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Zukunft der Ernährung
Mehlwürmer, Algen und regionale Alternativprodukte

Die Nahrungsmittelproduktion ist Hauptverursacher des Klimawandels, sorgt für Antibiotikaresistenzen und vergiftet wertvollen Boden. Das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe greift die Problematik mit einer Ausstellung auf. Designer und Wissenschaftler suchen dort nach Lösungen.

Von Ursula Storost | 01.06.2017
    Eine Mitarbeiterin des Museums für Kunst und Gewerbe betrachtet in der Ausstellung "Food Revolution 5.0 - Gestaltung für die Gesellschaft von morgen" ein Video des Künstlers Austin Stewart, das die Funktionsweise einer 3D-Brille bei Hühnern erläutert. Im Vordergrund ist das Modell eines Huhns zu sehen, das eine 3D-Brille trägt. Die Ausstellung beschäftigt sich mit der Bedeutung von Essen in unserer Gesellschaft.
    Eine Mitarbeiterin des Museums für Kunst und Gewerbe betrachtet in der Ausstellung "Food Revolution 5.0 - Gestaltung für die Gesellschaft von morgen" ein Video des Künstlers Austin Stewart, das die Funktionsweise einer 3D-Brille bei Hühnern erläutert. (picture alliance / dpa / Christina Sabrowsky)
    Im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe wird gerade die Revolution ausgerufen. Die Food Revolution 5.0.
    "Der falsche Hase von heute besteht tatsächlich aus Mehlwürmern", sagt Claudia Banz, promovierte Kunsthistorikerin und Leiterin der Abteilung Kunst und Design am Museum. Sie hat die Ausstellung kuratiert. Der falsche Hase von heute, eine Arbeit der Designerin Carolin Schulze, hockt modelliert und zufrieden lächelnd auf einem weißen Teller.
    "Wenn sie das Rezept wissen wollen, Sie brauchen 50g getrocknete Mehlwürmer, 50 g getrocknete Grillen, 100 g getrocknete Erbsen, eine kleine Zwiebel, eine Knoblauchzehe, den Saft einer halben Zitrone, Chillysalz, Pfeffer, Petersilie."
    Ob und wie dieser Braten schmeckt, kann hier nicht probiert werden. Allerdings hat Claudia Banz anlässlich der Ausstellung schon manche Speisen aus Insekten zu sich genommen.
    "Und die schmecken wirklich sehr, sehr gut. Und Insekten sind gar nicht so eklig wie wir hier denken. Sondern sie sind gesund. Plus sie helfen ein ganz wichtiges Ernährungsproblem, nämlich das Thema Fleisch, Massentierhaltung, Fleischkonsum, auch zu lösen."
    Knapp acht Millionen Menschen hungern
    Auch wenn es vielen noch nicht klar ist: So wie wir uns derzeit ernähren, kann es nicht ewig weitergehen. Eines der zahlreichen Probleme, so Claudia Banz, sei die ungerechte Verteilung der Lebensmittel.
    "Zwölf Milliarden Menschen können aktuell ohne Probleme von den Nahrungsmitteln, die weltweit produziert werden, ernährt werden. 7,3 Milliarden davon sind wir. Und nach Schätzung der Vereinten Nationen leben aber knapp acht Millionen Menschen, die hungern. Und ich glaube, die Zahlen sprechen für sich. Und wenn wir das auf Deutschland runterskalieren, dann ist es tatsächlich so, dass pro Person, also pro Kopf pro Jahr 80 Kilo Lebensmittel in die Tonne geworfen werden."
    Es geht also hierzulande längst nicht mehr um Ernährungssicherheit. Die haben wir, sagt Claudia Banz. Was wir brauchen, ist Ernährungssouveränität.
    "Dass ich als Konsument auch mitreden kann, dass ich transparente Information habe, wo kommen meine Sachen her."
    Fertiggerichte attraktiver als selbst gemachtes Essen
    Wir sind schon lange ein Spielball der Lebensmittelmultis, resümiert die Kulturwissenschaftlerin Irene Antoni-Kamar. Die Professorin an der Universität Oldenburg beklagt, dass es jenen global agierenden Konzernen gelungen sei, die Geschmacksnerven der Menschen zu manipulieren.
    Tütensuppen, Fischstäbchen und Tiefkühlpizza sind für viele der Inbegriff von Modernität und Köstlichkeit - "und das Selbermachen, das sich Beschäftigen mit Ernährung, galt für lange Zeit als wenig attraktiv".
    Dank der immer neuen, aggressiv beworbenen Produkte der Lebensmittelkonzerne würden viele Menschen inzwischen den Kartoffelbrei aus der Tüte dem selbst gemachten vorziehen. Und den synthetisch aromatisierten Fruchtjoghurt lieber essen als die frischen Früchte aus Nachbars Garten.
    "Wir schmecken anders. Es gibt Experimente, dass der Geschmack von natürlichen Erdbeeren schlechter beurteilt wird als der von künstlichen Aromen."
    Es geht um die Zukunft der Erde
    Schon lange gibt es insbesondere in den Städten Menschen, die sich zusammentun, um gemeinsam Nutzpflanzen anzubauen: "urban gardening". Und inzwischen gibt es auch Gemeinschaften, die regional nachhaltig wirtschaftende landwirtschaftliche Betriebe unterstützen. Als eine Art Genossenschaft garantieren sie den Erzeugern eine Mindestabnahme der Produkte - und ein gesichertes Einkommen.
    "Dass man gemeinsam für eine andere Art der Ernährung etwas tut und sich damit eben auch im öffentlichen Raum auch politisch zeigt, politisch engagiert."
    Bei der Frage, wie wir uns ernähren, gehe es eben nicht nur um Fleisch oder Gemüse, sagt Irene Antoni Komar. Es gehe um zukünftige gesellschaftliche Verhältnisse und letztendlich die Zukunft der Erde.
    Bio ist nicht immer gut
    "Also was verstehen wir unter Lebensqualität, unter einem guten Leben. Ist das gute Leben sein Essen im Vorübergehen schnell zu sich zu nehmen oder bedeutet gutes Leben, sich Gedanken zu machen, dass das, was ich esse, womit ich mich versorge unter guten gerechten Bedingungen entstanden ist und damit auch eine lokale Kraft entfalten kann."
    Um das leisten zu können, müssten die Verbraucher allerdings fit gemacht werden, die Dinge beurteilen zu können. Denn manches, so Irene Antoni-Komar, was heute als alternativ und nachhaltig angeboten würde, würde Mensch und Umwelt genauso schaden wie die konventionelle Erzeugung von Produkten. Beispiel Bio.
    "Dass in Spanien die Bioproduktion das Grundwasser verbraucht und die Süßwässerressourcen verbraucht. Dass eben die Großproduktion von Bio keine Lösung des Problems der nicht nachhaltigen Lebensmittelversorgung ist, sondern das Problem auch noch verschärft".
    Algen als Nahrungsmittel der Zukunft
    Vor einem sogenannten "flat panel airlift-Reaktor", der aussieht wie ein von Wasser durchflutetes grünes Doppelglasfenster, steht die Verfahrenstechnikerin Kerstin Kuchta von der Technischen Universität Hamburg.
    "In diesen Reaktoren werden Algen produziert. Und da die ja Licht brauchen, ist der so besonders dünn und in der Strömung so interessant gestaltet, dass jede Alge genug Licht bekommt aber auch genug Schatten. Weil sie einen Tag und Nachtzyklus haben wollen. Das heißt: Sie brauchen Licht und Schatten."
    Die Alge sei ein ideales Produkt für die Ernährung der Zukunft, schwärmt die Professorin. Denn Algen wachsen zehnmal schneller als alle anderen Pflanzen und können praktisch überall angebaut werden.
    "Agrarsysteme der Zukunft bauen wir jetzt auf Algen auf, weil wir auf belastete Flächen wieder gehen können. Da können wir mit den Algenreaktoren drauf produzieren, wo keine Kuh drauf fressen würde. Mit den Abfällen aus der Stadt und dem Abwasser können wir diese Algen düngen und können sie anfüttern. Wir können mit dem Abgas, dem CO2 aus dem Abgas den Algen das zur Verfügung stellen, was sie brauchen, um Biomasse aufzubauen. Und können da produzieren."
    Wo bleiben die Lieblingsgerichte?
    Das hört sich technisch perfekt, aber wenig appetitlich an. Wo bleiben da die Lieblingsspeisen? Huhn in Weinsoße und Wiener Schnitzel. Das sind falsche Denkweisen, kontert Kerstin Kuchta. Es geht zunächst um essenzielle Bestandteile der Nahrung, um Proteine und Aminosäuren. Alles Weitere können Fooddesigner dann herstellen.
    "Wenn bei uns die ersten Algen getrocknet wurden im Labor, dann war das schon ziemlich 'fishy'. Aber wenn man dann das Öl trennt von den restlichen Aromastoffen, dann bleibt ein erst mal geschmacksneutrales Öl, was eben diese essentiellen Stoffe bietet und wenn wir das dann wieder zusammen mischen mit anderen Materialien, kochen in einem Rezept, dann kriegen wir extrem schmackhafte Gerichte daraus."
    Wunderbare Pasta und schmackhaftes Brot haben Kerstin Kuchta und ihr interdisziplinär aufgestelltes Forscherteam bereits aus Algen hergestellt. Und auch leckere Bouletten.
    Es geht um mehr als um reine Nahrungsaufnahme
    "Wir reden von hunderttausenden Tonnen, die produziert werden. Und dann ist es ein Rohstoff wie Soja oder wie Mais oder wie Getreide oder wie Fleisch, der dann natürlich weiterverarbeitet wird. Also das soll ersetzen diese gigantische Produktion von Fleisch und von Getreide, wo wir Landflächen für brauchen."
    Wenn man anfängt, sich intensiv mit Nahrung zu beschäftigen, merkt man, dass es um viel mehr geht als dem Körper lebensnotwenige Stoffe zuzuführen, sagt der Philosophieprofessor Harald Lemke. Der Essensexperte bezeichnet sich als Gastrosophen, als einen, der die vielfältigen natur- und geisteswissenschaftlichen Zusammenhänge des Essens erforscht.
    "Wir interagieren wenn wir essen mit der Natur, mit Tieren, mit Landschaften. Aber auch politische Strukturen. Handelsabkommen, unser Umgang mit dem Körper. Also wir berühren ganz viele Themen unseres Lebens massiv."
    Darüber machen sich aber die wenigsten Konsumenten Gedanken, wenn sie im Supermarkt einkaufen.
    Ernährung als Bildungsaufgabe
    "Die Ernährungswende beginnt zunächst in unseren Köpfen und nicht in unseren Töpfen. Es geht nicht um Technik sondern um Ethik. Dass wir uns fragen, was wollen wir als Menschheit auf diesem Planeten."
    Harald Lemke hat ein gastrophilosophisches Szenario entwickelt. Ernährung, sagt er, müsse in Zukunft als Bildungsaufgabe begriffen werden. Essen als Schulfach, das globale Themen behandelt. Auch globale Ungerechtigkeit und Zerstörung. Massentierhaltung, Monokultur, Vergiftete Böden und Ausbeutung der Dritten Welt.
    Wie bei der Energiewende müsse die Politik daran arbeiten, die vielen Aspekte der Ernährung zu erkennen und zusammenzuführen. Dann könne eine Ernährungswende gelingen.
    "Dass wir auf diesem Planeten Erde bleiben, mit den Ressourcen intelligenter umgehen. Dass wir uns mehr Zeit nehmen für das Essen, für die Zubereitung. Dass wir unsere ganze Intelligenz aufbringen, um möglichst hochwertige regional, saisonal usw. angepasste Lebensmittel produzieren. Und dass wir die Tischgesellschaft, die Lust, unser Leben damit zu verbringen, mit raffiniert zubereiteten Lebensmitteln in Gemeinschaft, mit anderen zu konsumieren, genießen. Dass wir das als eine, mit Kant gesprochen, wahre Humanität kultivieren."