Liminski: Herr Milbradt, es herrscht weitgehend Konsens unter den Arbeithabenden, mehr Druck auf die Arbeitslosen auszuüben. Auch das Hartz-Papier übt sich in dieser Disziplin, zum Beispiel bei der Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes. Ist das Sozialabbau oder Hinführung zum Arbeitsmarkt?
Milbradt: Ich glaube das kann ein Element sein. Es gibt nirgendwo auf der Welt einen so langen Bezug von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe wie in Deutschland. Das ist ja auch erst Ende der 80er Jahre eingeführt worden. Offensichtlich sind die damit verbundenen Effekte aber nicht eingetreten. Deswegen muss man darüber reden, aber muss gleichzeitig auch darüber reden, dass die Funktion der Bundesanstalt für Arbeit und der Arbeitsämter verbessert wird. Ich glaube hier liegt der zweite große Punkt, um zu mehr Beschäftigung zu kommen.
Liminski: Der Städtetag warnt vor den Folgen der Befristung. Eine Million Arbeitslosenhilfeempfänger würden zu Sozialhilfeempfängern und den Kommunen überlastet. Wo bleibt da der Aufschrei der Länder?
Milbradt: Wir haben ja noch nicht die Vorschläge der Hartz-Kommission, sondern wir haben einige, wie es so heißt, Elemente oder Bausteine, die offensichtlich von Herrn Hartz selber kommen, die in der Kommission offensichtlich noch nicht konsensfähig sind, denn der Leipziger Oberbürgermeister, der Mitglied dieser Kommission ist, hat ja auch schon weiteren Beratungsbedarf signalisiert. Das sind aber alles alte Hüte, wie sowieso viele Dinge der Hartz-Kommission nicht neu sind. Wir haben ja in Deutschland kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. Gerade hier liegt der Teufel im Detail. Man kann natürlich und sollte über die Zusammenfassung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe im Sinne einer Verbesserung des Systems nachdenken, aber man muss gleichzeitig natürlich sagen, dass das nicht zu Lasten der Gemeinden gehen kann, die Sozialhilfe bezahlen. Wenn ich einfach Arbeitslosenhilfe reduziere, wird ja insgesamt das System nicht billiger, sondern nur der nächste wird zur Kasse gebeten. Das ist ja auch der Grund, warum in der Vergangenheit es nie zu dieser an sich notwendigen Reform gekommen ist, weil den Gemeinden gegenüber nie eine vernünftige Finanzierung dargestellt worden ist. Soweit mir das aus den bisher bekannten Veröffentlichungen der Presse bekannt ist, ist auch von Hartz bisher dazu kein vernünftiger Vorschlag gekommen.
Liminski: Wenn es nun nur zu einer Verschiebung der Kassen käme, würden Sie dann Teile des möglichen Hartz-Gesetzes im Bundesrat blockieren?
Milbradt: Es ist ganz klar: ein Gesetz hat nur einen Sinn, wenn die Belastung von Ländern und Gemeinden nicht zunimmt. Wenn es nur eine Verschiebung der Lasten des Bundes auf die nächste Ebene ist – der Bund zahlt ja im Augenblick die Arbeitslosenhilfe -, dann wird es nicht zu einer Gesetzgebung kommen. Das ist aber auch in den vergangenen Jahren so gewesen. Diese Probleme sind ja alle bekannt. Wir müssen nur die Lösungen, die ja auch erarbeitet worden sind, zum Beispiel dass es mit einer Veränderung des Finanzausgleichs einher geht, auch zusammenführen. Dann haben wir auch Chancen, dass die Dinge umgesetzt werden. Also noch einmal: Wir haben in Deutschland, was diese Fragen der Arbeitslosenbekämpfung angeht, kein Erkenntnisproblem. Alle diese Dinge sind seit Jahren auf dem Tisch. Wir in Sachsen haben viele dieser Elemente, die jetzt wieder teilweise verändert, teilweise in identischer Form von Hartz aufgegriffen sind, schon bei der bayerisch-sächsischen Zukunftskommission in die Diskussion gebracht, aber es ist bisher nur diskutiert worden. Die notwendigen Schritte zur Umsetzung und vor allen Dingen die Regelung des Details ist jedoch nicht vorangekommen und ich sehe im Augenblick auch bei Hartz noch Nachholbedarf. Ich warte aber auf die endgültigen Vorschläge im August. Man kann glaube ich im Augenblick über die Elemente kaum vernünftig diskutieren, da man das Gesamtgebäude nicht kennt. Es ist offensichtlich nur ein Versuch, die Diskussion in Richtung Bundesregierung zu verändern, um von den schlechten Arbeitsmarktdaten, die die Regierung ja auch mit zu verantworten hat, abzulenken. Da sehe ich im Augenblick den Hauptpunkt der Diskussionsvorschläge.
Liminski: Herr Milbradt, ein Gebäude oder ein Haus in diesem Komplex trifft allgemein auf Zustimmung, nämlich das System der Personal-Service-Agenturen, weil es auch in anderen Ländern manchen Erfolg verbucht hat. Voraussetzung ist freilich, dass genügend Stellen vorhanden sind. Ist unter diesem Gesichtspunkt der Vorschlag auch für Ostdeutschland realistisch?
Milbradt: Es handelt sich bei all den Vorschlägen, die mir bisher bekannt sind, um Vorschläge, die im wesentlichen für westdeutsche Verhältnisse gedacht sind. Es ist ja auch nur ein Ostdeutscher, nämlich der Oberbürgermeister von Leipzig, in der Kommission. Für Ostdeutschland liegt das Problem ja darin, dass zu wenig Jobs und zu wenig Nachfrage nach Arbeit von Seiten der Arbeitgeber vorhanden ist. Diesem Mangel, diesen Schwierigkeiten des ostdeutschen Arbeitsmarktes wird das Papier im Augenblick nicht gerecht. Aber auch dort hoffe ich und erwarte ich, dass man sich zu dem Thema Ost auch gesondert Gedanken macht und Vorschläge unterbreitet.
Liminski: Zu wenig Stellen gibt es in Ostdeutschland. Es gibt aber mehr Druck zu mehr Mobilität. Könnte das Hartz-Papier den Zug nach Westen verstärken?
Milbradt: Ja. Das ist glaube ich ganz offensichtlich, dass für ungebundene Arbeitslose, also junge Arbeitslose, die keinerlei familiäre Verpflichtungen haben, also unverheiratet sind und noch keine Kinder haben, der Zumutbarkeitsaspekt anders definiert wird. Das ist aber auch bisher immer so gesehen worden, denn man kann nicht die fehlenden Arbeitsplätze in Ostdeutschland letztlich dadurch kompensieren, dass der Staat eine Scheinbeschäftigung unterhält. Wenn es eine Arbeitsmöglichkeit anderswo gibt, wird man sagen, lieber Arbeit im Westen als arbeitslos im Osten. Das ist aber bisher auch schon die Regel gewesen. Da glaube ich würde auch mit Hartz keine Veränderung der tatsächlichen Situation eintreten, denn im Osten sind die Arbeitskräfte sehr flexibel. Das ist mehr glaube ich ein Problem des Westens.
Liminski: Sachsen, Herr Milbradt, hat ein demographisches Problem. Es altert schneller als andere Bundesländer. Im Hartz-Papier ist bei der Begrenzung des Arbeitslosengeldes eine Ausnahme vorgesehen. Die über 55jährigen bekommen Arbeitslosenunterstützung bis zur Frührente. Verschärft das nicht das Problem, weil die jungen gehen und die älteren bleiben? Wie bekämen Sie das in den Griff?
Milbradt: Das sind auch wieder alte Hüte. Das ist im Grunde genommen eine vorzeitige Frühverrentung. Das ist für den Staat sehr teuer, entlastet die Arbeitsmarktstatistik, ist aber letztlich keine Lösung. Wir brauchen auch Lösungen für ältere Arbeitnehmer und nicht nur eben ein Hinführen in die Rente. Das kann allenfalls übergangsweise sinnvoll sein. Spätestens ab dem Jahr 2007 haben wir in Ostdeutschland einen anderen Arbeitsmarkt und dann wären auch solche Instrumente glaube ich kontraproduktiv.
Liminski: Welche Lösung sehen Sie denn für ältere Arbeitnehmer in Ostdeutschland?
Milbradt: Wir müssen die Arbeitgeber ermuntern, auch ältere Arbeitnehmer einzustellen, und wir müssen die Hemmnisse, die bei der Einstellung von älteren Arbeitnehmern bestehen, nämlich dass sie relativ schnell dann einen hohen sozialen Schutz haben, der es den Arbeitgebern nicht ermöglicht, anschließend anzupassen, durch gezielte Entriegelungen des Arbeitsmarktes bekämpfen. Dass zum Beispiel ein älterer Arbeitnehmer auf seinen Kündigungsschutz verzichten kann im Gegensatz zu einer schon vorher vereinbarten Abfindung, damit würde ein wesentliches Hemmnis abgebaut, ältere Arbeitnehmer einzustellen, nämlich (weil man sie im derzeitigen System nicht mehr los wird, wenn die Auftragssituation schlechter ist; statt dessen nimmt man eben jüngere, wo das Hemmnis nicht passiert, oder man macht Überstunden). Das wären Möglichkeiten, wie man insbesondere gezielt die Chancen für ältere Arbeitnehmer verbessert. Hier erwarte ich mir auch mehr und bessere Vorschläge von Seiten der Kommission, als das bisher bekannt ist.
Liminski: Unterm Strich, Herr Milbradt, was ist am Hartz-Papier erwägenswert, vielleicht auch umsetzenswert? Was würden Sie verwerfen?
Milbradt: Es sind viele Elemente darin, über die seit langem geredet wird und die ein Schritt in die richtige Richtung sind. Aber ein Gesamtgebäude ist das bisher noch nicht und es fehlen auch wesentliche Elemente, nämlich der ganze Problembereich der Lohnfindung, der Tarifverträge, der Öffnungsklauseln. Das muss mindestens ergänzt werden, um zu nennenswerten Effekten auf dem Arbeitsmarkt zu kommen. Aber noch einmal: Die Vorschläge der Kommission liegen ja noch nicht auf dem Tisch. Es handelt sich um erste Elemente, die zumindest zeigen, dass man in die richtige Richtung denkt. Die Frage an die Politik wird aber nachher sein, ob man das, was vorgeschlagen worden ist, was ja zum großen Teil nicht neu ist, dann tatsächlich auch umsetzt. Bisher ist die Umsetzung zumindest unter der Regierung nicht gelungen. Ich zweifle auch, dass das in Zukunft so sein wird. Wir brauchen also eine Veränderung im politischen Denken, nicht neue Vorschläge und neue Kommissionen.
Liminski: Das war Professor Georg Milbradt, Ministerpräsident des Freistaats Sachsen. – Besten Dank nach Dresden, Herr Milbradt!
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