Samstag, 20. April 2024

Archiv

Zum 25. Todestag von Friedrich Dürrenmatt
Diagnostiker der Welt, nicht ihr Therapeut

Friedrich Dürrenmatt verfasste Welterfolge wie "Der Besuch der alten Dame" und "Die Physiker". Dabei interessierte ihn das Scheitern des Menschen, aber er wollte immer auch unterhalten. Zu seinem 25. Todestag zeigen zahlreiche Neuerscheinungen Werk und Leben des Autors.

Von Matthias Kußmann | 14.12.2015
    Friedrich Dürrenmatt, aufgenommen in Locarno im August 1990
    Friedrich Dürrenmatt, aufgenommen in Locarno im August 1990 (picture alliance / dpa / Christoph Ruckstuhl)
    Friedrich Dürrenmatts zentrales Thema war das Scheitern des Menschen in allen Belangen. In seinen Stücken und Romanen zeigte er ihn korrupt, verantwortungslos, verlogen, dumm – freilich mit einer anarchischen Heiterkeit, die sein Werk nie moralinsauer werden ließ. Die Aufklärung sei nicht gescheitert, weil ihre Ideen falsch waren, sondern weil der Mensch noch immer nicht reif für sie sei. Im Jahrhundert der Technik sei alles veränderbar, nur der Mensch nicht, sagte er. Eigentlich Stoff für ein Theater als moralische Anstalt, das Dürrenmatt aber ablehnte:
    "Ich denke über die Welt nach, indem ich ihre Möglichkeiten auf der Bühne und mit der Bühne durchspiele. Und mich ziehen demgemäß die Paradoxien und Konflikte unsrer Welt mehr an, als die noch möglichen Wege, sie zu retten. Ich bin Diagnostiker, nicht Therapeut."
    Dürrenmatt wurde am 5. Januar 1921 im Schweizer Konolfingen geboren, sein Vater war evangelischer Pfarrer. Der Sohn teilte dessen Glauben nicht, setzte sich aber später immer wieder mit christlichen Themen auseinander – auf seine Art:
    "Wenn es einen Gott gibt, muss der einen unendlichen Humor haben, der muss wahnsinnig Freude haben, Welten in die Luft zu jagen. Der ist wie ein Kind, das mit Zinnsoldaten spielt. Und da Moral oder irgendwas zuzudichten? Nein, ich glaube, der hat einfach Freude am ganzen Spektakel. Und das hat unbewusst der kreative Mensch auch."
    Mit 21 schreibt Dürrenmatt sein erstes Stück mit dem Titel "Es steht geschrieben"- ein groteskes Wiedertäufer-Drama, das bei der Uraufführung einen Skandal verursacht. Doch seine tragische Komödie "Der Besuch der alten Dame", die 1956 Premiere hat, wird ihn weltberühmt machen. Eine Milliardärin kommt aus den USA in ihren Geburtsort Güllen zurück. Die Einwohner der verarmten Stadt hoffen auf eine großzügige Spende, die sie ihnen auch in Aussicht stellt – allerdings:
    "Unter einer Bedingung. Ich gebe euch eine Milliarde - und kaufe mir dafür die Gerechtigkeit."
    Die heutige Milliardärin wurde mit 17 in Güllen von Alfred Ill geschwängert; er bestritt die Vaterschaft und ließ sie sitzen. Entehrt verließ sie die Stadt und wurde Prostituierte. Jetzt will sie Rache, die sie Gerechtigkeit nennt.
    "Ich kann sie mir leisten. Eine Milliarde für Güllen, wenn jemand Alfred Ill tötet."
    Hier die Milliardärin als Rachegöttin, eine moderne Medea, da die Güllener: Geldgeil und skrupellos bejubeln sie Alfred Ill, weil sie wissen, dass er bald sterben wird. Irgendeiner wird ihn schon umbringen, dann sind sie reich.
    Macht des Gelds und die Verfügbarkeit der Menschen
    Wenige Jahre nach diesem großartigen Stück über die Macht des Gelds und die Verführbarkeit der Menschen schrieb Dürrenmatt seinen zweiten Welterfolg, "Die Physiker". Das Stück entstand 1961 unterm Eindruck des "Kalten Kriegs" und der weltweiten atomaren Bedrohung, ist aber angesichts der Ultratechnisierung unserer Zeit nach wie vor aktuell. Unter den Patienten einer psychiatrischen Klinik sind drei Physiker. Einer hält sich für Newton, einer für Einstein und einer namens Möbius glaubt, ihm erscheine König Salomo. Im Lauf des Stücks wird klar, dass keiner der drei verrückt ist. Möbius hat sich in die Klinik zurückgezogen, weil er die "Weltformel" gefunden hat und nicht will, dass sie Politiker missbrauchen.
    "Unsere Wissenschaft ist schrecklich geworden, unsere Forschung gefährlich, unsere Erkenntnis tödlich. Es gibt für uns Physiker nur noch die Kapitulation vor der Wirklichkeit. Sie ist uns nicht gewachsen. Sie geht an uns zugrunde. Wir müssen unser Wissen zurücknehmen, und ich habe es zurückgenommen."
    Newton und Einstein haben sich einweisen lassen, weil sie für internationale Geheimdienste arbeiten und Möbius die Weltformel rauben wollen. Schließlich willigen sie ein, mit ihm in der Klinik zu bleiben, um die Welt zu schützen. Doch da stellt sich heraus, dass die Leiterin der Klinik selbst verrückt ist, Möbius die Formel entwendet hat und eine Organisation leitet, die die ganze Welt beherrschen will.
    - Newton: "Es ist aus."
    - Einstein: "Die Welt ist in die Hände einer verrückten Irrenärztin gefallen."
    - Möbius: "Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden."
    Dürrenmatt hat von einigen Stücken auch Hörspielfassungen erstellt, er war ein Meister der Mehrfachverwertung. Aus Anlass des 25.Todestags sind bei Diogenes die Hörspiele "Der Besuch der alten Dame" und "Die Physiker" als Hörbücher erschienen, Passagen daraus haben wir gerade gehört. Die Hörspielfassungen wurden im Lauf der Jahrzehnte für verschiedene Sender inszeniert. Diogenes hat sich zu Recht für die jeweiligen Erstsendungen entschieden: die "Alte Dame" vom Bayerischen Rundfunk 1957 und die "Physiker" vom Schweizer Radio 1963. Das leichte Pathos, mit dem damals gesprochen wurde, und die musikalische Untermalung versetzen den Hörer in die Zeit, in der die Stücke entstanden.
    Gesammelte Werke Dürrenmatts
    Neben den beiden Hörbüchern hat der Diogenes Verlag jetzt auch Dürrenmatts gesammelte Stücke in einem Band vorgelegt, rund 1600 Seiten mit Notizen zur Publikations- und Aufführungsgeschichte. Man stößt darin auch auf fast vergessene Stücke wie die "Komödie einer Privatbank" mit dem Titel "Frank der Fünfte". 1958 entstanden und 1980 überarbeitet entwirft der Autor das Zerrbild einer Finanzwelt, in der Banker im Wortsinn über Leichen gehen. Als einer von ihnen todkrank ist und in einem Anfall von Läuterung beichten und Buße tun will, wird auch er getötet, bevor der Pfarrer eintrifft.
    Ein Stück, das spätestens seit der Finanzkrise der 2000er-Jahre wieder auf Theaterbühnen gehört, aber leider kaum noch gespielt wird. "Frank der Fünfte" ist wie alle Dürrenmatt-Stücke sehr unterhaltsam, was ihm manche Kritiker, denen sonst nichts mehr einfiel, vorwarfen. Unterhaltsam = leichte Kost = keine Kunst.
    "Ein Zuschauer hat ja auch das Recht, in einen Film oder ein Theaterstück zu gehen, um sich nur zu amüsieren. Ein Zuschauer kann im Hamlet zum Beispiel ein hintergründiges Theaterstück sehen, aber gleichzeitig ein anderer Zuschauer nur einen spannenden Kriminalstoff. Vielleicht wird ihn ganz unbewusst das Hintergründige, das Metaphysische am Hamlet packen, berühren, ohne dass er es weiß, oder vielleicht erst später – aber ein Theaterstück muss immer auch für den vordergründigen Zuschauer geschrieben sein, und ebenfalls der Film."
    Ähnlich erfolgreich wie die frühen Stücke waren Dürrenmatts Kriminalromane. "Der Richter und sein Henker" erzählt von einem todkranken Kommissar, der sich über Recht und Moral hinwegsetzt, um einen Täter zu fassen: Wer ist der Gute, wer der Böse? Mit "Das Versprechen" schrieb der Autor später ein "Requiem auf den Kriminalroman". Der Mensch sei in einer absurden Welt dem Zufall ausgeliefert, weswegen der klassische Krimi, dessen Ermittlungen der Logik folgen, ausgedient habe.
    In den späten Jahren konnte Dürrenmatt nicht mehr an seine frühen Erfolge anknüpfen. Das Stück "Achterloo" ist eine vertrackte Versuchsanordnung über eine heillose Welt, der Roman "Durcheinandertal" eine grelle Satire auf die Wohlstandsgesellschaft. Dürrenmatt trieb seine Lust an "schlimmstmöglichen Wendungen" immer weiter, die seine späten Stücke und Romane überfrachten. Der Autor starb am 14. Dezember 1990 mit 69 Jahren, der Körper des großen Essers, Trinkers und Rauchers war erschöpft.
    "Was ich ablehne, ist diese Wendung der Schriftstellerei ins Innenleben. Die Probleme, die man mit Frauen hat, oder die Familienprobleme sind im Hintergrund der heutigen Welt absolut lächerlich."
    Biografische Annäherung an Dürrenmatt
    An dieses Diktum des Autors hat sich die Filmemacherin Sabine Gisiger glücklicherweise nicht gehalten. Ihre biografische Annäherung, die gerade in die Kinos kam, heißt "Dürrenmatt – eine Liebesgeschichte". Sie zeigt den großen Spötter auch als Liebenden, den der Tod seiner ersten Frau fast aus der Bahn warf.
    Und noch eine Neuerscheinung gibt es zum 25. Todestag. Die Kulturzeitschrift DU hat ein opulentes Themenheft über Dürrenmatt vorgelegt. Es enthält unter anderem Bildstrecken, die den Autor, der eigentlich Künstler werden wollte, als Maler zeigen. Dazu gibt es eine Reihe von Interviews, etwa mit seiner Tochter und seiner Lektorin. Essays beschäftigen sich mit Dürrenmatts Verhältnis zu Israel oder den Naturwissenschaften.
    Herausragend ist ein Aufsatz von Ulrich Weber. Er analysiert das späte unvollendete "Stoffe"-Projekt, mit dem sich Dürrenmatt schließlich doch der eigenen Biografie zuwandte – allerdings nur im Hinblick auf sein Werk. Welche Ereignisse führten zu welchen Stoffen, wie setzten sie die Fantasie in Gang? Und: Die zahllosen Aufführungen seiner frühen Welterfolge hatten den Autor langsam von den Stücken entfremdet. In dem er sich an die Entstehung und Kontexte erinnerte, eignete er sie sich wieder an. Rund 700 Seiten der "Stoffe" sind heute publiziert und man kann Ulrich Weber nur zustimmen: Sie sind großartig.
    Buchinfos zu Neuerscheinungen:
    - Friedrich Dürrenmatt: "Die Stücke", 1574 Seiten, Diogenes, Preis: 40 Euro
    - Friedrich Dürrenmatt: "Der Besuch der alten Dame", Diogenes Hörbuch, 2 CDs, 104 Minuten, Preis: 20 Euro
    - Friedrich Dürrenmatt: "Die Physiker", Diogenes Hörbuch, 2 CDs, 100 Minuten, Preis: 20 Euro
    - DU. Themenheft Friedrich Dürrenmatt, 80 Seiten, Preis: 15 Euro