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Zum Streit um die Degussa-Beteiligung am Holocaust-Mahnmal

Breker: Nun kann es weitergebaut werden, das Holocaust-Mahnmal in Berlin und zwar mit Beteiligung der Firma Degussa. Degussa stellt den Graffiti-Schutz für die Betonstelen des Mahnmals her. Die Firma war in die Kritik geraten, weil eine frühere Tochterfirma während der NS-Zeit das tödliche Giftgas Zyklon B für die Vernichtungslager hergestellt hatte. Gestern Abend einigte sich das Kuratorium der Mahnmalsstiftung darauf, die Zusammenarbeit mit der Firma dennoch fortzusetzen. Am Telefon bin ich nun mit den Schriftsteller Rafael Seligmann verbunden, guten Tag.

Gerd Breker |
    Seligmann: Guten Tag.

    Breker: War das gestern Abend eine Entscheidung der Vernunft oder der Ignoranz?

    Seligmann: Eine der Vernunft, nachdem man sich lange ignorant gegeben hatte. Eine Firma alleine herauszupicken, ist eine moderne Selektion. Das können wir nicht machen. Es ist ein deutsches Mahnmal von Deutschen für ermordete Juden errichtet, und da müssen wir wirklich vernünftig und behutsam vorgehen und nicht willkürlich und ignorant.

    Breker: Sollte es nicht ein Mahnmal für die Opfer sein?

    Seligmann: Es ist ein Mahnmal für die Opfer, ganz klar, aber zunächst ein Mahnmal des deutschen Volkes.

    Breker: Aber gibt man damit nicht freiwillig auf, dass dieses Mahnmal die Brückenfunktion erhält zwischen denen, die Opfer waren und denen, deren Ahnen zu den Tätern gehörten.

    Seligmann: Man gibt es ja nicht auf. Die Frage ist ja nicht, ob so ein Mahnmal richtig oder falsch ist. Natürlich ist ein Mahnmal richtig. Entscheidend ist, die Menschen dieses Landes mitzunehmen. Wir leben ja in einer Demokratie, und wenn ich mit Sprüchen wie, der Holocaust habe nie stattgefunden, die Leute provoziere, dann gewinne ich sie nicht für ein Gedenken und eine würdige Trauer. Gefühle lassen sich nicht erzwingen, auch nicht durch einen Bundestagsbeschluss.

    Breker: Aber auch die Gefühle der Opfer, die verletzt sind, lassen sich nicht erzwingen, sondern man muss sie hinnehmen.

    Seligmann: Bestimmt muss man darauf Rücksicht nehmen, nur wird es dann irgendwann mal unlogisch, wenn man sagt, man lässt das Fundament stehen, obwohl es von der Degussa ist, aber die Stelen nicht. Dann würde es weitergehen, und man würde fragen: was ist mit der Deutschen Bahn, die ein Nachfolgeunternehmen der Reichsbahn, die sich ja auch schuldig gemacht hat. Was ist mit den Chemiefirmen? Jedes größere deutsche Unternehmen, das damals tätig war, ist schuldig geworden. Aber Schuld ist individuell. Es geht heute bei den Nachkommen darum, Verantwortung zu übernehmen, und man kann nicht heute Menschen verantwortlich machen für individuelle Schuld vor zwei Generationen. Das heißt, wenn wir ein deutsches Mahnmal für die ermordeten Juden erbauen, wobei ich finde, dass es sich nicht auf die Juden begrenzen sollte, sondern auf alle Opfer, Sinti und Roma, Behinderte, Homosexuelle, Kommunisten und so weiter, dann müssen wir die Menschen dieses Landes dafür gewinnen. Das ist das Entscheidende. Es ist ja kein israelisches Mahnmal. Wir sollen Rücksicht nehmen, aber müssen den Überlebenden sagen: Hört mal zu, Leute, das Mahnmal wird hier in Deutschland gebaut. Hier sind auch die Angehörigen der Bauarbeiter. Irgendwann mal vor zwei Generationen haben sich schuldig gemacht, aber jetzt beweisen wir guten Willen. Das ist das Entscheidende.

    Breker: Sollte man diese Ereignisse um das Holocaust-Mahnmal in Berlin vielleicht zum Anlass nehmen, darüber nachzudenken, inwieweit Firmen, die Verantwortung übernehmen, die ihre Schuld von damals bekennen, inwieweit man denen eine zweite Chance einräumen sollte?

    Seligmann: Ja, sicher, wir müssen allen Menschen eine zweite Chance einräumen. Was ist denn die Alternative? Dass wir Firmen ausgrenzen, die längst in der Gesellschaft und im Wirtschaftsleben dieses Landes wieder eine etablierte Stellung haben, die Zehn- und Hunderttausende von Angestellten in unserer Generation haben. Da ist ja kein einziger unter den Firmenangehörigen, der sich individuell schuldig gemacht hat. Das heißt, heute müssen wir nach der Verantwortung fragen, und wenn heute eine Firma wie die Degussa bereit ist, Verantwortung zu übernehmen für Zwangsarbeiter, dann sollten wir diesen guten Willen nicht durch überzogene, ignoranten Forderungen von Seiten des Förderkreises zunichte machen.

    Breker: Muss man den Förderkreis und das Kuratorium der Mahnmalsstiftung kritisieren, dass sie im Vorfeld nicht umfangreich genug nachgedacht haben?

    Seligmann: Ja. Es war eine unglaubliche Ignoranz, a) das Mahnmal nur auf Juden zu begrenzen und b) dass man die Leute dieses Landes nicht mitgenommen hat. Natürlich kann man sagen, formal hat der Bundestag entschieden, aber wir sind in einer Demokratie und müssen die Herzen der Leute und ihre Köpfe gewinnen. Man kann nicht sagen, der Beschluss ist jetzt gefallen, und jetzt setze ich das wie eine Dampfwalze durch, sondern ich muss stets die Leute mitnehmen. Das ist das Wesen unserer Demokratie.

    Breker: Um das zu schaffen, war die Entscheidung des Weiterbaus, auch mit Degussa, richtig?

    Seligmann: Ja.

    Breker: Das war der Schriftsteller Rafael Seligmann. Ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

    Seligmann: Ich danke auch, auf Wiederhören.