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Zeit
Utopien funktionieren nicht ohne Vergangenheit

Unsere Kultur sei geprägt von der Ausrichtung auf die Vergangenheit und einer Vision auf die Zukunft, sagt die Literaturwissenschaftlerin und Anglistin Aleida Assmann. Ihr neues Buch "Ist die Zeit aus den Fugen?" ist ein Parforceritt durch Philosophie-, Kultur und Sozialgeschichte.

Von Thomas Kleinspehn |
    Kirchturmuhr der Sankt Cosmas Kirche in Kaufbeuren
    In was für einer Zeit wir leben, kann uns die Uhr nicht sagen. (dpa / picture alliance / Karl-Josef Hildenbrand)
    Wenn wir über "Zeit" sprechen, haben wir zunächst einmal Hektik, Beschleunigung und Terminkalender im Sinn. Für die Literaturwissenschaftlerin und Anglistin Aleida Assmann steht das allerdings nicht so im Vordergrund. Als Expertin für "Erinnerungskultur" sucht sie schon seit langem nach dem Verhältnis von Geschichte, Gegenwart und Zukunft. In ihrem jüngsten Buch, "Ist die Zeit aus den Fugen?" steht das Zeitregime der Moderne explizit im Mittelpunkt. Hier fragt sie danach, mit welcher Perspektive wir leben und wie unsere Kultur geprägt ist zwischen der Ausrichtung an der Vergangenheit und einer Vision auf die Zukunft. Das Zeitwissen einer Gesellschaft ist etwas - so schreibt sie -, was sich nicht kognitiv, auf der Schulbank, vermitteln lässt, sondern langfristig kulturell wirkt.
    "Was ich versucht habe, ist dieses implizite Zeitwissen mir einmal aus zu buchstabieren, vor mich hinzustellen und auch mal anzuschauen, um zu wissen, was es eigentlich ist, das mich hier trägt. Das kann man in dem Moment tun, wo dieses Zeitregime in eine Krise gerät, das heißt, wo es plötzlich nicht mehr funktioniert, an allen Ecken und Enden anstößt und weil sich Alternativen auftun. Und eine solche Zeitkrise haben wir - das ist meine These - erlebt in den 80er-Jahren. Und da diese Krise in meine eigene Biografie fällt, bin ich so zu sagen Beobachterin dieser Krise und versuche im Nachhinein zu verstehen, wie war das vorher und was ist nachher daraus geworden. Also ich spreche über einen Wandel unseres westlichen Zeitdenkens."
    Dieser Wandel in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat in der Perspektive von Aleida Assmann nicht nur eine einzige Ursache. Vielmehr kamen in diesem Zeitabschnitt verschiedene Faktoren zusammen, wie der Mauerfall und der Aufbau eines neuen Europa auf der politischen oder die Revolutionierung von Kommunikationsstrukturen und Medien durch die Digitalisierung auf der kulturellen Ebene. Nicht ursächlich dadurch, aber dennoch zur gleichen Zeit, tauchten - etwa mit den Berichten des Club of Rome - Fragen danach auf, ob angesichts ökologischer Krisen ein eindimensionaler Blick in die Zukunft noch möglich und sinnvoll sei. Zudem wurde vielen Menschen immer deutlicher, dass traumatische Erfahrungen aus der Vergangenheit und Erinnerungen selbst in großen zeitlichen Abständen nicht mehr verdrängt werden konnten. All diese nur scheinbar unzusammenhängenden Tendenzen machten es immer schwieriger, allein mit dem Blick auf die Zukunft und mit Fortschrittsperspektiven zu leben.
    Einzelne Zeitdimensionen sind nur schwer voneinander zu trennen
    "Von der Vergangenheit konnte man glauben, sich abzusetzen und genau das funktionierte nicht mehr in den 80er Jahren. Diese Vergangenheit kam als Hypothek zurück. Wir haben nicht nur über den Holocaust wieder nachgedacht und die Stimmen der Opfer wieder angefangen zu hören, in einer ganz neuen Form. Wir haben auch die Gewaltgeschichte überhaupt zu Ohren bekommen, was etwa die Kolonialgeschichte angeht oder auch die Sklaverei. Also alle diese Dinge, die für erledigt galten, weil sie in der Vergangenheit lagen, man hatte sich ja schon längst davon zeitlich distanziert, rollten sich, bäumten sich noch einmal vor uns auf. Also die Zeit hat ihren Charakter als Einbahnstraße verloren, es gab Rückbezüge, Wiederaufnahmen, aber auch neue Herausforderungen, die aus der Vergangenheit zurückkamen."
    Gegenwart und Zukunft funktionieren nicht ohne die Vergangenheit: Hier kommt die Expertin für Erinnerungskultur sehr nahe an ihre früheren Werke heran. Doch jetzt geht es um mehr, zumindest um eine andere Perspektive: Die einzelnen Zeitdimensionen sind nur schwer voneinander abzugrenzen. Es macht aber gerade die Moderne aus, dass sie versucht hat, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft scharf zu trennen. Aleida Assmann zeichnet die verschiedenen Schübe eines eindimensionalen Zeitregimes nach. Für sie beginnt das nicht erst mit der französischen Revolution im späten 18. Jahrhundert, sondern fängt schon in ersten Ansätzen bei der Herausbildung des Monotheismus, des Christentums und später des neuzeitlichen Bürgertums an. Die Debatte um diese Fragen spürt die Autorin deshalb schon bei Platon oder Augustinus auf und beschreibt dann die diskontinuierlichen Schübe der letzten zweihundert Jahre seit der industriellen Revolution. Durchgesetzt hat sich in diesem langen Prozess immer wieder eine Vorstellung von der radikalen Trennung der Zeitebenen. Dagegen macht Assmann, um ihre eigene Perspektive zu untermauern, jene Minderheitenposition stark, wie sie etwa der Historiker Reinhard Kosseleck vertreten hat: Eine Zukunftsperspektive, gar eine Utopie sei ohne Erinnerung und Geschichte nicht denkbar. Nur so könne man die Zukunft schließlich auch von ideologischen Visionen des Untergangs befreien.
    "Es geht jetzt nicht um eine generelle Verdüsterung des Zukunftshorizonts oder diese Endzeitstimmung, die in den Filmen im Moment so große Konjunktur hat, so zu sagen Weltuntergang mit Zuschauer. Das ist dort das Thema, nein darum geht es natürlich nicht. Es geht darum, nur zu verstehen, aus was für einer Welt wir eigentlich kommen und wie sich die Umstände geändert haben, die uns jetzt dazu zwingen, auch unser Zeitregime diesen neuen Umständen besser anzupassen."
    Der amerikanische Traum ist der Traum des weißen Amerikas
    In welcher Weise die Verleugnung von Geschichte ganze Gruppen und Kulturen ausgrenzt, wenn das Zeitregime sich ausschließlich auf die Zukunft richtet, macht die Konstanzer Anglistin besonders eindrücklich gerade nicht an einem ihr aus früheren Forschungen vertrauten Beispiel aus dem Holocaust deutlich, sondern am klassischen Bild des amerikanischen Traums. Mit Blick in die Zukunft bindet er noch heute eine ganze Nation scheinbar zusammen. Bei genauerer Betrachtung zeige sich aber, dass er letztlich der Traum des weißen Amerikas ist; von Menschen, die eine gemeinsame europäische Geschichte im Gepäck haben. Afroamerikaner oder Latinos dagegen werden mit ihrer ganz anderen historischen Erfahrung von dieser Zukunftsvision, wenn nicht ganz ausgeschlossen, so doch zurückgedrängt. Utopien ohne Vergangenheit funktionieren nicht, das ist die These. Wir können nicht für eine abstrakte Utopie mit der Geschichte brechen.
    "Dieser Aufruf zum Brechen durchzieht die ganze westliche Geschichte und Kulturgeschichte. Es soll immer wieder gebrochen werden. Wir wollen einen voraussetzungslosen Anfang schaffen, eine Tabula Rasa, auf der das Neue entstehen soll. Das ist die große, überhöhte Utopie, das wir so etwas wie die Schiefertafel immer wieder auswischen können und damit uns von der Vergangenheit trennen. Das ist die Utopie des neuen Menschen gewesen, die auch Stalin sozusagen verwirklichen wollte mit unglaublicher Gewalt. Wir wissen, dass diese Utopie zwar schön klingt, aber wenn sie gewalttätig umgesetzt wird auch sehr mörderisch sein kann. Der Punkt ist also: Wir müssen auch unsere eigenen Utopien kennen und wisshr neueswas wir von ihnen dann auch in der Vergangenheit zurücklassen und was wir davon wieder aktivieren wollen."
    Diese Suche nach der aus den Fugen geratenen Zeit ist ein Parforceritt durch Philosophie-, Kultur und Sozialgeschichte. In ihr versucht Aleida Assmann der Zeit auf die Spur zu kommen und sie nicht abermals linear zusammen zu setzen, sondern über Vielfalt und Diskontinuitäten neue Zusammenhänge zu erschließen, die in der Gegenwart Vergangenheit mit zukünftigen Veränderungsprozessen verbindet. Wer bereit ist, der Autorin auf ganz unterschiedlichen, manchmal auch recht assoziativ entstandenen Wegen zu folgen, dem tut sich eine anregende Lektüre auf, die das Festhalten an starren Weltbildern erfreulich unmöglich macht.
    Aleida Assmann: "Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne", München, Hanser Verlag, 2013, 22,90 Euro