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Zensur gegen Presse in Europa
"Unser Bericht soll ein Weckruf sein"

Der in London veröffentlichte "Index on Censorship" prangert Fälle von Einschüchterungen gegen Pressevertreter in ganz Europa an. Auch Deutschland taucht im aktuellen Bericht auf. Und eine neue Gefahr geht vom Internet aus.

Von Friedbert Meurer | 19.11.2018
    Fernsehkameras stehen in einer Reihe aufgebaut.
    Freie Berichterstattung? In vielen Ländern nicht mehr selbstverständlich. (Imago / photothek)
    Ein Büro in der Nähe des Bahnhofs Victoria Station im Londoner Westen. Sean Gallagher und seine Kolleginnen haben hier Fälle an Zensur in Europa zusammengetragen. Schon seit 1972 prangert die gemeinnützige Organisation "Index on Censorship" Zensur an. Sean Gallagher zeigt auf die mehr als 200 Berichte aus all den Jahren, die rechts auf den Regalen säuberlich aneinandergereiht stehen.
    1972 begann alles damit, dass Dissidenten aus der Sowjetunion über Zensur Klage führten. Nach 1990, als der Kalte Krieg endete, zogen sich die ersten Sponsoren der Stiftung zurück - in der optimistischen Annahme, jetzt sei Zensur in Europa ja kein Thema mehr. Eine irrige Annahme, wie der aktuelle Bericht belegt. "Wir in der EU glauben, dass Zensur ja nur andernorts passiert. Unser Bericht jetzt soll ein Weckruf sein. Es geschieht genau hier in sehr etablierten Demokratien, den 28 EU-Mitgliedsstaaten."
    Gewalt gegen Journalisten auch in Deutschland
    Das Titelbild der aktuellen Ausgabe zeigt eine Journalistin, die von mehreren Mikrofonkabeln fast stranguliert wird. Dazu wehen die bunten Fahnen Europas. Sean Gallagher von "Index on Censorship" listet die schlimmsten Länder auf: Italien, wo Politik und Mafia die Presse mit Zensur und Gewalt einschüchterten. Oder Malta mit dem Mord an einer Reporterin, die über Verbindungen zwischen der Regierung und mafiösen Netzwerken recherchierte. Genannt wird aber auch ein Land, das eigentlich als vorbildlich gilt: Finnland.
    "Der Ministerpräsident Finnlands war unglücklich darüber, dass ein öffentlicher Sender über die Geschäftsbeziehungen seiner Familie berichtete. Er schickte E-Mails und übte Druck aus. Der Journalist trat zurück, er könne nicht frei berichten. Wenn das schon in Finnland passiert, was geschieht dann erst in der Türkei?"
    Die Londoner Studie wurde von der EU-Kommission finanziert und prangert erwartungsgemäß die Zustände in Ungarn und Polen an. Aber auch Großbritannien wird gerügt. Zum Beispiel konnte die Chefreporterin der BBC nur unter Polizeischutz vom Labour-Parteitag berichten. Linksextreme Anhänger von Labour hatten ihr Morddrohungen geschickt. Oder in Deutschland sei es für Journalisten gefährlich geworden, über Demonstrationen zu berichten.
    Muss es so sein? Kritik an "machohaftem" Glauben
    "Es wird grundsätzlich für Journalisten schwieriger, über Demonstrationen jedweder Art zu berichten. Demonstranten, Gegendemonstranten, aber auch die Polizei hält Pressevertreter mit Mitteln der Gewalt zurück, damit der betreffende Journalisten nicht in Gänze berichten kann."
    Auch deutsche Polizei übt Gewalt gegen Journalisten aus. Für die Londoner Beobachter ist das so. Polizisten hinderten in Einzelfällen Journalisten daran, zu berichten oder zu filmen. Sean Gallagher, der Sprecher von "Index on Censorship", bedauert dabei, dass nicht wenige Journalisten Beeinschränkungen klaglos hinnähmen – zu Unrecht.
    "Die journalistische Klasse glaubt etwas machohaft, dass das zum Job dazu gehört. Einige Lokaljournalisten hier in Großbritannien wurden zum Beispiel während eines Wahlkampfs in einen Nebenraum abgedrängt, damit sie dem Kandidaten keine Fragen stellen konnten. Ein Journalist sagte mir, das sei halt Teil des Spiels. Nein, das ist es nicht. Niemand geht arbeiten, um beleidigt zu werden, sich Tiraden anzuhören oder sich mundtot machen zu lassen."
    Soziale Medien: Neue Form von Zensur
    Zensur von Journalisten wird gemeinhin staatlichen Stellen zugeschrieben oder kriminellen Strukturen. Mit dem Aufkommen der sozialen Netzwerke gebe es aber jetzt auch eine Form von Zensur, die von einzelnen Personen ausgeht. Journalisten werden per Facebook beschimpft und attackiert, wenn sie etwas schreiben, was einem Hörer oder Leser nicht passt.
    "Dieser vermeintlich verrückte Leser oder Hörer will jemanden zum Schweigen bringen. Das genau ist doch Zensur, wenn Leute glauben, anonym alles Mögliche verbal gegen jemanden auszuteilen. Traditionell musste Zensur von einer Regierung ausgeübt werden, das gilt nicht mehr."
    Die Vereinigung der Auslandspresse in London kommentierte den Zensurbericht übrigens mit folgenden Worten: "Europa galt als sicher für Journalisten, das ist es aber nicht mehr. Das gilt leider auch für eine ganze Reihe westlicher Demokratien."