Meurer: Für Sie ist also völlig unstrittig, dass es einen rechtsextremistischen Terrorismus hierzulande gibt und gegeben hat.
Spiegel: Richtig. Das beweisen ja auch die Verfassungsschutzberichte des Jahres 2002. Hier liest man von einem Anstieg von rechtsextremistisch motivierten Straftaten um 8,4 Prozent und der Gewalttaten in diesem Bereich um 8,9 Prozent. Fakt ist also, dass diese Zahlen stetig nach oben zeigen.
Meurer: Stellt der Anschlagsplan von München für Sie tatsächlich keine neue Qualität dar, keine neue Dimension, wie viele sagen?
Spiegel: Sicher ist das dort eine neue Dimension. Bisher waren es andere Straftaten. Wenn es aber tatsächlich zu dieser Katastrophe gekommen wäre, wäre das wirklich eine neue Dimension. Der Fakt ist aber, dass er ganz gezielt gerichtet ist gegen Juden. Sonst wäre nicht ausgerechnet der 9. November von dieser Gruppe ausgesucht worden.
Meurer: Ist das der Grund, warum sich die Mehrheit hierzulande weniger von Rechtsextremisten bedroht fühlt?
Spiegel: Das kann in der Tat so möglich sein. Bis aber die Mehrheit dieses Landes endlich begreift, dass solche Angriffe nicht nur ein Angriff gegen Juden sind, nicht nur ein Angriff gegen Minderheiten, sondern ein Angriff auf die Demokratie und auf die Menschlichkeit in diesem Lande, so lange werden solche Gruppen erfolgreich agieren können.
Meurer: Haben Sie den Eindruck, Herr Spiegel, dass genau das nicht die Reaktionen sind im Moment?
Spiegel: Genau das sind die Reaktionen. Der Aufstand der Anständigen, den Bundeskanzler Schröder vor Jahren angefordert hat, ist nicht durchgängig sichtbar. Ich kann nur appellieren an alle Politiker, egal welcher Couleur, an alle gesellschaftsrelevanten Gruppen, einschließlich der beiden großen Konfessionen, sich dieser Aufgabe bewusst zu werden. Es geht dabei nicht darum, uns Juden zu schützen. Es geht darum, dieses Land vor diesem Rechtsterror zu schützen. Wenn dieser Rechtsterror Erfolg hat, wird dieses Land in eine ganz schlimme Situation kommen.
Meurer: Es wird aber an Gesetzen gearbeitet zu inneren Sicherheit, es wird sich solidarisch erklärt, es werden Reden gehalten, Appelle gegeben - was kann man mehr noch tun?
Spiegel: Das ist genau die Frage. Darüber muss man diskutieren. Diese Menschen, die das planen, die das tun, die rechtsextreme Straftaten vorbereiten und auch durchführen, sind im großen Teil Jugendliche. Junge Menschen, die nicht als Rechtsradikale, Antisemiten oder Rechtsextremisten geboren worden sind. Da ist ja aber irgendwo etwas in der Entwicklung, in der Erziehung schief gelaufen. Da muss man nachgehen. Ist die Unterrichtung in den Schulen in dem Maße erfolgreich, dass sie Zugang findet zu allen Jugendlichen? Oder ist anderes der Fall? Hier muss nachgeforscht werden. Wenn wir dieses Terrain bei den jungen Menschen verlieren, können wir das nicht wieder aufholen. Wir brauchen keine neuen Gesetze. Die Gesetze genügen. Sie müssen nur konsequent angewandt werden. Dann gibt es auch noch Fälle wie kürzlich in Nürnberg, wo Neonazis demonstrierten, ausgemachte Holocaust-Leugner. Die Stadt hat die Demonstration verboten, das Landesverfassungsgericht hat sie verboten, das Bundesverfassungsgericht hat sie in letzter Minute zugestanden. Da ist die Frage: Wo ist die Zusammenarbeit? Das kann doch wohl nicht wahr sein, dass das in dieser Art möglich ist. Irgendwo hat das auch irgendwelche Konsequenzen, die man durchführen muss.
Meurer: Nun sehen, Herr Spiegel, die Experten, zum Beispiel bei den Verfassungsschutzämtern, auch einen Zusammenhang zwischen dem Antisemitismus und Rechtsextremismus in Deutschland auf der einen Seite und der Eskalation der Lage im Nahen Osten auf der anderen. Wie stark ist dieser Zusammenhang?
Spiegel: Wir haben bereits vor mehr als zwei Jahren auf diese Koordinierung warnend hingewiesen. Damals wurde uns gesagt, es gäbe da keine Verbindung. Mittlerweile warnt man auch von Seiten des Verfassungsschutz vor dieser Verbindung. Wenn die tatsächlich zum Tragen kommt, stehen wir hier in Deutschland vor ganz extrem großen Problemen. Das muss man erkennen. Dagegen müssen die Behörden, die dazu ausersehen sind, etwas tun. Ich weiß, dass der Bundesinnenminister diese Sache sehr ernst nimmt. Man muss ihn dabei aber auch von allen Seiten unterstützen.
Meurer: Was sagen Sie zu dem Vorwurf, der Zentralrat der Juden müsse auch einmal öffentlich die israelische Politik kritisieren?
Spiegel: Wir haben immer wieder gesagt, dass wir nicht von vornherein jeden Schritt der israelischen Politik unterstützen. Wir haben auch unsere kritischen Äußerungen. Wir sind aber keine Israelis, wir sind Deutsche. Wir stehen auf dem Boden der Demokratie hier in Deutschland. Wir haben immer wieder gesagt, dass es einfach nicht stimmt, wenn man sagt, wer israelische Politik kritisiert, ist ein Antisemit. Denn die größte Kritik an der israelischen Politik kam in den letzten Jahren aus Israel selber. Nun kann man ja nicht sagen, dass die Israelis Antisemiten sind. Auch wir haben nicht alle Schritte der israelischen Regierung nachvollziehen können. Die Israelis sind in einer extremen Situation. Wenn fast täglich Bombenattentate auf die Zivilbevölkerung verübt werden und wenn dann mal Entscheidungen fallen, die man nicht nachvollziehen kann, so muss man dafür Verständnis haben. Ich kann nur eins sagen: Wenn die israelischen Regierungen seit 1948 immer nur das getan hätten, was in den Augen der Weltpolitik machbar und notwendig ist, gäbe es dieses Problem heute nicht mehr, denn dann gäbe es den Staat Israel nicht. Die israelische Regierung ist verpflichtet, alles zu tun, um ihre Bürger zu schützen, und das ist wirklich verdammt schwer.
Meurer: Zählt dazu auch, dass die israelische Regierung Arafat deportieren oder sogar töten darf?
Spiegel: Das ist eine Entscheidung, die die israelische Regierung zu treffen hat. Ich stehe nicht an, der israelischen Regierung, gerade in dieser extremen Situation Verhaltensmaßregeln zu machen.
Meurer: Nun gibt es seit dem Wochenende eine Diskussion darüber, ob Deutschland einen jüdischen Bundespräsidenten bekommen sollte. Wäre das ein positives Zeichen?
Spiegel: Das überrascht mich. Ich erinnere daran, dass im Sommerloch des Jahres 1998 so eine Diskussion mal aufkam und die Zeitschrift "Die Woche", die es damals noch gab, Ignatz Bubis als Bundespräsidenten vorschlug. Das verweise ich also in den Bereich der phantasievollen Spekulationen.
Meurer: Es ist die Idee einiger SPD-Bundestagsabgeordneter, dass Sie selbst, Paul Spiegel, Bundespräsident werden sollten.
Spiegel: Ich halte das für eine Ente, wenn es dies wirklich als Politikeräußerungen gibt. Ich halte es also nicht für einen ernsthaften Vorschlag.
Meurer: Das war Paul Spiegel, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.
Link: Interview als RealAudio