Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Zum 100. Geburtstag des Dichters
Tadeusz Różewicz - die Stimme der polnischen Nachkriegsgeneration

Die Poesie von Tadeusz Różewicz galt den "Entsetzten" - den Überlebenden des Zweiten Weltkriegs. Sie machte den polnischen Dichter zur international gehörten Stimme seiner Generation. Anlässlich des 100. Geburtstags am 9. Oktober erklärte der polnische Sejm 2021 zum "Tadeusz-Różewicz-Jahr".

Von Doris Liebermann | 09.10.2021
    Der polnische Lyriker und Schriftsteller Tadeusz Rozewicz in einer Aufnahme von 2010
    "Ich schuf Poesie für Entsetzte" - Tadeusz Różewicz 2010 in Lodz (picture alliance / dpa | Grzegorz Michalowski)
    Wehrlos, nackt
    Lippe auf Lippe
    Mit weit geöffneten Augen
    Lauschend
    Schwammen wir
    Durch das Meer
    Aus Blut und Tränen

    (Tadeusz Różewicz "Liebe 1944")
    Erste Gedichte von Tadeusz Rózewicz erschienen in den Kriegsjahren, im Untergrund. Der junge Dichter kämpfte damals gegen die Deutschen. Sein älterer Bruder Janusz, Offizier der "Armija Krajowa", der "Heimatarmee", hatte ihn zum Widerstand gebracht. Auch Janusz Różewicz schrieb Gedichte. 1944 wurde er von der Gestapo verhaftet und hingerichtet. Viele Jahre später widmete ihm Tadeusz Różewicz eine ergreifende Anthologie. Titel: "Unser älterer Bruder"

    Eine Poesie "für dem Gemetzel Preisgegebene"

    Die schrecklichen Erfahrungen des Krieges, der Verlust von Angehörigen und Freunden, die Deportation und Ermordung jüdischer Mitbürger, die Bombardierung seiner Heimatstadt und die Verwüstung seines Landes prägten Tadeusz Różewicz für sein ganzes Leben. Er wurde die wichtigste Stimme der polnischen Nachkriegsgeneration, jener 20- bis 30-Jährigen, die den Krieg überlebt hatten und deren Existenz schwer erschüttert war.
    "Ich schuf Poesie für Entsetzte. Für dem Gemetzel Preisgegebene. Für Überlebende. Wir lernten das Sprechen vom Anfang. Sie – die Poesie - und ich."

    Die Sorge um das Schicksal Polens

    Tadeusz Różewicz wurde am 9. Oktober 1921 in der kleinen Stadt Radomsko in der Wojewodschaft Łódz geboren. Nach dem Krieg studierte er Kunstgeschichte in Krakau. Sein lyrisches Debüt gab er im Jahre 1947. "Unruhe", so der Titel seines ersten – öffentlichen - Gedichtbandes war programmatisches Bekenntnis und meinte die Sorge um das Schicksal seines Landes.
    Różewiczs künstlerischem Schaffen liegt die Überzeugung vom Tod des herkömmlichen ästhetischen Erlebnisses zugrunde. Nach Krieg und Okkupation, nach Auschwitz, nach der Atombombe auf Hiroshima, erschienen ihm Bezeichnungen wie "ästhetisches Erlebnis" oder "künstlerisches Erlebnis" suspekt. Das klingt im Gedicht "Meine Lyrik" durch:
    "Meine Lyrik / übersetzt nichts / erklärt nichts / sagt nichts aus / umfasst keine Ganzheit erfüllt keine Hoffnung / sie schafft keine neuen Spielregeln / nimmt an keinem Vergnügen teil / sie hat einen bestimmten Platz / den sie erfüllen muss."

    Gedichte als "barbarisch" verdammt

    Die stalinistische Ära nach dem Krieg brachte kulturpolitische Zwänge in der Volksrepublik Polen mit sich. In der Kunst herrschte das Diktat des "sozialistischen Realismus", dem sich Różewicz verweigerte. Er wurde öffentlich angegriffen, seine Gedichte wurden als "barbarisch" diffamiert.

    Emigration aus Polen kam nie in Betracht

    Anfang der 1950er-Jahre ließ er sich mit seiner Frau im oberschlesischen Gleiwitz nieder, fernab der literarischen Zentren, fernab von politischen Debatten und Anfeindungen. Er arbeitete als Reporter und zog 1968 nach Breslau. An Emigration aus Polen dachte der kleine, freundliche Mann auch in den Jahren der Bedrängnis nicht:
    "Ich muss in meiner Sprache leben. Meine Sprache ist mein Land und mein Land ist meine Sprache. Das so eng ist zusammen."
    Montage aus den Portraits von Herta Müller und Swetlana Alexijewitsch
    Lyrikfestival "Poetica" in Köln - Gedichte im Widerstand
    Um das Widerstandspotenzial von Poesie ging es auf dem Festival "Poetica" in Köln. Kurator Jan Wagner bezeichnete das Gedicht als "eine Kapsel voller Freiheit". Lyrik dürfe keine Ideologie sein, meinte Herta Müller, sondern müsse die Welt berühren.
    Das Tauwetter nach Stalins Tod 1953 öffnete für Polen den Westen. Fasziniert von der Pariser Avantgarde – von Samuel Beckett und Eugène Ionesco – schrieb Różewicz Ende der 1950er-Jahre sein erstes Drama, "Die Karthotek". Wenn Kritiker schrieben, dass er absurdes Theater mache, widersprach Różewicz:
    "Ich hatte immer gesagt: Wissen Sie, das waren ganz realistische Theaterstücke in sozialistischer Gesellschaft. Nur, das war absurd alles und darum man denkt, dass ich habe absurdes Theater gemacht. Aber leider diese Probleme waren damals ganz realistisch."
    Tadeusz Różewicz war schon zu Lebzeiten ein Klassiker: als Dichter, als Dramatiker, als Erzähler. Er starb am 24. April 2014 im Alter von 92 Jahren.