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Zum 100. Geburtstag von Hannah Arendt

Den 100. Geburtstag der Philosophin Hannah Arendt am 14. Oktober nimmt die Sendung Büchermarkt zum Anlass, einen Blick auf Bücher von und über die streitbare Philosophin zu werfen, deren Werk maßgeblich durch die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust geprägt ist. Die Emigration rettete die Hannah Arendt vor der Nazi-Verfolgung. In den USA machte die Heidegger-Schülerin Karriere, schrieb Bücher über den Totalitarismus und analysierte die deutsche Nachkriegsgesellschaft.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 11.10.2006
    Was ist das Böse? Für mittelalterliche Christen hat es teuflischen Ursprung. Die moderne Sozialphilosophie erklärte es dagegen lange Zeit mit den Lebensumständen. Vor der Monstrosität des Holocaust aber knickten alle Erklärungen ein. Dort lässt sich das Böse nicht recht fassen: Nicht nur weil in Deutschland und Südamerika die Täter während der Adenauer-Ära frei herumliefen und sich im freundlichen Nachbarn versteckten! Auch jene, derer man habhaft wurde und die man anklagte, wiesen alle Verantwortung von sich. Hannah Arendt schreibt in ihrer posthum erschienen Vorlesung Über das Böse :

    "Das lästige an den Nazi-Verbrechern war gerade, daß sie willentlich auf alle persönlichen Eigenschaften verzichteten, als ob dann niemand mehr übrig bliebe, der entweder bestraft oder dem vergeben werden könnte. Das größte begangene Böse ist das Böse, das von Niemanden getan wurde, das heißt, von menschlichen Wesen, die sich weigern, Personen zu sein."

    Der bekennende Selbstmordattentäter, der einen islamischen Gottesstaat errichten will, erscheint vor diesem Hintergrund nicht als die Ausgeburt des Bösen. In der Tat tritt er für traditionelle Werte ein und sieht sich in einem Krieg, in dem Angriffe auf die Zivilbevölkerung gang und gäbe sind.

    Arendts aus Notizen zusammengestellte Vorlesung, die durchaus zu einem gut lesbaren Essay avanciert, steht 1965 natürlich noch tief unter dem Eindruck des Holocaust, den sie mit ihrem 1951 erschienen monumentalen Hauptwerk über Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft zu verarbeiten versuchte. In einem Vortrag aus dem Jahr 1963 Wahrheit und Politik sagt Arendt:

    "Als Hitler in der berühmten Reichstagsrede vom 30. Januar 1939 erklärte, ‚das Judentum (zettele) einen internationalen Weltkrieg zur Ausrottung der arischen Völker Europas' an und diesmal würde das Judentum dabei untergehen, hatte er in der Sprache totalitärer Machthaber klar angekündigt: Ich bereite den Krieg vor und die Ausrottung des Judentums. Als Trotzki erfuhr, daß sein Name in der Geschichte der Russischen Revolution in Stalins Version nicht vorkam, mußte er wissen, Stalin beabsichtigte, ihn zu ermorden."

    Welche psychische Struktur jenen Menschen eignet, die den totalitären Terror, Konzentrationslager und Massenmord organisieren, dem geht Arendt vor allem in ihrer Analyse des Eichmann-Prozesses in Jerusalem 1961 nach. Einen Sturm der Entrüstung löste sie aus, als sie Eichmann sadistische Neigungen absprach, ihn stattdessen einen "Hanswurst" nannte, somit das Böse im Banalen entdeckte. Bei Eichmann, der die Transporte von Millionen von Menschen in die Vernichtungslager organisierte, diagnostizierte sie eine völlige Unfähigkeit zu denken, um sich selbst vorzustellen, was er anstellte.

    Julia Schulze Wessel zeichnet in ihrem Buch Ideologie der Sachlichkeit jene bürokratische Mentalität nach, die es für Arendt Menschen, die normalerweise keine Mörder sind, ermöglichte, sich an derart monströsen Verbrechen zu beteiligen. So behauptete Eichmann gar, er habe mit seinem Organisationstalent den Menschen das Leiden erleichtert, wenn er sagt:

    "Wenn diese Sache einmal gemacht sein mußte (...), dann war es besser, wenn Ruhe und Ordnung herrschten und alles klappte."

    Wie viele Deutsche, die dabei waren, dachten jemals an die Opfer dieses deutschen Krieges, beispielsweise an Walter Benjamin, einen der großen deutschen Intellektuellen und engen Freund Hannah Arendts. In einem Brief, den ein gerade erschienener, aber kaum neue Materialien präsentierender Band über Arendt und Benjamin enthält, schreibt sie im Oktober 1940 an Gershom Scholem, einen der wichtigsten Theoretiker des jüdischen Denkens im 20. Jahrhundert:

    " Lieber Scholem - Walter Benjamin hat sich das Leben genommen, am 26.9., an der spanischen Grenze, in Port Bou. Er hatte ein amerikanisches Visum, aber seit dem 23. lassen die Spanier nur noch Inhaber ‚nationaler' Pässe durch. (...) Juden sterben in Europa und man verscharrt sie wie Hunde. Ihre Hannah Arendt." "

    Nicht nur daß sich das Böse unter totaler Herrschaft als alltägliches Oberflächenphänomen erwies. Vielmehr gelang damit einerseits eine Umwertung der ethischen Werte: Damals galt das Gebot: "Du sollst töten!" Andererseits stellte totale Herrschaft dabei die traditionellen Werte in den Dienst ihrer grausamen Geschäften. Die SS stützte sich nicht primär auf sadistische Triebtäter, sondern eher auf gute Familienväter, die sich, um ihre Kinder zu ernähren, dem Verbrechen nicht widersetzten.

    Julia Schulze-Wessel verteidigt in ihrer Studie mit dem Untertitel Hannah Arendts politische Theorie des Antisemitismus denn auch das Buch über Eichmann in Jerusalem . Sie schreibt:

    "Arendt ist immer vorgehalten worden, Eichmann verharmlost zu haben. Aber die Ergebnisse meiner Arbeit zeigen, daß ihre Analyse des neuen Verbrechertypus eine viel radikalere Kritik am Zustand der Gesellschaft und ihrer Individuen, die den Massenmord ermöglichten, übt als diejenigen, die Eichmanns Motivation auf seine antisemitischen Grundüberzeugungen zurückführen."

    Die gängigen Tugenden wie Ehre, Gehorsam, Wahrhaftigkeit verwendeten die Nazis, um ihr Vaterland als Vernichtungslager zu organisieren. Menschen, die gerne ständig Treue und Fleiß propagierten, erwiesen sich unter den Nazis als nicht besonders widerständig, sondern erfüllten ihre vermeintliche Pflicht akribisch, gleichgültig ob sie damit indirekt andere Menschen quälten. Arendt sagt:

    "Man hat oft bemerkt, daß das sicherste Ergebnis der sogenannten Gehirnwäsche nicht eine veränderte Gesinnung, sondern jener Zynismus ist, der sich weigert, irgend etwas als wahr anzuerkennen. Wo Tatsachen konsequent durch Lügen und Totalfiktionen ersetzt werden, stellt sich heraus, daß es einen Ersatz für die Wahrheit nicht gibt. Denn das Resultat ist keineswegs, daß die Lüge nun als wahr akzeptiert und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern daß der menschliche Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen, der ohne die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren kann, vernichtet wird."

    Was Arendt daran als das besondere Böse kennzeichnet, stellt die Ablehnung jeglicher Verantwortung dar, eine in der Moderne ja weit verbreitete Haltung, für die konkreten Folgen des eigenen Tuns nicht einstehen zu wollen oder sie anderen in die Schuhe zu schieben. Vor allem Menschen, die in den großen Organisationen der Bürokratie, des Militärs oder der Konzerne arbeiten, fühlen sich gerne als reines Rädchen in einem Getriebe, für dessen Auswirkungen sie jegliche Verantwortung ablehnen; die totalitären Systeme stellen die Mammutorganisationen schlechthin dar, die dem einzelnen jegliche Eigenverantwortung für die Folgen seines Tuns wie für sein Leben abnehmen. Just hier herrscht dann - so Julia Schulze Wessen - eine Ideologie der Sachlichkeit , indem die Menschen sich um das reine Funktionieren ihres Apparates bemühen, in deren Schatten Verbrechen auch ohne einen hasserfüllten Antisemitismus, sondern streng nach Vorschrift geschehen. Hannah Arendt schreibt in Über das Böse :

    "Ich erwähnte den totalen Zusammenbruch moralischer und religiöser Normen unter Leuten, die allem Anschein nach immer an sie geglaubt hatten, und ich habe auch die unleugbare Tatsache angeführt, daß die Wenigen, denen es gelang, nicht in den Wirbel hineingezogen zu werden, keineswegs die ‚Moralisten' waren, also Leute, die schon immer Regeln des richtigen Verhaltens hochgehalten hatten, sondern im Gegenteil sehr oft jene, die schon vor dem Debakel sowieso von der objektiven Nicht-Gültigkeit dieser Normen als solcher überzeugt gewesen waren."

    Arendt schließt an Nietzsches Einsicht an, dass es in einer pluralistischen, in Klassen zerfallenen und verschiedenen politischen wie religiösen Weltanschauungen anhängenden Gesellschaft keine gemeinsamen obersten ethischen Werte mehr gibt, dass also nach Nietzsches berühmtem Wort Gott tot ist. Das schiere Festhalten an den traditionellen Normen reicht dann keineswegs aus, um dem Abdriften in das Böse zu entgehen. Wenn man angesichts der immensen Verbrechen und ungeheuren Gefahren für die gesamte Menschheit verantwortlich handeln will, dann muss man sich vielmehr vor allem um einen objektiven Blick auf die Welt der Tatsachen bemühen. Dann geht es also um Objektivität und Wahrheit, um die Realität, um das, was wirklich ist. Arendt sagt 1963:

    "Es geht ja um den Bestand der Welt, und keine von Menschen erstellt Welt, die dazu bestimmt ist, die kurze Lebensspanne der Sterblichen in ihr zu überdauern, wird diese Aufgabe je erfüllen können, wenn Menschen nicht gewillt sind, das zu tun, was Herodot als erster bewußt getan hat - nämlich legein ta eonta, das zu sagen, was ist. Keine Dauer, wie immer man sie sich vorstellen mag, kann auch nur gedacht werden ohne Menschen, die Zeugnis ablegen für das, was ist und für sie in Erscheinung tritt, weil es ist."

    Angesichts der Verfolgung, als Arendt 1933 aus Deutschland und 1941 aus Frankreich fliehen musste, angesichts der existentiellen Bedrohung durch zweimalige Inhaftierung, zweifelte Arendt schon frühzeitig an der Wirksamkeit von Ethik und Moral, eine Skepsis, die sich nach dem Krieg eher noch verstärkte. Arendt gilt denn auch in der politischen Philosophie nicht gerade als Ethikerin. Insofern muss es nicht verwundern, dass der vorliegende Text im englischen Original erst 2003 erschien.

    Ethiker, die sich in ihrer Mehrzahl damit beschäftigen, ethische Normen zu begründen, wollen nicht verstehen, daß es noch andere moralische Fragestellungen gibt, wie sie Arendt in ihrem Spätwerk Vom Leben des Geistes entwickelt, zu dem die vorliegenden Vorlesung Über das Böse den Weg bereitet. Diese hielt Arendt ursprünglich unter dem allgemeineren Titel Some Questions of Moral Philosophy - also ‚einige Fragen der Moralphilosophie'. Dabei skizziert Arendt bereits, daß es nach dem Zusammenbruch der traditionellen Ethik unter pluralistischen demokratischen Bedingungen moralphilosophisch nicht mehr so sehr um Normen, sondern um Kompetenzen, um Tugenden geht. Die Menschen heute müssen beispielsweise das Denken und Urteilen lernen, also Zusammenhänge begreifen, um Verantwortlichkeiten zu erkennen. Dazu aber benötigen Sie grundsätzlich eine intellektuelle Integrität oder eben schlicht die Tugend der Wahrhaftigkeit. Arendt sagt in ihrem Vortrag über Wahrheit und Politik:

    "Die Geschichte dieser Haltung, der es nur um die Wahrheit zu tun ist, ist älter als alle unsere theoretischen und wissenschaftlichen Traditionen, älter auch als die Tradition philosophischen und politischen Denkens. Ich möchte meinen, daß ihr Ursprung mit der Entstehung der homerischen Epen zusammenfällt, in denen des Liedes Stimme den überwundenen Mann nicht verschweigt und nicht verunglimpft und die Taten der Trojaner nicht weniger gepriesen werden als die der Achäer, die für Hektor zeugen wie für Achill. Eine solche 'Objektivität' wird man in den anderen Kulturen des Altertums vergeblich suchen; nirgendwo sonst ist man je imstande gewesen, wenigstens im Urteil dem Feind Gerechtigkeit wieder fahren zu lassen, nirgendwo sonst zu indizieren, daß die Weltgeschichte nicht das Weltgericht ist, dass Sieg oder Niederlage für das Urteil nicht das letzte Wort behalten dürfen, wiewohl sie doch offenbar das letzte Wort sind für die Schicksale der Menschen. (...) Hier liegt die geschichtliche Wurzel der gesamten abendländischen 'Objektivität', dieser merkwürdigen Leidenschaft für intellektuelle Integrität um jeden Preis, die es nur im Abendland gegeben und die es zur Geburtsstätte der Wissenschaft gemacht hat."

    So brauchen die Menschen heute nach Arendt das, was Kant die erweiterte Denkungsart nannte, nämlich die Fähigkeit, sich in einen anderen hineinzuversetzen, um ihn zu verstehen, um ihm gerecht zu werden. Wenn es keine gemeinsamen obersten ethischen Werte mehr gibt, gerade dann muss man sich um Gemeinsamkeiten um so intensiver bemühen. Aber die Zunft der Ethiker weigert sich bis heute, solche Vorschläge als moralphilosophisch anzuerkennen.

    Literatur
    Hannah Arendt:
    "Über das Böse"
    (Piper Verlag)

    Detlev Schöttker/Erdmut Wizisla:
    "Arendt und Benjamin - Texte, Briefe, Dokumente"
    (Suhrkamp Verlag)

    Julia Schulze Wessel:
    "Ideologie der Sachlichkeit -
    Hannah Arendts politische Theorie des Antisemitismus"
    (Suhrkamp Verlag)