Dienstag, 23. April 2024

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Zentralrat der Juden zu Antisemitismus
"Signale, die man nicht überhören darf"

Antisemitismus in Deutschland in seiner jetzigen Form sei etwas, was er sich "vor zehn Jahren in Albträumen nicht habe träumen lassen", sagte Josef Schuster, Vorsitzender des Zentralrats der Juden, im Dlf. Da habe sich offensichtlich eine rote Linie verschoben.

Josef Schuster im Gespräch mit Philipp May | 20.04.2018
    Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland.
    Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland (dpa/Boris Roessler)
    May: Am Telefon ist der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster. Schönen guten Morgen!
    Josef Schuster: Guten Morgen.
    May: Herr Schuster, teilen Sie die Sorgen von Arye Sharuz Shalicar, oder übertreibt er da nicht ein bisschen?
    Schuster: Übertreiben - weiß ich nicht. Ich meine, die Aussage von ihm, dass er mehr Sorge hat, was sich in Deutschland tut als die Situation in Israel, würde ich in dieser Form nicht teilen. Aber ich glaube, das hängt auch einfach damit zusammen: Das umgekehrte Phänomen kennen wir auch, dass die Berichterstattung über Vorgänge im Ausland sich häufiger auch in Deutschland dann dramatischer anhört, als es sich tatsächlich vor Ort zeigt.
    Antisemitische Straftaten "nicht nennenswert gestiegen"
    May: Wie dramatisch ist es denn in Deutschland Ihrer Meinung nach?
    Schuster: Ich würde es nicht als überdramatisch sehen, aber es gibt Signale, die man nicht überhören darf. Der Antisemitismus in seiner Form, wie wir ihn im Moment erleben, ist etwas, was ich mir vor zehn Jahren in Albträumen nicht habe träumen lassen. Ich glaube nicht, dass die Anzahl antisemitischer Straftaten oder Vorfälle nennenswert gestiegen ist. Allerdings eine rote Linie hat sich offensichtlich verschoben. Denn wenn es zu tätlichen Angriffen auf Menschen kommt, nur deshalb, weil sie eine Kippa tragen, dann ist das für mich unvorstellbar, zumal das ja nicht in irgendeinem Viertel passiert ist, wo man eine überwiegend arabischstämmige Bevölkerung hat, sondern in einem ganz normalen bürgerlichen Stadtviertel Berlins.
    "Jeder Fünfte hat antijüdische Ressentiments"
    May: Aber eine hier in Deutschland gängige These, die ja auch Shalicar zumindest implizit vertritt, ist: Der Antisemitismus wird vor allem durch die vielen arabischen Immigranten wieder ins Land getragen. Ist das so?
    Schuster: Er wird auch durch arabische Migranten wieder oder ins Land getragen. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass wir über viele Jahre eine Statistik haben, dass 20 Prozent der deutschen Bevölkerung, jeder Fünfte antijüdische Ressentiments hat. Das heißt, Antisemitismus nur auf das Thema Migration zurückzuführen, ist, meine ich, ebenso falsch wie zu sagen, dass Antisemitismus sich nur in der politisch extrem Rechten findet.
    May: Und diesen deutschen, sage ich jetzt mal, Antisemitismus, den spüren Sie stärker heutzutage als noch vor 10, 15 Jahren, als Sie vielleicht mal einen Albtraum hatten, aber mehr nicht?
    Schuster: Genau so ist es. Er kommt heute deutlicher zutage. Man getraut sich wieder, das zu sagen, vielleicht auch das zu tun, was man gedacht hat, sich aber nicht getraut hat zu sagen.
    Antisemitismus "plötzlich in ganz normalen Gesprächen"
    May: Können Sie Beispiele nennen, was Sie da so erleben beziehungsweise wovon Ihnen berichtet wird als Präsident des Zentralrats der Juden?
    Schuster: Sie erleben immer wieder, wie plötzlich wieder Stereotypen, die man meinte, dass sie nach dem Dritten Reich vergessen waren, Äußerungen, wie sie auch im "Stürmer" hätten auftreten können, die jüdische Weltverschwörung, Judentum und das Geld, solche Dinge heute auch in ganz normalen Gesprächen plötzlich wieder auftauchen.
    Sensibilität, aber auch "neue" Qualität des Antisemitismus
    May: Aber auf der anderen Seite, wenn ich mir zum Beispiel die Echo-Vergabe anschaue mit der Verleihung an die Gangsta-Rapper, die antisemitische Textzeilen in ihren Songs hatten; da war der Aufschrei in der Gesellschaft ja doch da, ähnlich wie jetzt bei diesem Vorfall am Prenzlauer Berg. Die Abwehrkräfte der Gesellschaft, die funktionieren ja durchaus schon noch?
    Schuster: Ich habe das Gefühl, dass sich doch eine gewisse Sensibilität entwickelt hat, dass hier Abwehrkräfte funktionieren. Auf der anderen Seite allerdings Vorfälle wie dieser Vorfall jetzt in Prenzlauer Berg, das ist schon eine "neue" Qualität des Antisemitismus, die wir so in den letzten Jahren nicht erlebt haben.
    "Höhere Quote" antijüdischer Vorurteile bei Muslimen
    May: Wenn wir jetzt mal auf die umgekehrte Seite schauen, dann würden Muslime zum Beispiel in Deutschland sicher sagen, der Muslimen-Hass hat in Deutschland auch zugenommen.
    Schuster: Die Abneigung gegen Menschen muslimischen Glaubens hat ebenfalls zugenommen, und ich bin auch nicht derjenige, der hier alle Muslime unter Generalverdacht stellt. Wichtig ist: Man muss klar differenzieren, dass es allerdings unter dem muslimischen, insbesondere auch arabischstämmigen, aber auch zum Teil türkischstämmigen muslimischen Bevölkerungsanteil offensichtlich eine höhere Quote, eine höhere Anzahl von Menschen mit antijüdischen Vorurteilen gibt. Ich glaube, das ist unbestreitbar.
    Materialsammlung für Prävention
    May: Herr Schuster, wie begegnen wir denn dem Problem? Wir haben vor einiger Zeit mal hier im Deutschlandfunk darüber gesprochen, ob es sinnvoll ist, verpflichtend alle Schulklassen in Konzentrationslager-Gedenkstätten zu schicken. Gibt es noch andere Möglichkeiten aus Ihrer Sicht? Was sollte die Bundesregierung, was sollte die Gesellschaft tun?
    Schuster: Ich denke, gerade wenn Sie von den Zuwanderern gesprochen haben ist es wichtig, hier die Thematik innerhalb der Integrationskurse weiter auszubauen. Es ist genauso wichtig, dass man Lehrer und Lehrerinnen in ihrem Umgang mit antisemitischen Ressentiments, die im Schulbereich leider ja auch absolut nicht selten sind, schult, wie sie damit umgehen sollen. Aktuell hat ja die Kultusministerkonferenz und der Zentralrat der Juden in Deutschland gerade vorgestern in Berlin eine Materialsammlung vorgestellt, die hier Lehrern auch entsprechende Unterstützung und Hilfestellung geben soll.
    Kritik an Israel "absolut legitim"
    May: Herr Schuster, eine Frage noch, die, glaube ich, gerade hier in Deutschland viele Menschen umtreibt. Wir wandeln ja immer auf einem schmalen Grat, wenn es um die Kritik an Israel geht. Können Sie ein Beispiel nennen? Wo hört für Sie Israel-Kritik auf, berechtigte Israel-Kritik möglicherweise, und wo fängt Antisemitismus an?
    Schuster: Ich glaube, es ist gar nicht so schwer zu differenzieren. Wenn ich eine Entscheidung der israelischen Regierung kritisiere, dann ist das absolut legitim und hat nichts mit Antisemitismus zu tun, genauso wie es Menschen gibt, die Entscheidungen der Bundesregierung kritisieren. Wenn ich aber Israel das Existenzrecht abspreche, wenn ich Israel in eine Generalverantwortung nehme und vor allen Dingen auch noch mit anderen Maßstäben messe wie andere Staaten, dann sehe ich die Situation erreicht, dass man Israel sagt und Juden meint.
    Gabriel-Äußerung: "Grenze überzogen"
    May: Ich kann Ihnen mal ein relativ gutes Beispiel nennen. Der ehemalige Außenminister, Sigmar Gabriel, hat 2012 - da war er noch nicht Außenminister - im Zusammenhang von Israel und dem Umgang mit den Palästinensern von einem Apartheidsregime gesprochen. Er hat zwar mittlerweile gesagt, dass er das so nicht mehr wiederholen würde. Dennoch: Steckt da schon Antisemitismus drin für Sie in dieser Aussage?
    Schuster:Diese Aussage ist in meinen Augen antisemitisch, denn hier wird ein gesamter Staat in Verantwortung genommen für einen Vorgang, den A die Regierung gemacht hat, B aber auch die Regierung …
    May: Regime ist ja nicht; es ist ja eine Regierung erst mal. Das ist ja bezogen auf die Regierung. Er hat ja von einem Apartheidsregime gesprochen.
    Schuster: Er hat von einem Apartheidsregime gesprochen. Das ist aber in meinen Augen nicht mehr die Entscheidung einer einzelnen Regierung. Wenn ich sage, ich bin gegen einen Zaun, ich bin gegen eine Mauer, das ist, glaube ich, eine Aussage, die absolut in Ordnung ist. Wenn ich aber vom gesamten Vorgang hier spreche, das heißt dann auch Israel in die Verantwortung nehme und sage, Israel ist ein Apartheidsstaat, dann habe ich die Grenze überzogen.
    "Ich weiß nicht, wie die Bundesregierung reagieren würde"
    May: Wobei es ja häufig so ist, dass sich viele Deutsche erst einmal empören, wenn der vermeintlich Stärkere den Schwächeren drangsaliert.
    Schuster: Das ist aber eine Situation, die sich natürlich nicht nur auf Israel bezieht. Aber eine solche Aussage, ohne die Hintergründe dann auch zu benennen - denn ich weiß nicht, denn das war ja die Grundlage dessen, was hier zu dieser Äußerung geführt hat, die Abgrenzung Israels gegenüber seinen Nachbarn -, ich weiß nicht, wie die Bundesregierung reagieren würde, wenn sie dauernd, fortwährend mit Terroranschlägen eines Nachbarlandes konfrontiert wäre.
    May: Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland. Herr Schuster, vielen Dank für das Gespräch und Ihnen noch einen schönen Tag.
    Schuster: Ebenfalls!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.