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Zolas "Hunger" bei der Ruhrtriennale
Ende einer gewaltigen Bühnentrilogie

Mit "Hunger" hat der belgische Regisseur Luk Perceval in diesem Jahr bei der Ruhrtriennale seinen Theater-Dreiteiler nach einem Romanzyklus von Émile Zola beendet. Auch wenn das Stück manchmal an der Grenze von Kitsch und Pathos schrammt, so bietet es doch einen großen, melancholischen Schauspielerabend.

Von Dorothea Marcus | 08.09.2017
    Hunger. Trilogie meiner Familie 3, mit Rafael Stachowiak (rechts), Patrycia Ziolkowska (links)
    Hunger. Trilogie meiner Familie 3, mit Rafael Stachowiak (rechts), Patrycia Ziolkowska (links) (Armin Smailovic / Ruhrtriennale 2017)
    Wie soll man das nur zusammenbringen: In "Germinal" kämpft Etienne bis zur Selbstaufgabe für die Rechte der ausgebeuteten Bergarbeiter – in "Bestie Mensch" kämpft sein Bruder Jacques, ein Lokomotivführer, gegen seinen Trieb, Frauen zu töten. Der eine fördert die Kohle, die die Lok des anderen antreibt. Der eine ist im Dunkeln der Schächte eingesperrt, der andere in der Düsterkeit seiner Seele. Unterschiedlicher können Leben wohl nicht verlaufen.
    Und drumherum verästeln sich Geschichten von Liebe, Begehren, Eifersucht, Leid und Tod. Wie in den anderen Teilen der Zola-Trilogie spielen sie in der zugigen Gießerei-Halle Duisburg Nord vor einer hölzernen Halfpipe, eine Art Schicksalswelle, über der Stricke baumeln. Man kann sich daran aufhängen oder in die Schächte einfahren. Immer wieder schwebt eine Kunstnebel-Wolke über die Szene, ein Saxofon-Spieler grundiert melancholisch die Unentrinnbarkeit des menschlichen Elends. Langsam wird es draußen dunkel und nur noch Gruben-Stirnlampen erleuchten die Szene. Meist sind alle zwölf Schauspieler gemeinsam auf der Bühne: Perceval gruppiert sie zu kleinen Erzählinseln und verschneidet die Miniaturen fast filmisch.
    Parallelwelten fast ohne Verbindung
    "Vom Dorf bis zum Schacht bewegte sich ein langer Zug von Schatten. Kohlenarbeiter, die die Arme über die Brust kreuzten. Jacques! Jacques! Schreie, Saxofon. – Hast du schon eine Geliebte? – In diesem Augenblick donnerte ein Zug vorüber. – Raste der Zukunft entgegen. Oder liebst du nur deine Lokomotive? – Immer wenn meine Lust aufstieg... klopfte mir das Herz an der Kehle. ich drückte meinen Mund an den ihren. Ich packte sie an der Kehle. Meine Augen suchten nach irgendetwas. Ich entdeckte eine Schere… ich griff danach."
    Nur selten gibt es eine Verbindung zwischen den Parallelwelten: Einmal blickt der idealistische Bruder Etienne still und nachdenklich den Bruder bei seinem fieberhaften Mördermonolog an. Oder aber der kapitalistische Minendirektor deckt die von Jacques ermordete Geliebte mit seiner Jacke zu. Doch trotz der vielen Fäden, die auf der Bühne verknüpft werden müssen, kann man den Erzählsträngen gut folgen. Fast choreografisch diskret erschafft der Regisseur innere Bezüge. Wenn sich etwa Jacques fiebrig orgiastisch an der Mord-Fantasie aufgeilt, müssen sich die Bergarbeiter vor Panik, Trauer und Entsetzen übergeben, als einer von ihnen ums Leben kommt: Wie unterschiedlich der Tod ins Leben eingreift. Und um alle herum kreisen zwei Figuren, die Perceval recht frei konzipiert hat, dargestellt von den zwei älteren Frauen des Ensembles, Barbara Nüsse und Gabriele Maria Schmeide. Die eine, eigentlich der alte Bonnemort, ist eine Art böses Orakel, das Weltuntergang, Brand und Terror prophezeit. Die andere, eigentlich Mordkommissar Alzire, irrt verlangsamt mit Socken und Nachthemd, Vogelschreie ausstoßend, wie ein indifferenter Gottesengel um das wirre menschliche Treiben: So weitet Perceval die Perspektive fast schon metaphysisch auf die große Frage, warum es dem Menschen einfach nicht gelingt, eine bessere Welt zu schaffen.
    Zu sehr mit der eigenen Gier beschäftigt
    "Ich aber träume von einer Wiedergeburt des Arbeiters, ohne dass auch nur ein Tropfen Blut vergossen wird. Haben in den letzten 100 Jahren die Arbeiter Teil am Gewinn? Man hat sie für frei erklärt, damit sie die Freiheit haben, vor Hunger zu sterben. Eine bessere Welt… ist schon fast erschaffen, wenn der Bergmann nur endlich erwacht…"
    Und auch wenn das Ganze manchmal an Kitsch und Pathos schrammt, manches Herumgedrehe etwas zu aufgesetzt choreografiert wirkt: Die Schauspieler sind allesamt fantastisch. Rafael Stachowiak ist als Jacques eine erschreckende Mischung aus Schwiegermuttertraum und krankem Lüstling, Patrycia Ziolkowska ergibt sich ihm in kranker, amoralischer Abhängigkeit und bewahrt trotzdem Würde. Oda Thormeyer schaukelt als Mutter Maheu rehäugig stets ein Kissen-Baby und schreit zuweilen tierhaft ihr Leid heraus – da laufen Schauer über den Rücken, wenn man sich drauf einlässt. Zu Beginn der Trilogie stellte Regisseur Perceval mit "Zola" die Frage, ob es die Umstände sind oder die genetische Determination, die den Menschen ins Unglück rasen lassen. An diesem großen, melancholischen Schauspielerabend liegt die Antwort auf der Hand: Heute wie vor 130 Jahren ist der Mensch einfach viel zu sehr mit sich selbst und der eigenen Gier beschäftigt.