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Zentralasien
Der Ausbruch unterdrückter Religion

Die Länder Zentralasiens sind mehrheitlich muslimisch geprägt – und offenbar sind sie ein Nährboden für die Terrororganisation Islamischer Staat. Der IS soll hier in drei Jahren rund 4.000 Anhänger rekrutiert haben. Tendenz offenbar steigend. Wie haben sich Religion und Gesellschaft in Zentralasien verändert, dass es zu dieser Radikalisierung kommt?

Marcus Bensmann im Gespräch mit Benedikt Schulz | 20.07.2016
    Blick auf die blauen Kuppeln und den großen Iwan der islamischen Lehrstätte Mir-i Arab Madrasa in Usbekistan.
    Blick auf die blauen Kuppeln und den großen Iwan der islamischen Lehrstätte Mir-i Arab Madrasa in Usbekistan (imago / Cathrin Bach)
    Woher kommt die offenbar religiöse Sehnsucht in der Region? Was ist das für ein Islam in diesen Gesellschaften? Und wie groß ist die Gefahr für islamistische Gewalt in der Region? Darüber spricht Benedikt Schulz mit Marcus Bensmann.
    Ihm sei es gelungen, so Bensmann im Deutschlandfunk, zehn Fälle von IS-Rekrutierten zu untersuchen. Dabei sei ihm aufgefallen, "dass nicht das klassische Bild stimmt und nicht nur die Beladenen und Geknechteten gehen, sondern Menschen aus verschiedenen Schichten und Ethnien". Er habe eine "religiöse Sehnsucht, die alle erfüllte", wahrgenommen. Ursprung dieser Sehnsucht sei der Zerfall der Sowjetunion und eine "religiöse Renaissance in Zentralasien" ohne Kontrolle in der Folge gewesen. Prediger aus Saudi-Arabien seien in dieser Zeit gekommen und hätten neue Ideen gebracht.
    Bensmann hat als Journalist lange Jahre an mehreren Orten in Zentralasien gelebt und von dort aus für deutsche Medien berichtet. Heute arbeitet er beim Non-Profit-Recherchezentrum Correctiv.
    Kirgisische Muslime beten am 05. Juli 2016 während des Eid al-Fitr, dem Fest des Fastenbrechens im Ramadan in Bishkek, Kirgistan. Muslime auf der ganzen Welt feiern den Fastenmonat Ramadan, indem sie während der Nacht beten und zwischen Sonnenauf und -untergang auf Essen und Trinken verzichten. Ramadan ist der neunte Monat im islamischen Kalender. In seinen ersten zehn Tagen wurde nach islamischer Auffassung der Koran herabgesandt.
    Kirgisische Muslime beten am 05. Juli 2016 während des Eid al-Fitr, dem Fest des Fastenbrechens im Ramadan in Bishkek, Kirgistan. (picture alliance / dpa / Igor Kovalenko)

    Das Interview in voller Länge:
    Benedikt Schulz: Die Länder der Region Zentralasien sind mehrheitlich muslimisch geprägte Gesellschaften. Und offenbar sind sie ein Nährboden für die Terrororganisation Islamischer Staat. Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation International Crisis Group vom März hat der IS in den vergangenen drei Jahren rund 4.000 Anhänger rekrutiert, Tendenz offenbar steigend. Zwei der drei Attentäter des Anschlages auf den Istanbuler Atatürk-Flughafen stammen mutmaßlich aus zentralasiatischen Staaten. Menschen, die sich radikalisiert haben in Gesellschaften, in die wir von hier aus relativ wenig Einblick haben, mit einer religiösen Tradition, über die hier wenig bekannt ist. Marcus Bensmann hat diesen Einblick. Er hat als Journalist lange Jahre an mehreren Orten in Zentralasien gelebt und von dort aus für deutsche Medien berichtet und er arbeitet heute beim Non-Profit-Recherchezentrum Correctiv. Mit ihm bin ich verbunden. Hallo Herr Bensmann.
    Marcus Bensmann: Einen schönen guten Morgen.
    Schulz: Diese Muslime, ob die jetzt aus Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan, Tadschikistan oder Turkmenistan kommen, die sich radikalisiert haben, was haben die für einen Hintergrund? Aus welchen Zusammenhängen kommen die?
    Bensmann: Das ist ganz interessant. Mir ist es gelungen vor einem Jahr, zehn dieser Fälle zu untersuchen. Das heißt, ich habe hier mit Angehörigen gesprochen, habe teilweise die Menschen selber treffen können, die entweder reisen wollten oder schon im Gefängnis waren. Und da ist mir aufgefallen, dass halt nicht so das klassische Bild stimmte: Nur die Beladenen und Geknechteten gehen, sondern es gehen alle aus verschiedenen Schichten: Die Reichen, die Armen, die Sportlichen, die Kranken und auch aus verschiedenen Ethnien: Usbeken, Kirgisen und auch reiche Geschäftsmänner sind gegangen. Und ich hatte so eine der Essenzen, die ich aus diesen Gesprächen herausgefunden hatte, dass da eine religiöse Sehnsucht war, die alle irgendwie erfüllt haben und dann immer mit anderen verschiedenen Gründen in Verbindung gebracht haben.
    Religiöse Renaissance in Zentralasien
    Schulz: "Religiöse Sehnsucht", das Stichwort nehme ich auf. Woher kommt diese Sehnsucht?
    Bensmann: Ja, also man muss erst mal sagen, über die Sowjetunion war dieses Land Jahre in einer Zwangssäkularisierung und der Islam konnte nur unter großer Kontrolle des KGBs tätig sein. Und mit dem Zerfall der Sowjetunion ist im Grund genommen eine Art religiöse Renaissance in Zentralasien entstanden, die aber völlig unkontrolliert war. Die wenigen Imame, die aus der Sowjetunion stammen, konnten im Grunde genommen die Sehnsucht der Menschen nicht erfüllen. Und da sind sehr viele Prediger aus Saudi-Arabien gekommen und Gelder aus Saudi-Arabien und haben im Grund genommen fremde, radikale Ideen in die Menschen hineingebracht, die durch den Zerfall der Sowjetunion auch im Grund genommen ihr altes säkulares Weltbild verloren haben.
    Schulz: Ist dieser Einfluss aus Saudi-Arabien und dem dortigen sunnitischen, teils wahabitischen Islam der Grund, dass der IS so attraktiv ist für breite Gesellschaftsschichten?
    Bensmann: Das ist mit Sicherheit ein Grund. Also, wenn man durch die Dörfer geht, sieht man überall die Moscheen, die eben meist von Saudi-Arabien bezahlt wurden und gebaut wurden, aus dem Boden schießen. In den Ländern, wo eine starke staatliche Repression ist, wie zum Beispiel in Usbekistan, da ist das nicht erlaubt, aber gleichwohl ist die Attraktivität da. Weil diese Staaten, die sich nach dem Zerfall der Sowjetunion gebildet haben, sind im Grunde genommen endemisch korrupt. Und die Menschen sehen jeglichen Repräsentanten dieser Staaten als Feind an. Und die Religion ist auch eine Sehnsucht, irgendeine Insel der Wahrheit zu finden, die natürlich sich dann in völliger Brutalität entpuppt.
    Islamisierung der Jugend durch Prediger
    Schulz: Der Islam, der dort gelebt wird, was ist das für ein Islam, in diesen Gesellschaften in Zentralasien?
    Bensmann: Also, man hat auf der einen Seite, wie gesagt, immer noch die Heritage der Sowjetunion: sehr viele, die halt mit dem Islam nicht so viel am Hut haben. Es wird überall ordentlich auch getrunken und gefeiert. Dann werden die Feste aber immer sehr religiös ausgerichtet, das ist von der Beschneidung, Hochzeit, Beerdigung. Und dann kommt aber zusehends über auch die Prediger eine Islamisierung der Jugend. Das heißt, auch in den Ländern, die auch vor der Sowjetisierung traditionell nicht sehr islamisch waren – das ist Kasachstan und Kirgistan, wegen der nomadischen Tradition –, findet man immer wieder eine Hinwendung auch der jungen Menschen, auch vor allen Dingen junger Frauen in den Islam. Ich habe eine Frau getroffen, die das als Akt der Emanzipation sah, sich aus ihrer Ehe zu stehlen und nach Syrien zu gehen.
    Schulz: Sie waren ja vergangene Woche noch auf Recherchereise in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek. Was haben Sie da für einen Eindruck, welche Rolle nimmt Religion ein im Alltag?
    Bensmann: Also, man sieht auf der einen Seite immer noch sehr das weltliche Bild, die Cafés, die Kneipen, aber man sieht eben zusätzlich auch verschleierte Frauen, bärtige Männer. Nun muss man wissen, dass Kirgistan der liberalste Staat in Zentralasien ist. In Usbekistan ist auf Schritt und Tritt der Geheimdienst und versucht mit Repression, jegliches unabhängige religiöse Streben zu unterdrücken. In Kirgistan ist das anders, und da sieht man, dass im Grunde genommen langsam der Islam in weite Teile der Gesellschaft vordringt.
    Schulz: Sie haben in Ihren Recherchen die Wege von radikalisierten Muslimen nach Syrien auch verfolgt. Sie haben es gerade angedeutet. Was sind das für Wege? Auf welchen Wegen gelangen die nach Syrien?
    Bensmann: Das ist ganz interessant. Es gibt so eine – das ist ja auch das Wort, was jetzt in allen Ohren ist – Eigenradikalisierung, dass also Menschen über Internet, über WhatsApp, über Skype selber Kontakte suchen. Aber in Zentralasien gibt es noch eine andere, sehr interessante Form der Radikalisierung. Über eine Million junger Männer arbeiten auf russischen Baustellen, um das Leben ihrer Familien zu finanzieren; und in diesen Bauwagen werden sie radikalisiert über Prediger, die im Grunde genommen diesen Bauwagen beiwohnen. Und da findet eine Radikalisierung über die Bauwagen statt. Und dann geht es – so wie ich erfahren haben – über die tschetschenische Mafia dann nach Syrien. Und die, die sich selbst radikalisieren, nehmen einen Flug aus Zentralasien und werden dann meist in Istanbul getroffen von den Gewährsmännern, die mit einer Art All-inclusive-Package die Leute dann bis nach Syrien bringt.
    Hochkorrupte, autokratische Regime
    Schulz: Wir sprechen über Muslime, die sich radikalisiert haben und nach Syrien gehen. Aber es ist natürlich inzwischen auch so, dass in den Saaten selbst – etwa in Kasachstan – auch Terroranschläge inzwischen passiert sind, mit mutmaßlich islamistischem Hintergrund. Am Montag etwa hat ein junger Mann fünf Menschen in der Stadt Almaty getötet – und das ist ja bereits die zweite Attacke dieser Art, innerhalb von wenigen Wochen. Anfang Juni gab es bereits einen ähnlichen Vorfall in Aktobe, in Kasachstan. Wie groß ist da die Gefahr für islamistische Gewalt in der Region?
    Bensmann: Da muss man erst mal sagen, all diese fünf Staaten sind von hochkorrupten, autokratischen Regimen besetzt. Das heißt: Der Repräsentant des Staates ist ein Feind in jeder Situation - und Folter in den Gefängnissen gehört zum Alltag. Man kann selbst nicht sagen: Ist der Polizist und der Geheimdienst Teil der Ordnungsmacht oder Teil der kriminellen Welt? Und auch diese zwei Attentate – sehr interessant –, da hat sich der IS nicht bekannt zu. Aber gleichzeitig ist durch diese Brutalisierung und die potenzielle Rückkehrmöglichkeit dieser Kämpfer, die in Syrien Schreckliches gesehen hatten, ein Gewaltteppich in Zentralasien aufgebaut, der, sobald diese autokratischen Systeme auseinanderfallen, im Grund genommen diese ganze Region ins Unglück stürzen können. Und man darf ja eben auch nie sehen, man hat da nicht so eine klare Trennung: Hier ist die Ordnungsmacht, dort der Terrorist. Es gibt ganz viele Überschneidungen, ganz viel Korruption. Und das macht eben diese Gewalt der zurückkehrenden Kämpfer so gefährlich. Obwohl oft die These vertreten wurde, dass anfänglich die lokalen Sicherheitskräfte sogar zufrieden waren, dass sehr viele Radikale nach Syrien kamen, weil die gesagt haben: 'Dann sollen sie lieber dort sterben als bei uns.'
    Schulz: Marcus Bensmann, Journalist beim non profit Recherchezentrum Correctiv und Experte für Zentralasien. Ich habe mit ihm über die Radikalisierung von Muslimen in zentralasiatischen Gesellschaften gesprochen. Ganz herzlichen Dank.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.