anspruch, eine radikale Reformerin vor allen Dingen in der Wirtschaftspolitik zu sein, verabschieden muss?

    Dettling: Ich denke, die CDU muss eines wieder deutlich sagen, was sie eigentlich immer gesagt hat. Eine erfolgreiche Wirtschaft ist eine notwendige Vorraussetzung für eine gute Entwicklung der Gesellschaft, aber es ist keine hinreichende Voraussetzung für eine gute Entwicklung der Gesellschaft. Man muss durch Sozialpolitik dafür sorgen, dass Menschen die Fähigkeiten bekommen und durch Bildungspolitik dafür sorgen, dass Menschen die Fähigkeiten bekommen, in der Tat am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen Leben mitzuspielen, und das ist eine eigene Anstrengung. Der entscheidende Punkt ist, dass ein neoliberaler Kurs der den Menschen auf einen Homo Oeconomicus und die Gesellschaft auf Wirtschaft reduziert, dass ein solcher Kurs von der Sache her nicht durchzuhalten ist und auch nie die Politik der CDU war. Und das ist in der Vergangenheit, in den letzten drei Jahren finde ich schon etwas zu kurz gekommen, und das kann die CDU mit ihrem Grundsatzprogramm jetzt im Grunde klar stellen.

    Forudastan: Es gibt ja einen weiteren Widerspruch in dem sich die CDU befindet und auch empfindet, nämlich sie will sich verschiedenen Wählergruppen stärker annähern als früher, also zum Beispiel Menschen in nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften, allein erziehenden Singles oder Homosexuellen und gleichzeitig will sie aber auch an den traditionalen Wählerschichten festhalten, die damit gar nichts anfangen können und sozusagen weiter auf die Familie und nur die Familie in ihrer ursprünglichen Form setzen.

    Dettling: Ja der Punkt ist einfach der, dass sich die Gesellschaft, die Familienwelt und die Arbeitswelt in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch geändert hat, und die CDU steht jetzt vor der Aufgabe ihren Wählern und der Öffentlichkeit deutlich zu machen, dass eine Politik für die Familie, die die Wahrscheinlichkeit von Familien und Kindern in Zukunft erhöht, andere politische Maßnahmen und Strategien braucht als in der Vergangenheit. Sehen Sie in den 1950er und 1960er Jahren waren 95 Prozent eines Altersjahrgangs verheiratet und von diesen hatten wiederum 95 Prozent Kinder. Davon kann heute, man mag das bedauern, keine Rede mehr sein und man steht einfach vor der Situation, dass die traditionelle Familienpolitik mit Familientransfers von 150 Milliarden Euro im Jahr, dass diese Familienpolitik nicht erfolgreich war. Die Zahl der Kinder geht zurück, die Zahl der Familien geht zurück, Familienarmut ist nicht besiegt, die Gleichheit der Geschlechter in Bezug auf Familie und Arbeitswelt ist nicht gegeben und deshalb braucht man gerade um der Familie Willen eine neue Familienpolitik. Und ich denke, dass Frau Ursula von der Leyen, argumentationsstark wie sie ist, hier auf dem richtigen Weg ist. Es ist nicht sicher, dass dies gelingt, aber es gibt keinen anderen Weg. Mit der traditionellen Familienpolitik kann man einige Konservative, vor allem Männer, beruhigen, aber man kann für die Familie keine guten Vorraussetzungen in Zukunft schaffen, und das ist ein schwieriger Spagat für die CDU. Hier muss man wirklich offensiv argumentieren und die Politik erklären. Ob es erfolgreich ist, man weiß es nicht.

    Forudastan: Ob es erfolgreich ist, man weiß es nicht. Das ist ja einmal die Frage, wie erfolgreich ist es nach draußen zu den Wählern hin. Aber wie sicher ist sich die CDU selber, dass sie nicht nur diese Debatten führen will, sondern diese Modernisierung auch in die Tat umsetzen möchte?

    Dettling: Die CDU ist sich in diesem Punkt einerseits nicht sicher, andererseits schon sehr sicher. Der Punkt ist der, dass die CDU wirklich geschockt ist gegenwärtig durch die schlechten Umfrageergebnisse. Man darf nicht übersehen, dass vor zehn Jahren so etwas völlig undenkbar gewesen wäre, da lag die CDU über 40 Prozent und jetzt ist sie im 30 Prozentturm, hat sie sich etabliert. Rüttgers sagt ja nicht umsonst, man muss wieder Richtung 40 Prozent kommen. Die CDU ist eine sehr robuste Partei. Sie ist auch eine Partei, die sich an neue Horizonte gewöhnt. Es ist gar keine Frage. Das war in den 70er Jahren so. Zum andern gibt es starke Milieus und starke Minderheiten, die sich gerne in der traditionellen Politik einrichten wollen. Man darf nicht übersehen, dass die Mitglieder und Funktionäre aufgewachsen sind und geprägt sind in der scheinbar guten alten Zeit der 50er und 60er Jahre. Da ist ihr Familienbild gewachsen, ihr Bild von Sozialpolitik gewachsen, und das könnte doch eigentlich immer so bleiben.

    Forudastan: Dankeschön, Herr Dettling! Publizist, CDU-Kenner und früher Leiter der Hauptabteilung Politik im Konrad-Adenauer-Haus.