Donnerstag, 25. April 2024

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Zum 100. Geburtstag von Paul Celan
Reisender in die "Wortnacht"

Als "Trauerarbeit eines europäischen Juden im Medium des deutschen Gedichts" wurde Paul Celans epochales Gedicht "Todesfuge" in den 1950er-Jahren aufgenommen. Deutsch: die Sprache Hölderlins und die der Mörder. Diese Ambivalenz prägte Celans Schreiben. Am 23. November 1920 wurde er in Czernowitz geboren.

Von Christian Linder | 23.11.2020
    Das undatierte s/w-Porträt aus den 1960er Jahren zeigt den Lyriker Paul Celan (1920-1970). Der deutschsprachige Künstler aus Rumänien wurde bekannt durch die 1952 erschienene Gedichtesammlung "Mohn und Gedächtnis".
    Paul Celan in einem Porträt aus den 60er Jahren. (picture alliance / Richard Koll)
    Niendorf an der Ostsee, 23. Mai 1952. Eingeladen zum Treffen der Schriftstellergruppe 47, las Paul Celan sein Gedicht »Todesfuge«:
    "Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends / wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts / wir trinken und trinken …"
    "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland"
    Schon dieser Anfang ließ aufhorchen. Aber wovon erzählte Celan? Geboren unter dem bürgerlichen Namen Paul Antschel am 23. November 1920 in eine deutschsprachige jüdische Familie in der damals rumänischen Vielvölkerstadt Czernowitz, hatte er während der deutschen Besetzung im 2. Weltkrieg seine Eltern durch Deportation und Ermordung verloren. Da ihnen noch nicht einmal ein Massengrab vergönnt war, konzipierte er die um 1945 geschriebene »Todesfuge« als »Grabschrift« für seine Eltern und versuchte nach seinen Worten zugleich »das Ungeheuerliche der Vergasungen zur Sprache zu bringen«:
    "… Er ruft: Streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft / dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng / … der Tod ist ein Meister aus Deutschland / Sein Auge ist blau"
    Zur Tagung der Gruppe 47 in Niendorf war Paul Celan aus Paris angereist, wo er seit 1948 wohnte. Seine existentielle Position als, wie er meinte, »Schwellenwesen, halb von gestern, halb von heute«, war ihm sehr bewusst. Für das Gestern stand die Landschaft um Czernowitz, die Bukowina, die er in einem seiner Jugend-Gedichte als ein »Drüben« beschworen hatte:
    "Erst jenseits der Kastanien ist die Welt. / Von dort kommt nachts ein Wind im Wolkenwagen …"
    Paul Celan - Der Dichter und der ferne Gott
    Czernowitz war ein jüdisch-christlicher Schmelztiegel. Hier wurde Paul Celan am 23. November 1920 geboren. Die Eltern des Dichters wurden von den Nazis ermordet. "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland", schrieb er. Die Schoah prägt Celans Nachdenken über Gott. Er lästert ihn und sucht den "fernen Gott".
    Diese alte, auch von chassidischen Märchen-Geschichten erfüllte Welt war durch den Holocaust und die Ermordung der Eltern vollends versunken. Geblieben war Celan nach 1945 als Heimat nur die deutsche Sprache, wie er 1958 bei der Verleihung des Bremer Literaturpreises sagte:
    "Aber sie musste nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen."
    Wuchernde Assoziationen, kühne Metaphern
    Es ist eine ungeheure Ambivalenz, die Celans Schreiben geprägt hat: Zwar war Deutsch die Sprache zum Beispiel des geliebten Friedrich Hölderlin, zugleich aber auch die Sprache der Mörder. In dieser Bedrängnis machte er sich auf die Suche nach seiner eigenen Wirklichkeit und inszenierte in seinen Gedichten riskante Expeditionen in eine von ihm so genannte »Wortnacht«. Das Leben und die Welt dargestellt als Traum und wie im Traum – indem das Fremdeste zum Fremden kommt:
    "Dieses Wort ist deiner Mutter Mündel. / Deiner Mutter Mündel teilt dein Lager, Stein um Stein. / Deiner Mutter Mündel bückt sich nach der Krume Lichts."
    Paul Celan 1964
    Der "Todesfuge"-Autor und die Deutschen - Celans Leiden an der Nation
    Die Gedichte Paul Celans gedachten den sechs Millionen ermordeten Juden. 1960 erhielt er den Büchner-Preis, fühlte sich als jüdischer Dichter aber stets fremd unter Deutschen. Wolfgang Emmerich hat das "deutsche" Leiden Celans nun neu untersucht.
    Der persönliche, zugleich immer auch etwas zeremoniell klingende Tonfall faszinierte ebenso wie die von wuchernden Assoziationen und kühnen Metaphern geprägte Bilderflut in den Gedichten der Bücher wie »Mohn und Gedächtnis«, »Sprachgitter«, »Die Niemandsrose« oder »Atemwende« – auch wenn vielen Lesern ihr Inhalt und Sinn nicht unmittelbar zugänglich war. Das Halbdunkel der Bilder, den Schleier, der ihren geheimen Kern verbarg, hat Celan dabei bewusst vor Augen geführt. In seinem einzigen, kurzen Prosatext »Gespräch im Gebirg« findet sich eine genaue Beschreibung seines poetischen Verfahrens:
    Ein Rotweinfleck auf einem Gedichtmanuskript des Schriftstellers Paul Celan.
    Gedichtmanuskript Paul Celans im Literaturmuseum der Moderne Marbach (picture alliance / dpa / Daniel Naupold)
    "Kaum tritt ein Bild ein, so bleibts hängen im Geweb, und schon ist ein Faden zur Stelle, der sich da spinnt, sich herumspinnt ums Bild, ein Schleierfaden, spinnt sich ums Bild herum und zeugt ein Kind mit ihm, halb Bild und halb Schleier."
    Ungeklärter Tod in Paris
    Aus dem in Celans Gedichten vorgeführten Halbdunkel war am Ende in seinem Leben totale Finsternis geworden. Vor allem setzten ihm die, wie sich herausstellte, völlig haltlosen Plagiatsvorwürfe zu, die die Witwe des Schriftstellers Yvan Goll gestreut hatte. Auch andere Erlebnisse empfand er als persönliche Kränkungen und musste zum Schutz seiner Person mehrmals eine psychiatrische Klinik aufsuchen. Vermutlich am 20. April 1970 ging Paul Celan in Paris in die Seine.