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Zeitdiagnostik
Die wunderbare Wünschelrute

Die Aufgabe der Intellektuellen ist es, zu verstehen, was in der Gegenwart vor sich geht. Das Genre der Zeitdiagnostik ist daher ihr ureigenstes Terrain. So entstehen Geschichten über bedeutungsträchtige Veränderung. Lässt sich aber über den Sinn der eigenen Gegenwart wirklich etwas aussagen?

Von Andrea Roedig | 27.08.2017
    Wecker der fünf vor zwölf zeigt.
    Wie verändert sich die gesellschaftliche Dynamik? (imago / allOver-MEV)
    Herfried Münkler sieht die neuen Kriege heraufziehen, Thomas Piketty die Ungleichheit wachsen, Hartmut Rosa erklärt, warum uns die Beschleunigung zerreibt, und Ulrich Bröckling, wie wir zunehmend zu "Unternehmern unserer selbst" werden.
    Die Aufgabe der Intellektuellen ist es, zu verstehen, was in der Gegenwart vor sich geht, und das Genre der "Zeitdiagnostik" ist ihr ureigenstes Terrain. So entstehen Geschichten über Wandel und bedeutungsträchtige Veränderung. Lässt sich aber über den Sinn der eigenen Gegenwart wirklich etwas aussagen? Oft kommt bei Zeitdiagnosen als Ergebnis hinten das heraus, was vorne als These schon eingespeist wurde.
    Andrea Roedig, geb. 1962 in Düsseldorf, lebt seit 2007 als freie Publizistin in Wien. Sie ist Mitherausgeberin der Zeitschrift "Wespennest". Letzte Buchveröffentlichung: "Bestandsaufnahme Kopfarbeit" (zusammen mit Sandra Lehmann), Klever-Verlag 2015.

    Der Beitrag zum Nachlesen:
    "Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie ... so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfasst."
    - Hegel -
    Von Hegel stammt der Satz, Philosophie sei ihre Zeit in Gedanken gefasst. Dieses merkwürdige Diktum bedeutet einerseits, dass die Vernunft - also die Philosophie - ihre Gegenwart gedanklich durchdringen kann und so deren rationale Struktur, ihre Wahrheit offenlegt.
    Deutlicher noch: Philosophie ist nichts anderes als die Enthüllung der Wahrheit ihrer Zeit. Andererseits bedeutet Hegels Satz, dass das Denken nur bis hierher kommt und nicht weiter: Es wird nie mehr sein können als die Gegenwart es zulässt.
    Müdigkeitsgesellschaft ... Wissensgesellschaft ... Informationsgesellschaft ... Erlebnisgesellschaft ... Abstiegsgesellschaft ... Risikogesellschaft ... McDonald’s‑Gesellschaft ... Multioptionsgesellschaft ... vollmobile Single‑Gesellschaft ...
    Die Gegenwart heute ist voller Zeitdiagnosen. Sie erscheinen wie die ungezogenen Schwestern des großen Hegelschen Anspruchs: Das verborgene Prinzip zu erkennen, das die Geschichte antreibt und sich in ihr ausdrückt.
    In gewisser Hinsicht scheint die vor rund 150 Jahren aus der Taufe gehobene Wissenschaft der Soziologie nichts anderes zu vollbringen als eine Analyse der eigenen Zeit.
    Schon die Klassiker Max Weber, Émile Durkheim, Georg Simmel, Karl Mannheim: Sie alle denken über die Gesellschaft als Gegenwartsphänomen nach. Wer sind wir als Gesellschaft? Wie lassen sich deren Strukturen beschreiben? Gibt es gar eine Logik ihrer Entwicklung, wie Norbert Elias mit dem "Prozess der Zivilisation" es annahm, Max Weber mit der Entzauberung der Welt durch Rationalisierung, Niklas Luhmann mit der Ausdifferenzierung der Systeme oder viel stärker noch Adorno und Horkheimer, als sie von der "Dialektik der Aufklärung" sprachen?
    Es verändert sich etwas. Ich spüre es genau. Ich sehe es täglich und die anderen bemerken es auch. Was geht hier vor? Wenn ich es nur begreifen könnte.
    "Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit."
    - Hegel -
    Hegel selbst wähnte sich am Ende der Geschichte, deren Kulminationspunkt er im preußischen Staat als Vollendung des Weltgeistes erblickte. Das war offensichtlich zu früh angesetzt. Wäre die Geschichte aber nicht an ihrem Ende angekommen, so glaubte Hegel, hätte er sie in ihrer Erfüllung doch auch nicht erkennen können. Sagt ihm doch die Zeit, was er zu denken habe.
    Sagt sie es? Die eigene Zeit zu verstehen ist ein großer Anspruch und ein Bedürfnis, nicht nur gesellschaftlicher, sondern auch persönlicher Natur. Schließlich gebiert uns die Zeit, uns alle - wir stehen nie außerhalb.
    Man könnte, wenn auch nicht ganz trennscharf, noch immer Gesellschaftstheorie von der Zeitdiagnose unterscheiden. Letztere wirkt leichtfüßiger und flüchtiger, weil sie nicht auf die träge Struktur gesellschaftlicher Formen, sondern auf deren Wandel zielt. Alles ändert sich ja immerfort. Der Soziologe Uwe Krähnke vermutet, dass die Zeitdiagnosen erst richtig Aufwind bekamen, als die großen soziologischen Gesellschaftstheorien erlahmten. Der Boom habe mit den 1980er‑Jahren eingesetzt. Im Gefolge vermehrten sich dann ab den 1990er‑Jahren auch die gelabelten Generationen - die Alterskohorten und Erfahrungsgemeinschaften - in immer schnellerer Folge:
    Generation X ... Generation Golf ... Generation Reform ... die Millenials ... Generation Praktikum ... Generation Porno ... Generation Y ... Generation doof.
    Obwohl Zeitdiagnostik zum Kerngeschäft der Soziologie gehört, genießt sie innerhalb der akademischen Zunft keinen besonders guten Ruf. Sie sei, so ist man sich einig, ein hybrides Gebilde mit bedenklich feuilletonistischer Schlagseite. Über ihre Zeitdiagnosen gewinnt die Soziologie an Popularität, denn letztlich kann sie meist nur mit starken Thesen zur Gegenwart - als public sociology - das Interesse einer breiten Öffentlichkeit gewinnen. Damit bleibt sie aus streng wissenschaftlicher Sicht ein Schmuddelkind. Oder, wie Hans-Peter Müller es in einem Aufsatz von 1997 auf den Punkt brachte:
    "Zeitdiagnostik ist und bleibt Soziologie mit beschränkter Haftung."
    - Hans-Peter Müller -
    Was aber sind Zeitdiagnosen eigentlich?
    Eine "soziologische Aufklärung der Gesellschaft über sich selbst"
    - Uwe Schimank -
    In erster Linie dienen sie der Selbstverständigung einer Gesellschaft über ihren gegenwärtigen Zustand. Sie versuchen zu verstehen, was vor sich geht und die Gegenwart in ihren wesentlichen Zügen auf den Begriff zu bringen.
    So verschieden Zeitdiagnosen im einzelnen sind, gemeinsam ist allen, dass sie fokussieren, Beobachtungen bündeln und auf wenige Merkmale oder sogar nur einen wesentlichen Aspekt reduzieren.
    Unter "der Kraft eines Brennglases" formuliert es Jürgen Habermas. Man kann dabei recht intuitiv und beliebig vorgehen, wie etwa der Philosoph Byung-Chul Han, der mal die Müdigkeit als wesentliches Zeitmerkmal hervorhebt, dann wieder die Transparenz. Man kann genauer und mit mehr empirischem Material arbeiten, wie Gerhard Schulze in seiner Analyse der "Erlebnisgesellschaft" von 1992 oder Manuel Castells mit der dreibändigen Studie Das Informationszeitalter. Oder man kann die eigene Untersuchung mit absolutem systematischem Anspruch versehen wie Hartmut Rosa, der in der Temporalstruktur der "Beschleunigung" nicht bloß ein äußerliches Merkmal sieht, sondern eine immanente Logik der Moderne, auf die im Grunde alle gegenwärtigen Phänomene sozialen Wandels zurückzuführen seien.
    "Die vorliegende Studie basiert daher auf der Überzeugung, dass adäquate sozialwissenschaftliche Zeitdiagnosen in der Tat Zeit-Diagnosen im Wortsinn sein sollten."
    - Hartmut Rosa -
    Beschleunigung, Individualisierung, Globalisierung, McDonaldisierung - woher wir nun wissen können, dass ausgerechnet dieses oder jenes Merkmal das relevante und absolut Wesentliche sein soll, ist nicht leicht zu begründen. Ausgewählt wird ein Merkmal, weil es auffällt, weil es vermehrt auftritt und als symptomatisch erscheint. Es geht schließlich darum, die Zeichen der Zeit zu lesen.
    Man müsse bei diesem Geschäft auch überzeichnen, schreibt der Politologe Herfried Münkler in seinem Buch Kriegssplitter, denn ohne Überzeichnung könne man Veränderung nicht rechtzeitig wahrnehmen. Das Brennglas ist ja eine Lupe. Münkler vertritt seit vielen Jahren die These, die Ära der großen Staatenkriege sei vorbei, doch Krieg damit keinesfalls überwunden. In den heute geführten "neuen Kriegen" habe er nur seine Formen und Akteure gewechselt, es habe sich die "Grammatik des Krieges" grundlegend verändert.
    Grammatik, Brennglas, Kriegssplitter: Ob eine Theorie plausibel ist oder nicht, ob sie wirksam wird oder nicht, liegt oft daran, dass die zugehörige Metapher als Bezeichnung gut gewählt ist - etwa "Gutenberg-Galaxis" oder "stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit". Auch der Zeitpunkt der Veröffentlichung einer Diagnose kann entscheidend sein. Als im April 1986 der Kernreaktor Nr. 4 in Tschernobyl explodierte, hatte Ulrich Beck sein Buch Risikogesellschaft gerade geschrieben. Es erschien im September desselben Jahres und war mit der These über die Unberechenbarkeit der Technikfolgen das Buch der Stunde. Mit etwas Glück wird die Zeitdiagnose sogar prophetisch.
    Was heißt es nun aber, eine Zeit, seine Zeit, die Gegenwart zu verstehen? Und was kommt zuerst, das Verstehen oder die Empirie?
    "Wer die Welt vernünftig ansieht, den sieht sie auch vernünftig an."
    - Hegel -
    Jedes Erkennen ist verstrickt ins Henne-Ei-Problem, oder anders gesagt: in den viel beschworenen hermeneutischen Zirkel. Wer finden will, muss wissen, was er sucht; wer erkennen will, was eine Gegenwart ausmacht, muss ungefähr schon eine Vorstellung davon haben, in welche Richtung die Reise gehen könnte; Idee und Beobachtung gehen eine Allianz ein: das ist ein Problem der Zeitdiagnosen. An ihrem Anfang steht vielleicht eine Irritation, eine Beobachtung über die Wirklichkeit, etwas, das nicht ins alte Bild passt, beziehungsweise ein neues ergeben könnte.
    Einmal zur zeitdiagnostischen These geronnen, finden sich für das Behauptete dann auch die entsprechendem Bestätigungen in der Wirklichkeit: Coffee-to-go, Speed-Dating und Power-Naps beweisen die Beschleunigung; Computerisierung und Digitalisierung die These von der "Netzwerkgesellschaft".
    Und für die "neuen, hybriden Kriege" passt, dass Warlords an den Randzonen der geordneten Welt regieren, Terrormilizen aus dem Nichts heraus Gebiete in Syrien besetzen und weltweit Attentate organisieren.
    Perfekt. Nur leider auch tautologisch.
    "Wenn jemand ein Ding hinter einem Busche versteckt, es ebendort wieder sucht und auch findet, so ist an diesem Suchen und Finden nicht viel zu rühmen: so aber steht es mit dem Suchen und Finden der ‚Wahrheit‘ innerhalb des Vernunft‑Bezirkes."
    - Nietzsche -
    Trotzdem kann man gar nicht anders denken als im hermeneutischen Zirkel, der im besten Fall eine Spirale ist. Die Logik der Zeitdiagnosen, so schreibt Jo Reichertz in einem Aufsatz, sei abduktiv. - Klassischerweise verfahren Schlüsse entweder deduktiv, das heißt, sie leiten eine Folgerung aus logischen Prinzipien ab; oder sie sind induktiv, das heißt aus der Erfahrung abstrahiert und damit jederzeit falsifizierbar.
    Abduktion, ein von Charles Sanders Peirce eingeführter Begriff, bezeichnet eine dritte Erkenntnisweise, die zwischen Deduktion und Induktion angesiedelt ist:
    "Die Abduktion ist zu verstehen als gedankliches Schlussfolgern in einer bestimmten, auch logisch beschreibbaren Form, die etwas Überraschendes und somit Problematisches durch die Erfindung einer neuen Regel erklärt bzw. verstehbar werden lässt."
    - Jo Reichertz -
    Oder mit Charles Sanders Peirce selbst gesagt:
    "Ein einzigartiger Salat ... dessen wichtigste Ingredienzien in seiner Grundlosigkeit, seiner Allgegenwart und seiner Zuverlässigkeit bestehen."
    - Charles Sanders Peirce -
    Das Abduzieren ist ein riskantes Geschäft, "informiertes Raten" sozusagen und nicht ganz rational einzuholen. Natürlich finden sich zu jeder Zeitdiagnose auch die sie entkräftenden Gegenbeispiele. Trotzdem behält die Diagnose, wenn sie gut ist, für eine gewisse Weile als Modell ihr Recht und ihre Plausibilität. Irgendetwas an Zeitdiagnosen ist nämlich spannend, hat einen gewissen Thrill. Und sie scheinen den Menschen doch wirklich etwas zu erklären. Sie scheinen wie intuitiv zu erfassen, was vielleicht schon da, aber irgendwie noch nicht sichtbar ist. Etwas, das aber sicher da sein wird, wenn die zugehörige Diagnose erfunden ist. Noch ein Zirkel. Zeitdiagnosen erfassen ihren Gegenstand divinatorisch.
    Wünschelruten eben, die manchmal eine Wasserader finden.
    Wirklich sicher weiß man natürlich erst im Nachhinein, was der Fall gewesen ist und ob eine Zeitdiagnose passte. Nicht nur für Hegel fliegt die Eule der Minerva erst nach Mitternacht, sondern auch für weniger metaphysisch eingestellte Langfrist-Diagnostiker wie den Historiker Reinhart Koselleck:
    "Jede Geschichte ... ist eine logificatio post festum. Das aber setzt denknotwendig voraus, dass jede Geschichte in ihrem Vollzug selbst sinnlos ist. Die wirkliche Geschichte zeigt sich in ihrer Wahrheit erst, wenn sie vorbei ist." - Koselleck -
    Warum beschäftigen wir uns mit Zeitdiagnosen? Vielleicht - so lautet eine selbst zeitdiagnostische Vermutung - weil wir nicht mehr historisch denken. Die Geschichtsphilosophie jedenfalls, die mit Hegel erst begann und mit ihm auch fast schon wieder zu Ende ging, ist kaum neu zu beleben. Geschichtsphilosophie sucht ja nach einem allgemeinen, Sinn generierenden Bewegungsgesetz: Woher kommen wir, wohin gehen wir? Ohne die Vorstellung eines Ziels, die sie aus der jüdisch‑christlichen Heilsgeschichte entlehnt und zum Fortschrittsgedanken umformuliert, macht Geschichtsphilosophie wenig her. Genau diese große Richtung der historischen Gesamterzählung ist aber nicht mehr glaubwürdig, weder im Rückblick, noch nach vorn.
    Gegen Ende des 20. Jahrhunderts verdunkelte sich der Fortschrittshimmel noch einmal, die Aussichten schienen düster und es war sogar eine Zeitlang Mode, von "Posthistoire" zu reden. Francis Fukuyamas Bestseller Das Ende der Geschichte oder Jean-François Lyotards Diktum vom "Ende der großen Erzählungen" gehören hierher.
    "Wenn Geschichtsphilosophie nicht von einem letzten Ziel ausgeht, [sondern versucht, sich gegenüber den letzten metaphysischen Fragen nach dem Grund der Dinge enthaltsam zu verhalten,] wird sie häufig zu dem Versuch, die Tendenzen einer Epoche, einer Kultur zu rekonstruieren, um die eigene Gegenwart zu verstehen."
    - Matthias Schloßberger -
    So schreibt Matthias Schloßberger in einer Einführung zur Geschichtsphilosophie. Das hieße aber, dass Zeitdiagnostik die Geschichtsphilosophie beerbt, sie "auf die Erde holt".
    Zeitdiagnostik saugt das historische Denken in die Gegenwart hinein, und das ist vielleicht selbst symptomatisch.
    Der Boom der Zeitdiagnosen ließe sich jedenfalls als eine Bestätigung für die These von der Posthistoire lesen oder für die These von der "breiten Gegenwart", die der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht vertritt. Er glaubt, dass wir einen neuen "Chronographen" erfinden, eine neue Wahrnehmung der Zeit. Denn natürlich haben die Menschen auch nicht immer historisch empfunden. Das eigentliche Geschichtsdenken beginnt - einer berühmten Theorie Reinhart Kosellecks zufolge - erst mit Mitte des 18. Jahrhunderts. Dieser Chronograph gerate nun in Vergessenheit, sagt Gumbrecht, er bestehe zwar noch fort, sei aber überlagert durch eine neue Zeiterfahrung, die sich von der Vergangenheit überflutet und von der Zukunft bedroht sieht: die Simultanität breiter Gegenwart.
    Es verändert sich etwas. Ich spüre es genau. Ich sehe es täglich und die anderen bemerken es auch. Was geht hier vor? Wenn ich es nur begreifen könnte.
    "Intensität ist ein unbesiegbares, am Grund unseres Empfindungsvermögens halb verborgenes Ungeheuer, das die Moderne gegen ihren Willen geweckt hat."
    - Tristan Garcia -
    Menschen sind Sinnwesen, Bedeutungstiere, sie haben ein tiefes Bedürfnis, sich selbst zu verstehen, nicht nur aus der Vergangenheit heraus, sondern im Hier und Jetzt und in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang. Das Gefühl, es gebe Zeichen der Zeit, die wie Orakel zu uns sprechen und den Sinn der Gegenwart offenlegen, macht die Zeitdiagnose als Genre so spannend. Man liegt am Puls der Zeit, dort wo das Blut pocht, und die gedeuteten Zeichen sind Symptome, deren Auslegung nicht bloß Analyse ist, sondern zugleich ein Befund: Die Zeit ist krank, ganz klar, und wir sind beim Arzt.
    Verstehen heißt immer: einen Zusammenhang herstellen. Muster und Strukturen zu erkennen, gibt uns das Gefühl, wir hätten eine Sache begriffen. Zeitdiagnosen leisten diese ordnende Funktion am Faden einer Erzählung: Etwas wandelt sich, bricht um, etwas Altes wird durch etwas Neues ersetzt oder etwas überwunden Geglaubtes kehrt wieder; an die Stelle von x tritt y - so lauten immer die rhetorischen Figuren.
    Dabei wandern Zeitdiagnosen meist nicht auf einem breiten Plateau oder in einer langen Ebene kontinuierlicher Entwicklung. Wie jede gute Novelle konstruieren sie einen Umschlagpunkt, einen turning point, um den herum sie sich situieren. Sie selbst sehen sich auf einem Gipfelpunkt von etwas oder im Auge des Hurrikans Veränderung. Ein angeblich qualitativer Umschlag sind ihr Anlass, ihre Legitimation und ihre Spannung. Dabei sind Zeitdiagnosen oft auch mit einem gewissen Drohszenario verbunden:
    "Es wird und kann nicht so weitergehen wie bisher, das wollen die Gegenwartsanalysen sagen."
    - Uwe Schimank -
    Es sind auch ihre Elemente von kriminalistischer Logik, die den Zeitdiagnosen öffentliches Interesse sichern: Eine verborgene Gefahr wird aufgedeckt und etwas Erstaunliches ans Licht gehoben. Gleichzeitig gibt es eine hohe Wiedererkennbarkeit wie in jedem ARD-Tatort. Schließlich handeln die Zeitdiagnosen von einem Hier‑und‑Jetzt, das wir nur allzu gut kennen und das uns alle angeht.
    "Die in der Moderne konstitutiv angelegte soziale Beschleunigung [übersteigt] in der ‚Spätmoderne’ einen kritischen Punkt, jenseits dessen der Anspruch auf ... soziale Integration nicht mehr aufrecht zu erhalten ist."
    - Hartmut Rosa -
    Als Drama mit offenem Ausgang bleibt die Zeitdiagnose auch weiterhin spannend. Denn die Zukunft ist ja ungewiss und niemand weiß, was wohl noch wird aus der ungeheuren Akkumulation des Kapitals im 21. Jahrhundert, der zunehmenden Ungleichheit, dem Schrumpfen der Mittelschicht, der bevorstehenden Erderwärmung, den sich radikalisierenden Religionen, den geschwächten Demokratien und den globalen Migrationsströmen.
    Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen – 1991
    Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte -1992
    Pierre Bourdieu: Das Elend der Welt -1993
    Giorgio Agamben: Homo sacer -1995
    Samuel Huntington: Kampf der Kulturen - 1996
    Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst - 1998
    Zygmunt Bauman: Unbehagen in der Postmoderne - 1998
    Richard Sennett: Der flexible Mensch - 2000
    Anthony Giddens: Der dritte Weg - 2000
    Jeremy Rifkin: Access - Das Verschwinden des Eigentums - 2000
    Antonio Negri und Michael Hardt: Empire - Die neue Weltordnung - 2000
    Luc Boltanski und Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus - 2000/ 2003
    Colin Crouch: Postdemokratie - 2005
    Claus Leggewie und Harald Welzer: Das Ende der Welt, wie wir sie kannten - 2009
    Thomas Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert - 2013
    [Jahreszahlen beziehen sich auf Erscheinungsdatum der Originalausgabe]
    Auffällig ist, wie viele Zeitdiagnosen seit den 1990er‑Jahren und vor allem um die Jahrtausendwende herum erschienen sind, und dass dieses Genre mit seinem Hang zur großen These eine fast ausschließlich männliche Domäne zu sein scheint. Autorinnen sind hier jedenfalls extrem rar gesät, allenfalls könnte man an Eva Illouz denken mit ihren Büchern über die Veränderung der Liebe und der "Gefühle in Zeiten des Kapitalismus".
    Zeitdiagnosen siedeln, wie wir gesehen haben, immer an einem Umschlagpunkt, in der Nähe einer Krisis als der absoluten Gegenwart. Genau das wird ihnen - wen wundert’s - auch zum Verhängnis.
    "Die ‚Haltbarkeitsdauer’ soziologischer Gegenwartsanalysen kann durchaus begrenzt sein."
    - Uwe Schimank -
    Zeitdiagnosen verbrennen sich selbst. Denn eigenartig: Auch wenn Etiketten wie "Erschöpfung", "Risiko", "Erlebnisgesellschaft" durchaus später noch passen und etwas erklären könnten, sind sie - einmal in der Welt - auch schon veraltet. Das Publikum möchte zugleich erstaunt werden und nicken können. Es will Neues hören oder zumindest - wenn es nichts Neues gibt - Altes im neuen Gewand.
    Auf Zeitdiagnosen scheint die Beschleunigungsthese von Hartmut Rosa perfekt zuzutreffen und auch der Gedanke der Ausdifferenzierung von Niklas Luhmann: Ihre Zyklen werden kürzer und ihre Thesen kleinteiliger. Während die 1990er‑Jahre im Rückblick lange am Gedanken der Risikogesellschaft und der so genannten "zweiten Moderne" knabberten, sind jetzt - vom intensiven Leben - siehe Tristan Garcia - bis zur Angstgesellschaft von Heinz Bude - viele kleine Diagnosesnacks im Handel, die sich vermutlich nur schwer werden halten können. Denn:
    "Wer den Zeitgeist heiratet, ist schnell verwitwet."
    - Hans-Georg Soeffner -
    Es gibt natürlich gute Zeitdiagnosen und schlechte, solche, die zur rechten Zeit kommen wie die erwähnte "Risikogesellschaft" und solche, die hinterherhinken, wie die "Multioptionsgesellschaft" von Peter Gross, die allzu Offensichtliches nur noch einmal bündelte. Gut sind Zeitdiagnosen, wenn sie eine gewisse Beständigkeit aufweisen, systematisch tief gehen, ihren Zentralbegriff sorgfältig wählen und auch nicht den eigenen Metaphern aufsitzen.
    Denn Zeitdiagnosen funktionieren großenteils über Bilder. Die aber verquirlen sich mitunter ins mystisch Unbestimmte, selbst beim kühlen Geostrategen Herfried Münkler:
    "Die Beherrschung der Ströme von Menschen und Gütern, Kapital und Information ist um ein Vielfaches wichtiger geworden als die Besetzung geographisch umrissener Räume. ... Man kann darin den klassischen Gegensatz zwischen Land- und Seeimperien sehen."
    - Herfried Münkler -
    Mit den Techniken der Seeschlacht Ströme kontrollieren, die gar nicht mehr aus Wassermolekülen bestehen? Ach, Leimtopf der Bildlichkeit.
    Es gibt durchaus Maßstäbe für die Qualität von Zeitdiagnosen: begriffliche Klarheit, schlüssige theoretische Grundlagen, systematische Erfassung des Faktenmaterials, überzeugende Formulierung und interessante Einsichten. Diese Aspekte nennt Walter Reese-Schäfer für eine gute Zeitdiagnose. Interessant soll sie sein, plausibel, solide recherchiert und stringent argumentiert.
    Bleibt zum Schluss nur die Frage, ob Zeitdiagnostik im eigentlichen Sinn überhaupt möglich ist. Können wir unsere Gegenwart wirklich begreifen?
    "Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit."
    - Hegel -
    Nur Gegenwärtige können die Gegenwart verstehen. Nur ein "Sohn seiner Zeit", wie Hegel so schön formulierte, wird Einsichten haben, weil er mit seiner Zeit auf tiefe Weise verbunden ist: Er ist ja - gewissermaßen - aus ihrem Holz geschnitzt. Genau das ist aber auch Schwachstelle der Zeitdiagnostik: Ihr historischer Ort macht sie hellsichtig und muss zugleich doch ihr blinder Fleck bleiben. Denn wer in der Gegenwart verhaftet ist, hat zu wenig Distanz; er wird in der Zeit über die Zeit nicht unbedingt Wesentliches aussagen können, zumindest wird er nicht sicher sein können, ob das, was er aussagt, wesentlich gewesen sein wird. Er verhält sich, um es mit Charles Sanders Peirce zu sagen, wie ein frisch geschlüpftes Küken, das instinktiv Körner aufpickt um:
    "Beim Picken auszuwählen und nur das aufzupicken, was es picken möchte ... [was] in jeder Hinsicht nichts anderem ... als einem abduktiven Schluss gleicht."
    - Charles Sanders Peirce -
    Vielleicht ist es das Geheimnis wirklich guter Zeitdiagnosen, dass sie gar nicht auf die Gegenwart schauen, sondern in die Zukunft oder in die Vergangenheit. Das Jahr 1984 ist zwar schon lange vorbei, aber George Orwells dystopischer Roman, der diese Jahreszahl als Titel trägt, ist in Teilen immer noch aktuell. Dasselbe gilt für Aldous Huxleys Brave New World. Beide Werke werden immer wieder zitiert, so als habe die Zukunft sie nie ganz einholen können.
    Als große Prophetien kann man auch manche Werke von Michel Foucault ansehen. Man hat den Eindruck, dass er vor der Welt in die Archive flüchtete, sich dort vergrub, die Renaissance beforschte, das Barock, die Antike. Nur um der verhassten Gegenwart zu entgehen und sie gleichzeitig zu verstehen. "Archäologie" und "Genealogie" nannte er seine Methoden, mit denen er nach der Herkunft, dem Gewordensein suchte.
    Wo und wie hat das Heute angefangen? Der Wandel ist nicht jetzt, sondern war früher.
    Erstaunlich ist, wie hellsichtig manche von Foucaults Begriffen im Nachhinein erscheinen und wie enorm produktiv sie wurden. Von "Biopolitik" etwa sprach er mit Blick auf das 19. Jahrhundert und erfand damit vor 40 Jahren einen Begriff, der heute exakt auf den Boom der Anti‑Aging-Medizin und der gesteigerten Sorge um Gesundheit und Fitness passt. Der Begriff "Gouvernmentalität" wiederum kann einen neoliberalen Umbau in Europa beschreiben, den Foucault selbst, der 1984 verstarb, gar nicht mehr miterlebt hat. Wenn jemand den "Salat" der Abduktion, der intuitiv geleiteten Hypothesenkunst beherrschte, dann war es Foucault. Er war ein Wünschelrutenmeister par excellence.
    Was lernen wir daraus? Die Begriffe der Zeitdiagnose dürfen nicht zu konkret an der Gegenwart ausgerichtet sein, wenn sie die Gegenwart erfassen wollen. Um nicht vorne hineinzutun, was hinten herauskommen soll, um nicht in einen schlechten hermeneutischen Zirkel zu geraten, muss der Zeitdiagnostiker, die Zeitdiagnostikerin, die Perspektive wechseln und eine Befremdung einführen. Zeitdiagnosen sind Hilfsmittel, Raster, Brillen, etwas, das sich zwischen die unmittelbare Erfahrung und das Denken schiebt. Denn paradoxerweise muss man ja das Bild verzerren, um klar sehen zu können.
    Für die gegenwärtige Theorie heißt das auch, dass sie langsamer, behutsamer, größer werden müsste und nicht kleinteiliger. Natürlich sind Zeitdiagnosen selbst Ausdruck ihrer Zeit, und nicht von ungefähr gibt es über die nervöse, mit sich selbst beschäftigte Gegenwart auch schon ein Buch mit dem Titel Die Diagnosegesellschaft. Unbestreitbar bleibt aber das grundlegende menschliche Bedürfnis, sich im Zusammenhang der Gesellschaft und der Zeit zu verstehen, eine Erklärung für dieses Gefühl zu finden, dass sich etwas verändert, vor allem, wenn sich so vieles zu ändern scheint
    "im rasenden Stillstand."
    - Hartmut Rosa -
    Die Welt in ihren Strukturen wandelt sich aber vermutlich nicht so schnell, wie die ungeduldig auf Gipfel- und Wendepunkte ausgerichteten Zeitdiagnosen es gerne hätten. Schnell zu reagieren heißt, dem Zeitgeist zu verfallen. Gute Diagnosen müssen den Zeitgeist erkennen, natürlich, aber es gilt hier allenfalls, eine locker Affäre mit ihm zu unterhalten, keinesfalls, ihn zu heiraten.
    Kurz gesagt: In gewisser Weise sollten Zeitdiagnosen, wie Nietzsche es für das Denken forderte, "unzeitgemäß" sein,
    "Das heißt gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zugunsten einer kommenden Zeit - zu wirken." - Nietzsche -