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Zum 100. Geburtstag von Richard Scarry
"Er war in den Dingen, die er gemacht hat, ein Genie"

Der große Illustrator Richard Scarry wäre am 5. Juni 100 Jahre alt geworden. "Was meinen Vater ausmacht, ist sein Esprit, sein Humor, seine Ideen, sein Blick", sagte Huck Scarry, ebenfalls Illustrator, im Dlf. Er führe dessen Werk gerne fort: "So ist er für mich immer lebendig."

Huck Scarry im Gespräch mit Ute Wegmann | 15.06.2019
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Richard Scarrys Bilderbuchwelt (Buchcover Diogenes Verlag / Carlsen Verlag)
Ute Wegmann: Generationen von Kindern kennen seine Hasen, Katzen, Schweinchen, Füchse und Hunde, anthropomorphisierte Tiere, die in kleinen Szenen das Leben und den Alltag in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dokumentieren. Im Haus, im Supermarkt, im Zoo, auf dem Land, in der Stadt, am Strand. Die Tiere essen, spielen, fahren, arbeiten. Alle diese Tiere, von denen gerade die Rede ist, entstammen der Feder des amerikanischen Autors und Illustrators Richard Scarry.
Zum Anlass seines 100. Geburtstags am 5. Juni freue ich mich sehr, mich mit seinem Sohn Huck, ebenfalls Illustrator, über den Vater, aber auch über seine Mutter Patricia Scarry, eine Kinderbuchautorin, zu unterhalten.
Willkommen in Köln, Huck Scarry!
Huck Scarry: Danke schön!
Wegmann: Sie haben gerade ein Menge zu tun, denn man widmet Ihrem Vater zum runden Geburtstag mehrere Ausstellungen. Wo wird man die Bilder sehen können?
Scarry: Wir haben verschiedene kleine Ausstellungen. Wir hatten eine in Bologna, im April, während der Internationalen Kinderbuchmesse. Eine kommt jetzt im Juni, sie beginnt am 1. Juni in Somerset in der Galerie Hauser & Wirth. Das ist ein wunderschöner Ort auf dem Land, in der Nähe von London, und sie läuft den ganzen Sommer über. Und die andere Ausstellung aus Bologna wird nach China reisen. Unsere Bücher sind seit ungefähr zehn Jahren in China bekannt und sie sind dort sehr beliebt. China ist ein wichtiger Teil unseres Marktes und das ist sehr erfreulich. Die Ausstellung wird dann durch verschiedene Städte in China reisen.
Wegmann: Kuratieren Sie diese Ausstellungen?
Scarry: Ja, also kuratieren ist ein schönes Wort, wenn man Dinge einfach zusammenbringt: Texte schreiben, Dinge erklären ... Ich versuche so gut wie möglich, den Lebenslauf meiner Eltern vorzustellen und die Werke zu zeigen. Sodass man ein wunderschönes Bild hat von den zwei wunderschönen Eltern, die ich hatte.
Von den USA in die Schweiz
Wegmann: Ein paar Daten zum Leben ihres Vaters: Richard Scarry wurde am 5. Juni 1919 in Boston geboren und starb 1994 in der Schweiz. Er studierte Kunst, bis er von der US Army eingezogen wurde, arbeitete nach dem Krieg als Layouter in Magazinen und entwickelte 1955 die bekannte amerikanische Werbefigur "Smokey Bear", ein Plakat, das Menschen anhalten sollte, Waldbrände zu vermeiden. Daraus entstand unter anderem eins der ersten Bücher in dem Verlag Little Golden Books, gegründet 1942, der kleinformatige Bücher zum Preis von 25 Cent publizierte. Bereits 1953 waren 183 Millionen Bücher verkauft. Ein Jahr später vertrieb man die Bücher in die ganze Welt, außer in die Sowjetunion (too capitalistic). Der Bestseller "The Poky Little Puppy" hatte sich 1986 eine Billion Mal verkauft. Im Jahr 2017 feierte der Verlag 75. Geburtstag, ist nun Teil von Penguin Random House, verkauft das Buch für 4,99 Dollar und Richard Scarry hat mehrere der 1.200 Titel geschrieben und gezeichnet.
1972 kaufte Ihr Vater ein Chalet in der Schweiz und kam nach Europa. Huck Scarry, Sie sind 1953 in Conneticut geboren, damals waren Sie 19 Jahre. Kamen Sie mit den Eltern in die Schweiz?
Scarry: Ja, nur das Datum ist nicht ganz richtig. Wir sind 1968 gekommen. Ich bin sehr gern nach Europa gekommen. Wir haben mehrere Europareisen schon vorher gemacht. Die erste mit mir war 1963. Und ich hab die Reise geliebt. Wir hatten eine Interrailkarte und wir konnten in jeden Zug in jedem Land Europas steigen. Wir waren fast jeden Tag in einem Zug unterwegs. Und es war herrlich. Man konnte die Fenster runterlassen, den Wind im Haar haben. Und für mich war es fantastisch. Ich bin sehr, sehr gern nach Europa gekommen. Meine Eltern haben Europa immer sehr geliebt, sie waren immer interessiert an gutem Essen, schönen Weinen, Geschichte, Architektur. Mein Vater hat immer gesagt nach einer Reise: "Schade, dass wir nach Hause müssen!" Und irgendwann hat er gedacht: Mein Gott, was brauche ich zum Arbeiten. Eigentlich ein paar Bleistifte, bisschen Papier und ein Postamt. Und sonst kann ich arbeiten, wo ich will. Und so hat er entschieden: Gehen wir ein Jahr nach Europa, schauen wir, wie es ist. Wir haben das gemacht, sind nach Lausanne in die Schweiz gegangen. Haben Französisch gelernt und wir haben das sehr geliebt, dieses Jahr. Und nach einem Jahr hat niemand davon gesprochen, die Koffer zu packen und wir sind einfach geblieben. In Lausanne. Wir machten dort wunderbare Bootfahrten auf dem See und meine Mutter hat auch ein Buch geschrieben, das von diesen wunderbaren Bootstouren inspiriert war, die wir gemacht haben.
Wegmann: Sprechen wir kurz über Ihre Mutter, Patricia Scarry. Geboren wurde sie 1924, starb 1995. Sie verfasste vor allem Erstlesebücher, viele zusammen mit Ihrem Vater. Es heißt, sie sei auch für viele seiner Texte verantwortlich gewesen. Waren die beiden so ein typisches Künstlerehepaar?
Scarry: Meine Mutter hat, als sie meinen Vater 1948 kennenlernte, als Copywriter in einer Werbeagentur gearbeitet, bei Young & Rubicam. Sie hat Texte geschrieben. Sie haben sich kennengelernt, die waren verheiratet innerhalb von drei Wochen. Sie haben dann zusammengelebt und mein Vater hat Geschichten von anderen Autoren illustriert. Meine Mutter hat sich das angeschaut und hat begonnen zu schreiben. Sie hat schnell gemerkt, dass sie nicht nur Werbekampagnen schreiben kann, sondern auch sehr charmante humorvolle Kindergeschichten. So hat das begonnen. Sie haben ungefähr zehn Bücher zusammen gemacht. Die hatten beide ein sehr, sehr großes Ego und es hat oft gefunkt in unserer Familie. Und ich denke, nach einer Weile haben sie entschieden, dass jeder seine eigenen Arbeiten macht. Später hat meine Mutter eigene Bücher geschrieben, die von anderen Illustratoren bebildert wurden.
"Mein Vater konnte alles zeichnen"
Wegmann: Man sagt, Ihr Vater habe in einem sehr karg eingerichteten Atelier gearbeitet, nur mit Tisch, Stuhl und Lampe. War er ein Asket?
Scarry: Nein, im Gegenteil. Es war voll mit Sachen. Es ist noch immer voll. Ich versuche, Ordnung zu machen, aber ...
Wegmann: Das Haus gibt es ja noch?
Scarry: Ja, ... aber es gibt so viele Dinge. Überall, wo die waren, haben sie immer Kleinigkeiten gekauft und ich kann die nicht wegwerfen. Mein Vater war sehr ordentlich an seinem Tisch, das schon. Er war ein sehr methodischer Mann und hat sehr konsequent gearbeitet und sehr ordentlich. Aber rundum lagen sehr viele Dinge, vor allem Bücher. Mein Vater konnte alles zeichnen. Und damals gab es kein Internet. Er musste Bücher illustrieren und verschiedene Dinge: ein Bergwerk, ein Schiff, eine Windmühle, Bilder von verschiedenen Ländern. Er brauchte Quellen für die Bilder. Heute kann man googlen, damals musste man in eine Bibliothek gehen oder Bücher suchen. Irgendwie Bilder suchen, das brauchte viel Zeit. Mein Vater war sehr clever. Immer wenn er ein Magazin durchgeblättert hat, hat er Bilder für sich herausgeschnitten. Das konnte ein Cowboy sein, ein Bild von einem Haus in irgendeinem Land und dann hat er Aktenordner angelegt. Alphabetisch von A bis Z, mit allen den verschiedenen Materien. Und sobald er etwas gebraucht hat, ist er zum Ordner gegangen und hat die Bilder herausgeholt und er hatte Referenzmaterial. Ich finde, das war fantastisch. Vielleicht haben das andere auch so gemacht, aber es ist ein gutes Beispiel, wie mein Vater seine Arbeit organisiert hat.
Wegmann: Er war schon sehr ordentlich?
Scarry: Jaja!
"Mein allerschönstes Wörterbuch"
Wegmann: Und sehr diszipliniert sicherlich. Ich will ein paar Titel seiner Bücher nennen: "Mein allerschönstes Wörterbuch" - ich glaube, das kennen sehr viele hier in Deutschland.
Scarry: Das ist das berühmteste Buch. Es ist auch interessant, denn das Buch hat eigentlich deutsche Wurzeln. Und es ist so, dass mein Vater einmal den ersten Duden in der Hand hatte, den fand er sehr interessant. Ich habe ihn noch immer. Das war ein Wörterbuch, wo alles rund um ein Thema organisiert war, das bildnerisch dargestellt war. Das konnte Landwirtschaft sein, eine Gärtnerei, die Stadt, Skifahren. Alles war nummeriert und auf der anderen Seite waren die Wörter.
Wegmann: Ein Bildwörterbuch.
Scarry: Mein Vater hatte so etwas noch nie gesehen. Und er dachte, das könnte man doch so ähnlich für Kinder machen. Er hat Beispiele für Golden Books in NY gemacht. Sie wollten es veröffentlichen. Und als es fertig war, hat der Verleger gesagt: "Wow, that’s simply the best wordbook ever." Und so ist der Titel geblieben. In Englisch: Best wordbook ever. Das gibt es bilingual, trilingual, in viele Sprachen übersetzt. Das ist ein Meisterwerk, das Buch. Und obwohl er das vor 50 Jahren gemacht hat, ist es noch immer aktuell.
Wegmann: Es ist unglaublich. Es wird immer wieder neu aufgelegt. Wie viele andere seiner Bücher auch. "Mein allerschönstes Wörterbuch" darüber sprachen wir gerade. Aber auch: "In der großen Stadt", "Alles was fährt", "Nick geht zum Arzt", "Wenn ich groß bin" – nur eine Handvoll Titel von 300 und mindestens 300 Millionen verkauften Exemplaren. Wie erklären Sie sich den Erfolg Ihres Vaters?
Scarry: Wie er das erklären würde: Er war in den Dingen, die er gemacht hat, ein Genie. Ich möchte das nicht so wirklich eins zu eins vergleichen, aber man könnte sagen, warum können wir tausendmal ein Klavierkonzert von Mozart hören und tausendmal ist es frisch, so als würde man das zum ersten Mal hören? Ich weiß nicht. Mein Vater hatte ein sehr gutes Auge für Design, für Farben und seine Layouts sind nie verkrampft, sondern immer leicht und fröhlich. Es gibt sehr viel Humor darin. Das Auge hat Freude, die Bilder anzuschauen. Die Tiere sind lieb, sind kuschelig, lustig. Mein Gott, der hat das gut gemacht.
Rollenbilder im Bilderbuch
Wegmann: Es gibt in der Tat immer wieder ganz versteckt, kleine lustige Szenen in jedem Buch. Was aber schon interessant ist: Die Bücher, die ich eben nannte, sind überwiegend aus den 1960er-Jahren oder den Anfängen der 1970er-Jahre. Man sieht männliche Tiere in Männerberufen, Frauen tragen meist Schürzen, kümmern sich um Haushalt, Kinder, Küche. Das ist nicht verwerflich und der Zeit geschuldet, das änderte sich auch ein wenig mit den letzten Büchern. Erstaunlich dennoch, dass die Bücher nach wie vor mit diesen Rollenbildern nachgedruckt werden, weil heute soviel über Frauenbilder und Männerbilder und Gender gesprochen wird?
Scarry: Ja, es gab eine Zeit in Amerika, wo der Verlag versucht hat, Korrekturen zu machen und sie haben mehr Frauen in Männerrollen gezeigt. Mein Vater hat das ein bisschen "gegenherzig" gemacht. Ich glaube, der hat nie wirklich daran gedacht, ob das eine Frau oder ein Mann macht, das war ihm egal. Und er war auch eine andere Generation. Und diese Gedanken, so richtig wie sie sind, waren etwas zu neu für ihn. Aber es gibt einige Bücher, die man korrigiert hatte, männliche Hasen wurden zu weiblichen. Interessanterweise wollen die Verleger wieder zurück zu den ursprünglichen Bildern. Es ist völlig berechtigt: Die Frauen bringen genauso viel in unser Sozialleben wie Männer. Und vielleicht gibt es in seinen Büchern zu viele Männertiere, aber er hat das nicht absichtlich gemacht.
Die Bilder von Huck Scarry
Wegmann: Es ist sicherlich der Zeit geschuldet. Nun aber zu Ihnen, Huck, ich habe gelesen, Sie malen in seinem Stil. Was bedeutet das?
Scarry: Schon als ich Teenager war, hab ich meinem Vater geholfen zu kolorieren. Diese Arbeit war immer zeitaufwendig, die Bücher waren groß und mit vielen Farben. Da hat er mich gefragt, ob ich ihm helfe. Natürlich habe ich das gemacht. Das waren sehr, sehr schöne Zeiten mit ihm. Entweder waren wir zwei Wochen in seinem Zimmer im Studio oder einmal hat er sogar ein Hotelzimmer gemietet. Das war lustig, wir sind morgens von zuhause in ein Hotel gegangen, mit Blick auf den Genfer See. Wir haben dort gearbeitet, mittags dann zurück nach Hause. Es war lustig, mit ihm in einem Zimmer zu sein und zu plaudern. So hat das begonnen. Später hatte mein Vater Schwierigkeiten mit seinen Augen, er konnte nicht so leicht zeichnen. Dann hat ein Verleger mich gefragt, ob ich auch neue Bücher in dem Stil machen würde. Ich habe gesagt, ich kann es versuchen, aber es ist nicht so leicht, das Werk eines Anderen zu kopieren. Außerdem: Was meinen Vater ausmacht, ist sein Esprit, sein Humor, seine Ideen, sein Blick. Ich hab dann begonnen. Ich muss ehrlich sagen, ich bin nicht stolz auf alles, was ich gemacht habe. Aber mit der Zeit ist es besser geworden und jetzt ist es relativ natürlich. Ich hab viele Bücher gemacht und viele geschrieben. Und für mich ist es so, ich hab riesig Spaß, das zu machen. Weil ich kann außerhalb von mir gehen, ich kann verrückt sein bei meinen Ideen. Ich kann Dinge in die Zeichnungen einbauen, die würde ich normalerweise nicht machen. Und ich lache immer, wenn ich arbeite. Oft, wenn ich mit seinen Figuren arbeite, merke ich, dass ich lächle. Dann denke ich, wow, das ist eine tolle Arbeit. Wer kann so was machen.
"Ich trage verschiedene Hüte"
Wegmann: Sie haben Ihre Ausbildung in Lausanne gemacht. Grafik studiert und haben ja auch ganz andere Sachen gemalt, darauf kommen wir noch zu sprechen. Wie haben Sie sich denn anfangs von ihrem Vater abgegrenzt, um Ihren eigenen Stil zu finden?
Scarry: Ich trage verschiedene Hüte. Ich denke, ein echter Künstler macht das, was ihm auf seinem Weg begegnet. Es kann ein Glasfenster für eine Kathedrale sein, wie das Fenster von Gerhard Richter für den Dom, aber eigentlich malt er ja in verschiedenen Techniken. Und ich zum Beispiel mache Illustrationen für meinen Vater, ich mache meine eigenen Aquarelle, ich hab meine eigenen Kinderbücher gemacht. Ich wechsel ohne Problem von meines Vaters Arbeit zu meiner Arbeit. Eigentlich ist das die Profiwelt: Man nimmt, was kommt und macht das Beste daraus.
Wegmann: Die ersten Zeichnungen, die ich nun von Ihnen kennengelernt habe, sind ganz anderer Art. Man findet sie in einem Sachbuch über Anne Frank "Alles über Anne Frank", geschrieben unter anderem vom Projektleiter des Anne Frank Hauses in Amsterdam, mit viel Fotomaterial und mit eben Ihren Zeichnungen vom Hinterhaus, in dem Anne sich mit ihrer Familie ein paar Jahre verstecken musste. Es gibt auch dort schon kleine Aquarelle. Und doch meine Frage, ob die Architektur etwas ist, was Sie besonders interessiert? Sehen Sie sich ein wenig als Architektur-Zeichner?
Scarry: Nicht wirklich, obwohl ich von Architektur fasziniert bin und ich liebe es, wenn ich schöne Gebäude sehe. Es kann ein sehr einfaches Bauernhaus sein oder ein Fachwerkhaus oder eine Kathedrale. Ich bewundere das, wie man früher gebaut hat. Ich bin fasziniert von Architektur und den verschiedenen Arten und Häusern, die es gibt. Und heute zum Beispiel war ich im Kolumba-Museum wunderschöne Architektur, wunderschön, ganz modern.
Wegmann: ... von Peter Zumthor ...
Scarry: ... genau, ein Schweizer Architekt. Architektur ist eine sehr wichtige Kunst, denn sie ist der Spiegel unserer Gesellschaft. Verschiedene Gebäude sind da für verschiedene Zwecke. Aber es ist wie bei anderen Künstlern, der Architekt nimmt sein Können und macht das beste Haus. Dieses Museum ist ein Meisterwerk der Architektur und bei einem Museum und überhaupt ist es immer interessant, mit welchen Materialien man etwas baut.
Die Farbe Blauviolett ist die Farbe vom Schatten
Wegmann: Vor ein paar Jahren hatten Sie in Österreich - Sie leben ja in der Nähe von Wien - eine Ausstellung mit Ihren Reisebüchern über italienische Städte und Landschaften. Da stehen schon die historischen Gebäude im Mittelpunkt? Ihre Bilder sind - zumindest in den Reisetagebüchern - überwiegend Aquarelle. Ich habe in fast jedem Bild die Farbe Violett entdeckt. Ist dieses päpstliche Lila Ihr Favorit?
Scarry: Es ist nicht wirklich Violett, sondern Blauviolett und es ist die Farbe vom Schatten. Ich gebe jeden Sommer Aquarellkurse in Griechenland und meine Teilnehmer haben oft Schwierigkeiten, die Farbe vom Schatten zu erkennen. Der Schatten ist eine sehr, sehr interessante Sache, weil es ist immer in Zusammenhang mit Licht und in Zusammenhang mit der Farbe des Objekts ist, auf das der Schatten fällt. Aber der Schatten ist nicht die Farbe des Objekts. Deshalb lege ich immer ein weißes Blatt auf den Boden. Ich gebe jedem einen Sucher und bitte alle, mir zu sagen, welche Farbe sie sehen. Und meistens sagen sie: blau. Und dann bitte ich sie, mit dem Sucher in den Himmel zu schauen. Und welche Farbe sehen sie? Blau. Und ein sehr ähnliches Blau. Und das ist interessant und man ist erstaunt, dass der Himmel die gleiche Farbe hat wie der Schatten am Boden. Es ist eigentlich die Farbe vom Himmel. Und deswegen gibt es so viel Blau in den Bildern, denn Italien ist sonnig, meistens war es das, wenn ich gearbeitet habe. Natürlich ist der Schatten an einem grauen Tag anders.
Wegmann: Das sind ja freie Arbeiten. Aber noch mal zurück zur Kinderliteratur. Habe ich das richtig verstanden, dass Sie dort nur Bilder im Stil Ihres Vaters machen oder gibt es auch eigene Kreationen?
"Ich höre ihn hinter meinem Rücken lachen"
Scarry: Früher hab ich meine eigenen Bücher macht. Ich hab viele Bücher für Kinder von 10 bis 15 Jahren gemacht. Eher Dokumentationen über Wissenschaft, Musik, Geschichte, Länder - mein Vater hat immer gesagt: Du solltest Bücher machen wie ich, für Kleinkinder, mit Tieren. Aber ich habe geantwortet: Das kann ich nicht. Das ist deine Welt. Du machst deins und ich mach meins. Später, als er gestorben ist, habe ich überlegt, was ich mache, denn ich liebe die Welt meines Vaters und ich verstehe ihn auch so gut. Wir waren sehr eng miteinander. Ich habe gedacht: Ich kann Geschichten schreiben, ich kann zeichnen. Eigentlich wäre es schade, wenn ich nicht versuchen würde, das weiterzumachen. Ich betrachte es als Garten, den mein Vater gepflanzt hat und der Garten wird bearbeitet, aber man kann neue Beete anlegen und der Garten wächst und ändert sich dauernd. Und ich hab kein Problem damit, dass ich ein bisschen wie mein Vater werde, wenn ich seine Bücher mache. Und für mich ist es sehr schön, denn dann denke ich ständig an ihn und ich spüre ihn. Ich höre ihn hinter meinem Rücken lachen oder er sagt: Du könntest das besser machen. Oder: Das gefällt mir. So ist er für mich immer lebendig.
Über (Auswahl):
Richard Scarry: "Mein allerschönstes Wörterbuch"
Aus dem Amerikanischen von Kati Hertzsch
Diogenes Verlag Zürich, 76 Seiten
Richard Scarry: "Nick geht zum Arzt"
Aus dem Amerikanischen von Kati Hertzsch
Diogenes Verlag Zürich, 28 Seiten
Richard Scarry: "Wenn ich groß bin"
Aus dem Amerikanischen von Jenny Merling
Diogenes Verlag Zürich, 93 Seiten
Menno Metselaar u.a. und Huck Scarry (Illustration):
"Alles über Anne Frank"
Aus dem Niederländischen von Waltraut Hüsmert und Rosemarie Still
Carlsen Verlag Hamburg, 40 Seiten