Dass sich alles so zugetragen hat, wie es Louis Althusser in seiner Autobiografie beschrieben hat, ist bis heute ungewiss. Das Ereignis, das die Karriere des französischen Philosophen auf so dramatische Weise beendet hat, fand am Morgen des 16. Novembers 1980 statt. Seiner Erinnerung nach musste Althusser plötzlich feststellen, dass er seine Frau Hélène während einer Massage im Bett erwürgt hatte. Die wenigen Seiten, auf denen Althusser schildert, wie ihm diese furchtbare Tatsache immer deutlicher zu Bewusstsein kommt, gehören sicherlich zu den stärksten, die sich in der Geschichte autobiografischer Dokumente finden lassen.
Auch wenn gerichtlich nie geklärt werden konnte, ob es sich um eine vorsätzliche Tat gehandelt hatte oder um das Verhalten eines psychisch Kranken, so musste Althusser dennoch mehrere Jahre in einer psychiatrischen Anstalt verbringen. Gehörte er bis dahin neben Jean-Paul Sartre zu den wichtigsten Philosophen der französischen Nachkriegszeit, so wurde die Rezeption des Philosophen Althusser nun von den Nachrichten über den Fall Althusser verdrängt. Obwohl er auch weiterhin an philosophischen Manuskripten arbeitete, die für den Druck bestimmt waren, kehrte er nicht wieder auf die öffentliche Bühne zurück. Louis Althusser ist am 22. Oktober 1990 gestorben.
Zu den zentralen Themen seiner politischen Philosophie gehörte die Verstrickung der menschlichen Existenz in die Phantasmen der Psyche. Im Anschluss an die psychoanalytischen Auffassungen von Sigmund Freud und Jacques Lacan nannte er den Menschen ein ideologisches Tier. Demnach befinden wir uns immer in einer Welt aus Einbildungen und Illusionen, und zwar selbst dann, wenn wir glauben, die Realität einigermaßen unverfälscht wahrzunehmen, und uns als Realisten begreifen. Weil alle unsere Wahrnehmungen stets auf uns selbst zentriert sind, wird dasjenige ausgeblendet, was unsere Identität bedroht und unseren eingeübten Status als handelnde Subjekte unterläuft. Was in der Psychoanalyse als grundlegender Schutzmechanismus der menschlichen Psyche verstanden wird, hat Althusser hingegen zum Anlass genommen, um nach den kulturellen und sozialen Prozeduren zu fragen, die uns zu ideologisch geformten Subjekten machen. Denn niemand wird als Subjekt geboren. Aus dem Einzelnen wird erst in einer ganzen Reihe von vor allem pädagogischen Einrichtungen wie der Schule ein Subjekt hergestellt.
Erst wenn man diesen langen Prozess der Initiation durchlaufen hat, wird man zu einem Subjekt, das die sozialen Regeln verinnerlicht hat und diese Regeln daher für selbstverständlich hält. Entscheidend für Althusser war dabei allerdings, dass die ideologische Formierung des Individuums nicht durch die Übernahme von mehr oder weniger plausiblen Wertevorstellungen geschieht, sondern durch die Einübung von ganz konkreten Verhaltensweisen. Leitend war hierbei für Althusser ein berühmter Satz von Blaise Pascal, dem großen Verteidiger des Christentums im 17. Jahrhundert, der wie folgt lautet: "Knie nieder, bewege die Lippen zum Gebet, und Du wirst glauben." Normalerweise würden wir annehmen, dass man sich zum Gebet hinkniet, um seinem Glauben den angemessenen Ausdruck zu verleihen. Tatsächlich aber wird man in die Praxis des Glaubens eingeführt, indem einem gezeigt wird, wie man sich hinzuknien hat. Der Glaube ist hier nicht die Ursache sondern der Effekt einer bestimmten Praxis.
Mit diesem radikal neuen Ansatz zu einer Ideologietheorie wollte Louis Althusser die stagnierende marxistische Philosophie der 70er-Jahre wiederbeleben. Denn auch wenn er damit die Bahnen eines orthodoxen Marxismus, für den jede Ideologie auf die ökonomische Basis zurückzuführen ist, recht deutlich verlassen hatte, so verstand sich Louis Althusser bis an sein Lebensende trotzdem als Marxist. Den Niedergang der marxistischen Philosophie konnte er allerdings nicht mehr aufhalten. Und vielleicht wird man im Rückblick sogar sagen müssen, dass er zu den Totengräbern des Marxismus gehörte. Denn gewirkt hat er nicht so sehr auf die marxistische Philosophie, sondern auf die kommende Generation der Poststrukturalisten, die sich vielleicht noch als links verstanden, aber mit dem klassischen Marxismus nur noch sehr wenig zu tun hatten.
Von seinen Schülern ist besonders Michel Foucault hervorzuheben, dessen diskursanalytischer Ansatz den theoretischen Arbeiten von Althusser viel zu verdanken hat. Die meisten Bücher von Althusser sind auf Deutsch inzwischen bloß noch antiquarisch zu erhalten. Überlebt haben seine Schriften vor allem in den Fußnoten aktueller Bücher zur politischen Philosophie, zum Beispiel von Judith Butler oder Slavoj Žižek. Erst in jüngerer Zeit, in der vermehrt wieder nach der Aktualität marxistischer Philosophie gefragt wird, ist auch ein neues Interesse an dem eigenwilligen Marxisten zu registrieren, dessen Projekt, mit dem Marxismus zugleich auch die kommunistischen Parteien zu erneuern, ziemlich folgenlos geblieben ist.
Im Kontext aktueller Strömungen des Neomarxismus muss man daher auch die nun auf Deutsch vorliegenden Spätschriften von Louis Althusser betrachten. Die sorgfältig von Franziska Schottmann übersetzten und kommentierten Texte sind unter dem programmatischen Titel "Materialismus der Begegnung" versammelt. Zwar hört sich dieser Titel zunächst nach einer fortgesetzten Beschäftigung mit der materialistischen Philosophie an, deren größte Leistung für Althusser in der wissenschaftlichen Erschließung der Geschichte bestand. Aber eine genauere Lektüre der zu seinen Lebzeiten unpublizierten Aufsätze zeigt, wie weit sich Althusser in seinen Spätschriften von der marxistischen Geschichtsauffassung entfernt hat. Denn während es Marx darum ging, vor allem ökonomische und politische Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte aufzudecken, rückt Althusser dagegen die vielfältigen Zufälle in den Vordergrund, die eine Veränderung im Gefüge der Gesellschaft möglich machen.
Im Unterschied zur immer noch weit verbreiteten Vorstellung, dass sich geschichtliche Entwicklungen in notwendigen Stadien vollziehen, löst sich der Singular der Geschichte damit in eine Abfolge einmaliger Situationen auf. Was Althusser mit einem Materialismus der Begegnung zu erfassen versucht, meint daher im Gegensatz zur materialistischen Geschichtsauffassung ein Zusammentreffen unterschiedlichster Faktoren, die eine im Vorhinein nicht absehbare Veränderung hervorrufen können. Auch wenn wir heute meinen, über die Vorstellung eines zielgerichteten Verlaufs der Geschichte längst hinaus zu sein, fällt es uns trotzdem nach wie vor äußerst schwer, uns einzugestehen, dass wir es vielleicht nur einem Zufall zu verdanken haben, dort hingelangt zu sein, wo wir uns gerade befinden. Und das gilt sowohl für die große Geschichte als auch für die individuelle Biografie. So kann man in den Spätschriften von Louis Althusser vielleicht die wirksamste Antwort auf die Abgründe eines zur Ideologie geronnenen Schutzmechanismus der Psyche finden, nämlich sich selbst jenen Zufall einzugestehen, den man im Rückblick meint, zugunsten der eigenen Identität auslöschen zu müssen.
Louis Althusser: "Materialismus des Begegnung", übersetzt von Franziska Schottmann, Diaphanes, Zürich/Berlin 2010, 140 Seiten, 15 Euro
Auch wenn gerichtlich nie geklärt werden konnte, ob es sich um eine vorsätzliche Tat gehandelt hatte oder um das Verhalten eines psychisch Kranken, so musste Althusser dennoch mehrere Jahre in einer psychiatrischen Anstalt verbringen. Gehörte er bis dahin neben Jean-Paul Sartre zu den wichtigsten Philosophen der französischen Nachkriegszeit, so wurde die Rezeption des Philosophen Althusser nun von den Nachrichten über den Fall Althusser verdrängt. Obwohl er auch weiterhin an philosophischen Manuskripten arbeitete, die für den Druck bestimmt waren, kehrte er nicht wieder auf die öffentliche Bühne zurück. Louis Althusser ist am 22. Oktober 1990 gestorben.
Zu den zentralen Themen seiner politischen Philosophie gehörte die Verstrickung der menschlichen Existenz in die Phantasmen der Psyche. Im Anschluss an die psychoanalytischen Auffassungen von Sigmund Freud und Jacques Lacan nannte er den Menschen ein ideologisches Tier. Demnach befinden wir uns immer in einer Welt aus Einbildungen und Illusionen, und zwar selbst dann, wenn wir glauben, die Realität einigermaßen unverfälscht wahrzunehmen, und uns als Realisten begreifen. Weil alle unsere Wahrnehmungen stets auf uns selbst zentriert sind, wird dasjenige ausgeblendet, was unsere Identität bedroht und unseren eingeübten Status als handelnde Subjekte unterläuft. Was in der Psychoanalyse als grundlegender Schutzmechanismus der menschlichen Psyche verstanden wird, hat Althusser hingegen zum Anlass genommen, um nach den kulturellen und sozialen Prozeduren zu fragen, die uns zu ideologisch geformten Subjekten machen. Denn niemand wird als Subjekt geboren. Aus dem Einzelnen wird erst in einer ganzen Reihe von vor allem pädagogischen Einrichtungen wie der Schule ein Subjekt hergestellt.
Erst wenn man diesen langen Prozess der Initiation durchlaufen hat, wird man zu einem Subjekt, das die sozialen Regeln verinnerlicht hat und diese Regeln daher für selbstverständlich hält. Entscheidend für Althusser war dabei allerdings, dass die ideologische Formierung des Individuums nicht durch die Übernahme von mehr oder weniger plausiblen Wertevorstellungen geschieht, sondern durch die Einübung von ganz konkreten Verhaltensweisen. Leitend war hierbei für Althusser ein berühmter Satz von Blaise Pascal, dem großen Verteidiger des Christentums im 17. Jahrhundert, der wie folgt lautet: "Knie nieder, bewege die Lippen zum Gebet, und Du wirst glauben." Normalerweise würden wir annehmen, dass man sich zum Gebet hinkniet, um seinem Glauben den angemessenen Ausdruck zu verleihen. Tatsächlich aber wird man in die Praxis des Glaubens eingeführt, indem einem gezeigt wird, wie man sich hinzuknien hat. Der Glaube ist hier nicht die Ursache sondern der Effekt einer bestimmten Praxis.
Mit diesem radikal neuen Ansatz zu einer Ideologietheorie wollte Louis Althusser die stagnierende marxistische Philosophie der 70er-Jahre wiederbeleben. Denn auch wenn er damit die Bahnen eines orthodoxen Marxismus, für den jede Ideologie auf die ökonomische Basis zurückzuführen ist, recht deutlich verlassen hatte, so verstand sich Louis Althusser bis an sein Lebensende trotzdem als Marxist. Den Niedergang der marxistischen Philosophie konnte er allerdings nicht mehr aufhalten. Und vielleicht wird man im Rückblick sogar sagen müssen, dass er zu den Totengräbern des Marxismus gehörte. Denn gewirkt hat er nicht so sehr auf die marxistische Philosophie, sondern auf die kommende Generation der Poststrukturalisten, die sich vielleicht noch als links verstanden, aber mit dem klassischen Marxismus nur noch sehr wenig zu tun hatten.
Von seinen Schülern ist besonders Michel Foucault hervorzuheben, dessen diskursanalytischer Ansatz den theoretischen Arbeiten von Althusser viel zu verdanken hat. Die meisten Bücher von Althusser sind auf Deutsch inzwischen bloß noch antiquarisch zu erhalten. Überlebt haben seine Schriften vor allem in den Fußnoten aktueller Bücher zur politischen Philosophie, zum Beispiel von Judith Butler oder Slavoj Žižek. Erst in jüngerer Zeit, in der vermehrt wieder nach der Aktualität marxistischer Philosophie gefragt wird, ist auch ein neues Interesse an dem eigenwilligen Marxisten zu registrieren, dessen Projekt, mit dem Marxismus zugleich auch die kommunistischen Parteien zu erneuern, ziemlich folgenlos geblieben ist.
Im Kontext aktueller Strömungen des Neomarxismus muss man daher auch die nun auf Deutsch vorliegenden Spätschriften von Louis Althusser betrachten. Die sorgfältig von Franziska Schottmann übersetzten und kommentierten Texte sind unter dem programmatischen Titel "Materialismus der Begegnung" versammelt. Zwar hört sich dieser Titel zunächst nach einer fortgesetzten Beschäftigung mit der materialistischen Philosophie an, deren größte Leistung für Althusser in der wissenschaftlichen Erschließung der Geschichte bestand. Aber eine genauere Lektüre der zu seinen Lebzeiten unpublizierten Aufsätze zeigt, wie weit sich Althusser in seinen Spätschriften von der marxistischen Geschichtsauffassung entfernt hat. Denn während es Marx darum ging, vor allem ökonomische und politische Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte aufzudecken, rückt Althusser dagegen die vielfältigen Zufälle in den Vordergrund, die eine Veränderung im Gefüge der Gesellschaft möglich machen.
Im Unterschied zur immer noch weit verbreiteten Vorstellung, dass sich geschichtliche Entwicklungen in notwendigen Stadien vollziehen, löst sich der Singular der Geschichte damit in eine Abfolge einmaliger Situationen auf. Was Althusser mit einem Materialismus der Begegnung zu erfassen versucht, meint daher im Gegensatz zur materialistischen Geschichtsauffassung ein Zusammentreffen unterschiedlichster Faktoren, die eine im Vorhinein nicht absehbare Veränderung hervorrufen können. Auch wenn wir heute meinen, über die Vorstellung eines zielgerichteten Verlaufs der Geschichte längst hinaus zu sein, fällt es uns trotzdem nach wie vor äußerst schwer, uns einzugestehen, dass wir es vielleicht nur einem Zufall zu verdanken haben, dort hingelangt zu sein, wo wir uns gerade befinden. Und das gilt sowohl für die große Geschichte als auch für die individuelle Biografie. So kann man in den Spätschriften von Louis Althusser vielleicht die wirksamste Antwort auf die Abgründe eines zur Ideologie geronnenen Schutzmechanismus der Psyche finden, nämlich sich selbst jenen Zufall einzugestehen, den man im Rückblick meint, zugunsten der eigenen Identität auslöschen zu müssen.
Louis Althusser: "Materialismus des Begegnung", übersetzt von Franziska Schottmann, Diaphanes, Zürich/Berlin 2010, 140 Seiten, 15 Euro